Johannes Kleinbeck

Geschichte der Zärtlichkeit

Die Erfindung des einvernehmlichen Sex und ihr zwiespältiges Erbe bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud
Cover: Geschichte der Zärtlichkeit
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2023
ISBN 9783751804035
Gebunden, 334 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Im Zeitalter der Aufklärung beginnen die Philosophen von einem Sex in der Ehe zu träumen, der dem bürgerlichen Ideal der Freiheit entspricht. Nicht die triste Pflichterfüllung, wie sie im Eherecht gefordert war, sondern ein "zärtliches" Verführungsspiel sollte von jetzt an zum Liebesakt führen. Schmerzhaft genau zeichnet Johannes Kleinbecks Geschichte der Zärtlichkeit nach, von welchen Sehnsüchten und Ängsten Rousseau, Kant, Hegel und später auch Freud angesichts einer freien Aushandlung des Beischlafs heimgesucht worden sind. In ihren rastlosen Ausführungen zu der Frage, wie Frauen Zärtlichkeit äußern dürfen und wie nicht, entdeckt er ein Kernstück bürgerlicher Philosophie, das sich nicht von einer spezifisch modernen Form patriarchaler Machtausübung trennen lässt. Die zunehmende Entrechtung des ehelichen Beischlafs geht mit dem Beginn einer Entwicklung einher, die uns bis heute umtreibt: Die männlichen Privilegien finden sich immer weniger ausschließlich über rohe Gewalt oder die Zwänge des Rechts, dafür aber immer mehr über ein dem Anschein nach freies Spiel von Blicken, Gesten und Worten abgesichert.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 07.10.2023

Dass Sex nicht nur Privatsache, sondern auch gesellschaftlich-philosophisches Diskussionsthema ist, zeigen Rezensentin Marie Schmidt zwei Neuerscheinungen von Manon Garcia und Johannes Kleinbeck. Der Literaturwissenschaftler Kleinbeck wählt einen historischen, und wie er selbst einräumt, rein männlichen Zugriff vor allem mit den Philosophen der Aufklärung: Rousseau, Kant, Hegel, Freud zeigen ihm, wie die "Geschichte der Zärtlichkeit" in all ihrer "epistemischen Ungerechtigkeit" funktioniert hat. Dafür wirft er laut Schmidt auch immer wieder anregende Blicke auf das Privatleben der Denker, etwa in Freuds Brautbriefen, um herauszuarbeiten, dass Zärtlichkeit im 18. und 19. Jahrhundert vor allem all jene auszuhandelnden zwischenmenschlichen Austauschprozesse bezeichnete, die der Aushandlung des Beischlafs dienten und die Rollenverteilungen definierten. Für die Kritikerin liest es sich so, dass es immer auch um das "Nein" geht, das für lange Zeit - und vielleicht auch nach wie vor - irgendwie dazuzugehören schien. Ein Buch, das Schmidt auch die lange, tiefe Verankerung von patriarchalen Rollenvorstellungen klarmacht und betont, wie wichtig es ist, kontinuierlich im Gespräch zu bleiben, um guten Sex möglich zu machen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.07.2023

Rezensent Magnus Klaue liest Johannes Kleinbecks Studie zum Begriff der Zärtlichkeit im bürgerlichen Ehediskurs mit Interesse. Die "Doppelgesichtigkeit" des bürgerlichen Eherechts nimmt der Autor laut Klaue ebenso in den Blick wie ihre Diskussion unter dem Begriff der Zärtlichkeit bei Rousseau, Kant, Hegel und Freud. Der Vorgang und die Folgen der Individualisierung und Psychologisierung der Sexualität in der Ehe werden für Klaue in Kleinbecks Lektüren erkennbar. Heutige Konsenstheorien von Sexualität diskutiert der Autor allerdings zu wenig, bedauert der Rezensent.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 23.06.2023

Interessiert liest Oliver Pfohlmann Johannes Kleinbecks Kulturgeschichte des Einverständnisses im Bereich des Sexuellen. Geschickt lege Kleinbeck die Probleme offen, die die heute als Selbstverständlichkeit betrachtete Einvernehmlichkeit des Geschlechtsverkehrs im Eheleben im Zuge ihrer - im Napoleonischen Zivilrecht erstmals juristisch sich niederschlagenden - Durchsetzung im 19. Jahrhundert mit sich gebracht habe. Das "Nein heißt Nein" war, wie Pfohlmann entlang der in Kleinbecks Buch verhandelten Beispiele nachzeichnet, historisch mit einer Asymmetrisierung des Geschlechterverhältnisses verbunden, die der Frau die Rolle der Erzieherin des in seinen Trieben gefangenen Mannes zuwies. Pfohlmann schließt mit einigen amüsierten Anmerkungen zum mutmaßlich wenig erfüllten Liebesleben der deutschen Chefaufklärer Kant und Hegel.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 14.06.2023

Mit Gewinn liest Rezensent Mladen Gladic dieses Buch von Johannes Kleinbeck, das, wie er findet, derzeit aktueller nicht sein könnte. Der Wiener Germanist legt ihm darin dar, dass die Pflicht zum ehelichen Beischlaf keineswegs durch Napoleons "Code Civil" beendet wurde. Vielmehr blickt der Autor in seiner angenehm zu lesenden Studie in die "Abgründe der Aufklärung", so Gladic. Er erfährt, dass die "Vergesellschaftung des Ehebetts" das Hierarchiegefälle zwischen Mann und Frau keinesfalls aufhob. Mit Rousseau, gefolgt von Kant, Hegel, Freud und Fromm wurde das Recht auf Sex stattdessen durch das Konzept der "Zärtlichkeit" ersetzt, erfährt der Kritiker. Was im Klartext meistens hieß, dass der Mann weiterhin auf Sex beharren konnte, dieser von der Ehefrau jetzt aber zärtlich erbracht werden musste, wenn wir das richtig verstehen. Wie Kleinbeck Materialkenntnis mit Reflexionen über das Intimleben seiner Gewährsmänner verknüpft, findet Gladic vorbildlich.