Bov Bjerg

Der Vorweiner

Roman
Cover: Der Vorweiner
Claassen Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783546100380
Gebunden, 240 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Resteuropa, Ende des Jahrhunderts. Bürgerkriege und Naturkatastrophen haben die Welt verwüstet. Eine dicke Schicht Beton hebt den Rumpfkontinent über den steigenden Meeresspiegel. In den Auffanglagern Neuschwanstein und Neulübeck versammeln sich dänische, ghanaische oder niederländische Geflüchtete. Einer von ihnen ist Jan.  Mit nichts am Leib tritt er in die Dienste von A. wie Anna. Für sie war es höchste Zeit, sich einen Trauergastarbeiter zuzulegen. Tränen bringen Prestige, und nur wer über einen fähigen Vorweiner verfügt, um den wird am Ende überzeugend geweint. Zu echter Trauer ist ohnehin niemand mehr in der Lage. Auch nicht B. wie Berta, Annas Tochter. Berta ist die Erzählerin und das lidlose Auge unserer Geschichte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 11.11.2023

Rezensentin Hanna Engelmeier wirkt nicht unbedingt überrascht, aber dennoch gut unterhalten von Bov Bjerks satirischer Dystopie. In der betreffenden Zukunft herrscht in einem Kontinent namens "Resteuropa" Wasserknappheit, die Menschen begegnen sich oft als Mörder und haben große Emotionen wie Trauer auf sogenannte Vorweiner, meist aus südlicheren Gebieten Geflüchtete, quasi outgesourced. Dabei gehe es in der eher lose verknüpften, szenenartigen Zusammenstellung "wenig zimperlich" zu. Vom Hineinlegen in Schweinekadaver liest Engelmeier etwa oder vom pragmatischen Mord zur Risikominimierung. Allzu düster werde es aber doch nie, was Engelmeier auf einen lakonischen, zuweilen "aufgekratzten" Erzählton vor allem in kurzen Zusammenfassungen vor jedem Kapitel zurückführt. Ein "enormes komisches Talent" gesteht sie dem Autor hier zu, gewinnt ab und an aber auch den Eindruck eines großen Poetry-Slam-Beitrags. Wie viel sie mit dieser Abgeklärtheit des Grotesken im Blick auf die Zukunft letztlich anfangen kann, bleibt offen, zumindest Bjerks handwerkliches Können scheint die Kritikerin aber zu schätzen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 03.11.2023

Rezensentin Cornelia Geißler muss sich schon wundern, dass bei aller schlechten Laune und allem Galgenhumor, die Bov Bjerg in seinem Roman verbreitet, doch so etwas wie Hoffnung aufkeimt. Das Buch ist laut Geisler ein weitgehend dystopischer Sci-Fi-Roman, der unsere krisengeschüttelte Welt 75 Jahre weiterdenkt: Nordeuropa steht auf einem Betonsockel, Holland ist abgesoffen, und die Oberschicht sorgt sich um ihre standesgemäßen Totenfeiern samt "Vorweiner". Gegenwartsprobleme vermag der Autor überzeugend "ulkig" zu überhöhen, die Erzählweise mit "gruselkomischer" Journalistenschreibe der Protagonistin, die Zeitsprünge und die etwas knarzende Konstruktion fordern Geißler jedoch so einiges ab, zumal keine Figur identifikatorisch ausgereift ist, wie sie kritisiert. Zum Glück ist da der satirische Scharfsinn des Autors, so Geißler.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 29.09.2023

Rezensent Wolfgang Schneider geht hart ins Gericht mit dem neuen Roman von Bov Bjerg, der sich zumindest dank des "Sarkasmus" aus der Flut von Dystopien hervorhebt. Davon abgesehen aber wird der Kritiker nicht glücklich mit der klimaapokalyptischen Geschichte, in der sich die voneinander entfremdeten Menschen Migranten als "Vorweiner" halten, die für sie im Todesfall die Trauerarbeit leisten. Überhaupt ist die Kritik an aktuellen Debatten im Roman wenig verklausuliert, seufzt Schneider: Die Chefin der "sozialnationalen Partei" heißt Wagenweidel, Journalisten arbeiten als "Klickbeuter" und um einen Funken "Echtes" zu erleben, kriecht Hauptfigur Anna in das Innere einer blutigen Sau, resümiert der Kritiker. Dass die "richtige Haltung" direkt mitserviert wird, macht es für den Rezensenten nicht besser.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 22.09.2023

In seinem dystopischen Roman "Der Vorweiner" extrapoliert Bov Bjerg gegenwärtige Zustände und Prozesse in die Zukunft, erklärt Rezensent Jörg Magenau: große Teile Europas sind im Meer versunken, Arbeit - auch Gefühlsarbeit - wird überwiegend von Migranten und Migrantinnen geleistet, die Gesellschaft spaltet sich auf in eine Ober- und eine Unterschicht, und Gefühle sind weitestgehend abgeschafft, zumindest unter den Reichen. An witzigen, interessanten und absonderlichen Einfällen fehlt es nicht an diesem Roman, doch gerade mit letzterer Idee - der Abschaffung von Gefühlen - hat Bjerg sich eine Prämisse eingehandelt, auf der sich schwerlich sowas wie ein fesselnder Plot aufbauen lässt oder spannende Charaktere, bemerkt der Kritiker. Wer nicht fühlt, mit dem kann man nicht mitfühlen. Schade. Ein packender Roman wird so nicht aus diesem Text, bedauert Magenau, was bleibt, sei ein "bunter Bilderbogen".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 31.08.2023

Rundum glücklich wird Rezensentin Tina Hartmann nicht mit Bov Bjergs neuem Roman. Dabei könnte er brandaktueller gar nicht sein angesichts aktueller Klimakrisen, meint sie. In Bergs Erzählung befindet sich die Welt außerhalb eines sich von ihr abschirmenden Deutschlands im Katastrophenmodus. In Deutschland hingegen, lernen wir, ist eine neue Berufsgruppe entstanden, nämlich die Vorweiner, die an Stelle von reichen Hinterbliebenen um Verstorbene trauern. Diese Konstellation erweitert sich, wie Hartmann ausführt, zur Klassenanalyse, was mit der emotionalen Bindung der Oberschicht an ihre oft migrantischen - und durchweg männlichen - Vorweiner zu tun hat. Auch Fake News und Corona werden in der an deftigen Details nicht armen Erzählung mitverarbeitet, so Hartmann, der gefällt, wie geschickt der Autor in seiner Zukunftsvision Vergangenes aufscheinen lässt. Allerdings leidet die Erzählung für sie auch unter Konstruktionsschwächen und drohe mitunter von der eigenen Detailfülle erdrückt zu werden.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 30.08.2023

Rezensent Carsten Otte liest Bov Bjergs dystopischen Roman mit großem Interesse: Die Welt ist durch Naturkatastrophen und Kriege zerstört worden, nur noch wenige Orte auf der Welt sind bewohnbar, es gibt eine Unterschicht, bestehend aus Flüchtlingen und Ausgebeuteten, und eine Elite, die dazu angehalten wird, sich politisch-korrekt zu verhalten, zu echter Empathie aber nicht mehr fähig ist, lesen wir. Die Protagonistinnen, Anna und Berta, sind wie der Rest der Elite, auf der Suche nach Erlebnissen und echten Gefühlen, so Otte. Anna arbeitet für eine Nachrichtenagentur und produziert pseudo-wahre Geschichten, die das Mitleid der Eliten-Mitglieder anregen sollen - zum Beispiel die ausführliche Schilderung von der Gefühlswelt einer Mutter, die ihr Kind verliert. Im Todesfall holen sich die Reichen laut Otte einen Vorweiner, der mit seinem Weinen den Tränenfluss der anderen Teilnehmer anregen soll. Bjerg die achtsame Elite aufs Korn nimmt, erweist er sich für den begeisterten Kritiker als "gnadenloser Diskurskiller" - aber mit Tiefe.