Olga Tokarczuk

Empusion

Eine natur(un)heilkundliche Schauergeschichte
Cover: Empusion
Kampa Verlag, Zürich 2023
ISBN 9783311100447
Gebunden, 384 Seiten, 26,00 EUR

Klappentext

Aus dem Polnischen von Lisa Palmers und Lothar Quinkenstein. September 1913, Görbersdorf in Niederschlesien. Inmitten von Bergen steht seit einem halben Jahrhundert das erste Sanatorium für Lungenkrankheiten. Mieczysław Wojnicz, Ingenieurstudent aus Lemberg, hofft, dass eine neuartige Behandlung und die kristallklare Luft des Kurorts seine Krankheit aufhalten, wenn nicht gar heilen werden. Die Diagnose allerdings gibt nur wenig Anlass zur Hoffnung: Schwindsucht. Mieczysław steigt in einem Gästehaus für Männer ab. Kranke aus ganz Europa versammeln sich dort, und wie auf Thomas Manns Zauberberg diskutieren und philosophieren sie unermüdlich miteinander - mit Vorliebe bei einem Gläschen Likör mit dem klingenden Namen "Schwärmerei". Drängende Fragen treiben die Herren um: Wird es Krieg geben in Europa? Welche Staatsform ist die beste? Aber auch vermeintlich weniger drängende: Ob Dämonen existieren zum Beispiel oder ob man einem Text anmerkt, wer ihn verfasst hat - eine Frau oder ein Mann? Und mit der "Frauenfrage" befasst sich diese Herrenriege besonders gern. Auch bietet die kleine Welt von Görbersdorf reichlich Gesprächsstoff: Am Tag nach Mieczyslaws Ankunft hat die Frau des Pensionswirts Selbstmord begangen. Überhaupt komme es häufig zu mysteriösen Todesfällen in den Bergen ringsum, heißt es. Was Mieczyslaw nicht weiß: Dunkle Mächte haben es auch auf ihn abgesehen.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 19.06.2023

Die titelgebenden "Empusen", so erfährt man aus Ilma Rakusas Rezension, sind "mythische Angstgöttinnen und sich von Männerblut ernährende Schreckgeister". Sie sind die eigentliche Erzählinstanz des neuen Romans von Tokarczuk und präsentieren uns unter anderem eine Parodie auf Thomas Manns "Zauberberg", so die Rezensentin. Gerne folgt sie den Irrungen und Wirrungen des Studenten Mieczyslaw Wojnicz, der sich vor dem Ersten Weltkrieg zwar nicht in Davos, aber immerhin in Görbersdorf von seiner Tuberkulose heilen lassen will. Mannsche Erzählelemente sind da, informiert Rakusa, etwa das unendliche Palaver intellektueller Sanatoriumsgäste, die alle eine gewisse Mysogynie gemein hätten, aber Tokarczuk füge in meisterhafter Weise ganz Eigenes hinzu: feministische Schauerelemente, unheimliche Genderunklarheiten, seltsames Waldweben. Es ist ein vielfältiger und komplexer Erzählkosmos der sich da ausbreitet, dargeboten ohne neumodische moralische Säuerungsmittel, ein reines Lese- und auch intellektuelles Vergnügen, verspricht die begeisterte Rezensentin.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 07.06.2023

Rezensent Benedikt Herber liest Olga Tokarczuks "Empusion" nicht als einen Zeitgeistroman, auch wenn er vordergründig die fadenscheinig gewordene Uniform der Männlichkeit verhandelt: In einem an Thomas Manns "Zauberberg" erinnernden Setting philosophieren am Vorabend des Ersten Weltkriegs in einem schlesischen Sanatorium verschiedene Männer über Gott und die Welt: Der technische Student Mieczyslaw Wojnicz, der konservative Katholik Longinus Lukas, der Mystiker Walter Frommer und der Sozialist August August. Frauen diskutieren nicht mit. Gegen die alten Vorstellungen, die die Welt und das Denken katalogisieren und kategorisieren, setzt Tokarczuk das Fluide, fließend bewegt sie sich auch selbst zwischen den literarischen Grenzen, verbindet Geistesgeschichte mit dem Gruseligen und Skurrilen, erklärt Herber. Hochintelligent und witzig findet er Tokarczuks Schreiben, auch wenn er mit ihrer Kritik am Rationalismus nicht ganz einverstanden ist.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 15.05.2023

Rezensentin Olga Hochweis bewundert, wie Olga Tokarczuk das reiche kulturelle Erbe Niederschlesiens ins Zentrum ihres neuen Romans stellt. Wie in einem feministischen Anti-Zauberberg inszeniert die Autorin darüber hinaus die Kollision gegensätzlicher Weltanschauungen zu Beginn des 20. Jahrhunderts in einem schlesischen Sanatorium, erklärt Hochweis das Setting. Der Protagonist, ein mit seiner sexuellen Identität ringender polnischer Jüngling, sowie die detailreich beschriebene, zwischen Fantasie und Wirklichkeit schimmernde Atmosphäre des Sanatoriums haben Hochweis offenbar nachhaltig in ihren Bann gezogen. Ein "großes Lesevergnügen", schwärmt sie.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.05.2023

Ein klein bisschen altmodisch findet Hubert Winkels den neuen Roman von Olga Tokarczuk, schon, da er stark an Thomas Manns "Zauberberg" erinnert. Die unheimliche Geschichte um einen polnischen Hermaphroditen auf Geister- und Identitätssuche in einem schlesischen Sanatorium Anfang des 20. Jahrhunderts wirkt auf den Rezensenten insgesamt allerdings durchaus unterhaltsam und in all seiner symbolistischen Rätselseligkeit auch klug gemacht. Wer den "Zauberberg" schon dreimal durch hat, trifft hier diskursverliebte Wiedergänger von Settembrini und Naphta wieder und einen ebenso unscheinbaren Helden wie Hans Castorp, lässt Winkels uns wissen.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.2023

Vor der Kontrastfolie des Thomas Mannschen "Zauberbergs" liest Kritikerin Marta Kijowska den neuen Roman der Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk: Auch hier spielt ein Tuberkulosekranker in einem Sanatorium zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Hauptrolle, allerdings nicht in der Schweiz, sondern im niederschlesischen Sokolowsko. Kijowska beobachtet, dass die Kurgäste, allesamt männlich, sich vor allem in ihrer Abwertung von Frauen einig sind. Dem wird nicht widersprochen, sodass sie den Roman zwar nicht als feministisches Manifest lesen kann, aber als große Erzählung, wozu nicht nur die mythischen Angstgöttinnen, die Empusen, beitragen, sondern auch der unterschwellige, sich auswachsende Schrecken und vor allem die große Fähigkeit Tokarczuks, im Schreiben "eine andere Sichtweise auf die Welt" zu suchen und zu finden, schließt die angetane Rezensentin.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 22.04.2023

Die Lungenheilanstalt im schlesischen Görbersdorf hat nicht nur Thomas Mann zu seinem "Zauberberg" inspiriert, sondern auch Olga Tokarczuk zu ihrem neuen Roman, der wie immer Grenzen jeglicher Form überschreitet, weiß Kritikerin Susanne Romanowski. Wie man es aus Gothic Novels kennt, wandeln die Kurgäste im Haus umher, zusammengehalten vor allem durch den hauseigenen Likör, die Tuberkulose und den Hass auf Frauen, die größtenteils in Form von Schreckgespenstern auftauchen, die auch als Empusen bekannt sind, so Romanowski. Tokarczuk versucht eine feministische Perspektive, doch das kann bei der Kritikerin nicht so recht fruchten: Sie ist etwas unglücklich mit der Aufteilung in rationale Männer und mythisch-ungreifbare Frauen, auch wenn die wichtige Überzeugung durchscheint, es handle sich bei den "Fesseln der Männlichkeit", die die Frauen sprengen wollen und sollen, um den "wahren Horror." Für Romanowski hätte sich hier angeboten, die fluide, sich nicht einzwängen lassende Erzählstimme auch mal einer Frau zu übertragen. Angesichts des facettenreich ausbuchstabierten Protagonisten kann sie der Autorin die "Räucherstäbchenhaftigkeit der Frauenfiguren" dann aber doch gerade noch verzeihen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 22.04.2023

Klar, bei einem Roman von Olga Tokarczuk, der in einem Sanatorium spielt, denkt auch Rezensentin Judith von Sternburg an Thomas Manns "Zauberberg": "Empusion" spielt zwar nicht in Davos, sondern im schlesischen Görbersdorf, hat mit dem 24-jährigen Mieczyslaw Wojnicz aber einen ähnlichen Protagonisten wie Hans Castorp. Das Kurleben ist von männlichen Fantasien geprägt, Frauen kommen nur am Rande vor, sind aber ständig Zielscheibe misogyner Witze, erklärt Sternburg, doch das richtet sich irgendwann gegen sie, die titelgebenden Schreckgespenster der Empusen wollen zurückschlagen und sorgen für einen Grusel, den sie mit seiner perspektivwechselnden Erzählstimme gerne verfolgt. Für Tokarczuk ist typisch, dass sich ihr Schreiben kaum in bestehende Genreregeln einordnen lässt, das merkt die Kritikerin auch hier: Wie ein "unterhaltsames Vorspiel" wirkt der Roman auf sie, aber auch "wie eine gewaltige Kurzgeschichte", wird resümiert.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 22.04.2023

Ein reduziertes Spiegelbild des Mannschen Zauberbergs liest Rezensentin Sigrid Löffler bei Nobelpreisträgerin Olga Tokarczuk. Empusen, erklärt sie, sind weibliche Schreckgeister, die sie als der angstlüsternen männlichen Fantasie entsprungene Gespenster schon aus anderen Büchern der Polin kennt. Sie begegnen den Kurgästen im niederschlesischen Görbersdorf als Vorboten des apokalyptischen Untergangs und machen eine "Welt des Dazwischen" auf, die Löffler als gewaltige und gewalttätige Reminiszenz an Thomas Mann begreift, in der vom einstigen großen Kurbetrieb nur noch das Skelett übrig bleibt. Und eine dezidiert feministische Note - die Empusen führen die Männer und ihre mörderische Lust vor, was für die Kritikerin zwar "dick aufgetragen, aber unterhaltsam" ist.