Milan Kundera

Der entführte Westen

Die Tragödie Mitteleuropas
Cover: Der entführte Westen
Kampa Verlag, Zürich 2023
ISBN 9783311101208
Gebunden, 96 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Uli Aumüller. Angesichts von Krieg und politischen Zerwürfnissen in Europa sind Milan Kunderas Analysen zur Rolle Mitteleuropas im Spannungsfeld zwischen Zugehörigkeit zum Westen und der Bedrohung durch Russland brandaktuell. Gerade in den mitteleuropäischen Ländern, wo die eigene Sprache, Kultur und nationale Identität dauerhaft bedroht sei, argumentierte Kundera bereits 1983, stehe die westliche Demokratie auf dem Prüfstand. Dort befinde sich die Keimzelle europäischer Werte und möglicherweise der Blitzableiter für die Gefahren, denen sie ausgesetzt sind. In deutlichen Worten prangert Milan Kundera die Vernachlässigung, ja den Ausschluss der Länder im Zentrum Europas an, ihre Unterdrückung durch Russland und die Ignoranz, die der Westen ihnen entgegenbringt. Sein Plädoyer für eine Kehrtwende ist heute wichtiger denn je. Jahrzehnte nach dem Zerfall der Sowjetunion zeigen die Schützengräben auf ukrainischem Boden die Kluft zwischen Europa und Russland auf fürchterliche Weise auf. Ein Abgrund, der nicht nur Mitteleuropa bedroht, sondern unseren ganzen Kontinent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 15.12.2023

Ein Essay, der mit seinem ersten Erscheinen 1983 große Wellen geschlagen hat, wird jetzt neu aufgelegt, leider mit einem wenig hilfreichen Vorwort, bekundet Rezensent Jörg Plath, der bei Milan Kundera ein durchaus pathetisches Eintreten dafür liest, Polen, Ungarn und die Tschechoslowakei dem Westen zuzurechnen, nicht dem despotischen Osten, also Russland, gegen den sich die "kleinen Nationen" zu wehren suchen. Das muss man aus heutiger Perspektive natürlich ein Stück weit relativieren, räumt Plath ein, auch in den mitteleuropäischen Ländern gibt es starke rechtspopulistische Tendenzen. Er hätte sich abschließend gewünscht, dass Kampa diesen Auftakt zur Kundera-Werkausgabe sorgfältiger ediert hätte.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.12.2023

Rezensent Thomas Schmid freut sich über die erste vollständige deutsche Übersetzung dieses Essays Milan Kunderas, der im Jahr 1983 entstand, aber aktueller ist denn je. Denn er beschäftigt sich, lernen wir, mit der bedrohten kulturellen Eigenständigkeit Mitteleuropas, womit der Autor die Länder zwischen Deutschland und Russland meint, die nach dem Zweiten Weltkrieg der sowjetischen Einflusssphäre anheim fielen. Kundera zufolge sind diese Länder nicht nur ein Teil des Westens, sondern quasi dessen Zentrum, was sich im reichen kulturellen Erbe, von Kafka bis Gombrowicz, zeigt, erklärt Schmid. Die ethnische und linguistische Vielfalt ist für Kundera gerade die Stärke dieses Raums, nur leider, referiert der Kritiker, fehlte im Westen oft das Verständnis für die Lage dieser Länder, insbesondere in Deutschland, wo man sich stattdessen Russland verbunden fühlte. Mit der vermeintlichen russischen "Seelentiefe" (Zitat Kundera) rechnet der Autor, wie Schmid nachzeichnet, hingegen unbarmherzig ab, hinter ihr verberge sich ein unstillbarer Expansionsdrang. Tragisch, so Schmid, dass die Lehren aus Kunderas Buch auch 1989 nicht gezogen wurden und dass die Integration Mitteleuropas in das europäische Projekt so zaghaft verfolgt wurde.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.10.2023

Hochaktuell ist diese Zusammenstellung zweier historischer Texte Milan Kunderas, findet Rezensent Wolfgang Matz. Der eine, erfahren wir, stammt aus dem Jahr 1967 und behandelt die Literaturproduktion "kleiner Nationen", der andere über den "entführten Westen" aus dem Jahr 1983 löste damals eine "Mitteleuropadiskussion" aus, die sich gegen den Totalitarismus des kommunistischen Blocks wandte. Diese wurde in Deutschland weniger engagiert geführt als anderswo, weiß Matz, weil man hier schon damals Angst davor hatte, Russland auf die Füße zu treten. Die beiden Texte zusammen zu lesen lohnt sich laut Rezensent, weil dadurch Kunderas These, dass der Westen die sowjetischen Ansprüche auf Teile Mitteleuropas faktisch anerkannt hat, noch deutlicher wird. Für Kundera war das ein Verrat an den "kleinen Nationen", die ihre Eigenständigkeit auf dem Feld der Sprache und der Literatur gegen die Großmächte erkämpfen müssen. Die russische Dominanz, die auf kulturelle Gleichschaltung auf einem möglichst großen Gebiet zielt, ist auch heute wieder eine Gefahr, so Matz. Optimistisch stimmt den Rezensenten höchstens, dass auch Kundera den Untergang der Sowjetunion nicht vorhergesehen hatte: eine "unabänderliche Fatalität" der Geschichte gibt es eben nicht, lernt er.
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