Navid Kermani

Das Alphabet bis S

Roman
Cover: Das Alphabet bis S
Carl Hanser Verlag, München 2023
ISBN 9783446277458
Gebunden, 592 Seiten, 32,00 EUR

Klappentext

Eine Schriftstellerin auf dem Höhepunkt ihres Erfolgs und zugleich am Tiefpunkt ihres Lebens: Die Ehe gescheitert, die Mutter gestorben, und plötzlich ist auch der Lebensentwurf als öffentliche Intellektuelle in Frage gestellt. Denn der sah vor, dass der Mann sich um Kind und Haushalt kümmert, während sie sich um das Elend der Welt sorgt. Navid Kermani verknüpft die Grundfragen unserer Existenz, Geschlecht, Krieg und Vergänglichkeit, mit dem Alltäglichsten.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 17.10.2023

Rezensent Diedrich Diederichsen wird soghaft hineingezogen in Navid Kermanis neues Buch, das im Gegensatz zu seinem letzten in seiner Themenwahl einen deutlichen Hang zu "Doom und Verzweiflung" aufweise: "Sterbeerzählung", Trauer, Älterwerden. Die Ich-Erzählerin, eine Schriftstellerin, beginnt ein Projekt, das es dem Autor laut Rezensent erlaubt, sein spezielles Talent zu entfalten, nämlich das "Abenteuer des Lesenden" zu erzählen: sie beginnt, ihre Bibliothek "von A bis S" durchzulesen. Diese Vermischung von "Philologie, Rezension und Fanfiction" beschert dem Rezensenten nicht nur faszinierende Leseerlebnisse, manches findet er gar zum Gähnen, trotzdem macht er fantastische Neuentdeckungen (zum Beispiel Péter Nadás) und liest auch Bekanntes in neuem Licht. Über die Frage, warum Kermani eine weibliche Figur gewählt hat, deren geistige Verwandtschaft mit dem Autor unübersehbar ist, stellt Diederichsen verschiedene Vermutungen an und hält schließlich fest, dass hier, obwohl die Taktik zunächst irritiert, starke Momente entstehen, weil in dieser Erzählstimme sowohl Kermani (den der Rezensent persönlich kennt) als auch die Schriftstellerin zu hören sind. Die Religiösität des Autors taucht hier in vielen Formen auf, schließt Diederichsen, sowohl "als spirituelle Poesie" als auch "als theologische Nerdigkeit".

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 25.09.2023

Rezensentin Shirin Sojitrawalla kann Gefallen finden an der thematischen und stilistischen (Über-)Fülle von Navid Kermanis Roman. Aus der Perspektive einer weiblichen Ich-Erzählerin, einer rund 50-jährigen Auslandskorrespondentin, Philosophin und Unbedingt-Gelehrten, gehe es in Kermanis knapp 600 Seiten langem Wälzer um nicht weniger als um Tod, Trauer, Krankheit, Liebe, und um das Verhältnis von Lebenswelt und Literatur, fasst Sojitrawalla zusammen. Dass es dabei auch durchaus "leicht pathetisch" zugehe, erkennt sie zwar an, scheint die Geschichte um die getrennte Protagonistin mit verstorbener Mutter und erkranktem Sohn aber trotzdem gerne zu verfolgen. Auch Kermanis formalen Spielen mit der Tagebuch- und Essayform kann sie den ein oder anderen zwar nicht neuen, aber "schönen Einfall" abgewinnen. Weniger gelungen findet sie, wie der Autor sich in seine weibliche Erzählerin hineinversetzt - das klingt ihr zum Teil zu sehr nach "Kopfgeburt"; eine nahbare Figur entstehe hier nicht wirklich. Auch die langen Ausschweifungen, in denen die Protagonistin vor ihrer Bibliothek stehend literarische Empfehlungen ausspricht, zum Teil inklusive langer Inhaltsangabe, scheinen die Kritikerin etwas zu ermüden. Nichtsdestotrotz ein reichhaltiges und "erfreulich disparates" Buch, schließt Sojitrawalla anerkennend.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 16.09.2023

Ganz glücklich wird Rezensentin Kristina Maidt-Zinke nicht mit Navid Kermanis neuem Roman. Seine Art, Fiktion und Selbsterlebtes in eine überbordende, ständig die Genres wechselnde Prosa zu gießen, geht inzwischen schon als Markenzeichen durch, meint sie, auch wenn "Roman" dafür ein das Genre etwas strapazierender Begriff sei. Besonders skeptisch stimmt sie jedoch, dass die Erzählerstimme, obwohl das Erzählte sich weitgehend entlang Kermanis eigener Biografie bewegt, diesmal weiblich ist. Was mit diesem mechanisch anmutenden Wechsel des Geschlechts gewonnen sein soll, kann sich die Rezensentin nicht erklären. Weiterhin wird das beziehungsreiche Buch durch zwei Ordnungsprinzipien strukturiert, lernen wir, eines funktioniert alphabetisch entlang des Bücherregals des Autoren, das andere temporal. Man könnte sich entlang dieser Struktur durch eine halbe Literaturgeschichte hangeln, so die Rezensentin, wofür man allerdings viel Zeit einplanen sollte. Letztlich interessiert sie vor allem die Frage nach Sinn oder Unsinn der weiblichen Erzählperspektive.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 14.09.2023

Was ist das für ein Buch? Verena Lueken macht sich viel Mühe, es herauszufinden: ein Tagebuch ohne Daten, nur mit nummerierten Einträgen, ein Roman ohne Erzählung, nur mit Miniaturen, geschrieben von einer Erzählerin, die sich - so behauptet das Buch - ihr Notizbuch in die Gesäßtasche steckt. Was für eine Erzählerin steckt sich denn ein Notizbuch in die Gesäßtasche? Nun, es scheint sich hier um einen nicht mal notdürftig kaschierten Navid Kermani selbst zu handeln, der diese Distanzgeste braucht, um mit diesem sehr persönlichen Buch - der Tod der Mutter, die Krankheit des Sohns, die Scheidung - überhaupt loslegen zu können. Einen Rest von Narrativ erzeugt dieser Roman laut Rezensentin, durch die darin wiedergegebenen Lektüren: fast nur Männer, aber auch Emily Dickinson, Nelly Sachs, und , äh, Helene Hegemann. Ob das Buch sie viel Geduld gekostet hat, verrät die höfliche Rezensentin nicht, wohl aber dass es sie immer wieder begeisterte, vor allem in den vielen "zauberhaften Miniaturen".
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 09.09.2023

"Kraftstrotzend" findet Rezensent Martin Oehlen diesen neuen Roman von Navid Kermani, der eine Intellektuelle ins Zentrum stellt, die angesichts zahlreicher Lebenskrisen Zuflucht in Büchern und im Philosophieren sucht. Dafür nimmt sie von A bis S vor allem Bücher zur Hand, die bislang ungelesen im Regal standen, allerdings meistens von Männern wie Hesse, Ovid, Queneau geschriebene, wie Oehlen kritisch anmerkt. Dennoch liest er diese Passagen auch als Anregung, selbst zum Buch zu greifen, fast wie eine Poetikvorlesung, in der der reale Autor und seine Lebenserfahrungen - trotz betonter Weiblichkeit der Hauptfigur - immer wieder durchschimmern, etwa in der engen Verbindung zu Köln. Ein Buch, das anregend Fragen der Gegenwart berührt und unbedingt lesenswert ist, resümiert der Kritiker.