Wilhelm Genazino

Der Traum des Beobachters

Aufzeichnungen 1972-2018
Cover: Der Traum des Beobachters
Carl Hanser Verlag, München 2023
ISBN 9783446276208
Gebunden, 464 Seiten, 34,00 EUR

Klappentext

Herausgegeben von Jan Bürger und Friedhelm Marx. Seine Wohnung verließ Wilhelm Genazino nie ohne Stift und Papier. Alles, was sich in Worte fassen ließ, schrieb er auf. Jahrzehntelang tippte er seine Beobachtungen von unterwegs akribisch ab, aus Furcht, eines Tages könnte ihn das Schreiben selbst verlassen. So entstand ein "Materialcontainer", in dem sich Leben und Fiktion, Ideen und Träume unauflöslich vermischen. Die bislang unbekannten Notizen sind ein Schlüssel zu seinem Werk und lesen sich wie ein unendlicher Genazino-Roman. Sie zeigen den Autor als verzweifelten Glückssucher, als Zeitzeugen und Aphoristiker.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 31.01.2023

Rezensent Helmut Böttiger staunt, wie exakt die Einträge in Wilhelm Genazinos hier auszugsweise veröffentlichten "Werktagebüchern", lauter genaue, kluge Alltagsbeobachtungen, mitunter in das erzählerische Werk des Autors eingingen. Für Böttiger ist das Autofiktion, die über sich selbst hinausgeht, indem sie immer weiser das Spanungsfeld zwischen Melancholie und Komik ausmisst und einen eigenen poetischen Raum herstellt. Einen von existenzieller Dimension, wie Böttiger anerkennend hinzufügt.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 25.01.2023

Rezensent Ulrich Rüdenauer schwelgt geradezu in den Aufzeichnungen und Notaten Wilhelm Genazinos, die Jan Bürger und Friedhelm Marx aus 7.000 Seiten in 40 Leitzordnern ausgesucht und auf handliche 450 Seiten reduziert haben. Rüdenauer stößt beim Durchblättern immer wieder auf Ideen, Motive und "Glutkerne" aus den Romanen Genazinos. Dieser hatte beim Spaziergehen immer ein paar Notizzettel dabei, auf denen er Eindrücke und Ideen notierte, die er dann später abtippte, umarbeitete und mit Datum und Nummer versah, lernt Rüdenauer. Ein "System von Erinnerungen" entstand so, das Genazino wohl auch die Angst davor nahm, eines Tages keinen Stoff mehr zu haben. Der dankbare Kritiker folgt mit den Aufzeichnungen dem Entstehungsprozess der Romane, die immer wieder von den Herausgebern mit biografischen Skizzen ergänzt werden. Höchstes Leseglück bieten die kurzen Notate für Rüdenauer, das sich auch einstellt, wenn man keinen einzigen Roman von Genazino gelesen hat, versichert er.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 21.01.2023

Die Zubereitung eines italienischen Cafés in einem Lokal in Frankfurt: So liebevoll wie genau konnte Wilhelm Genazino alltägliche Momente zu besonderen machen. Entsprechende Notizen und Aufzeichnungen aus dem Nachlass des Schriftstellers haben Jan Bürger und Friedhelm Marx zusammengestellt und Rezensent Eberhard Geisler ist dafür sehr dankbar. Denn diese "Blitzlichtaufnahmen" zeigten sehr eindrücklich, dass Genazino von Theorien aller Art nichts hielt, dafür umso mehr von feinen Beobachtungen, die für Geisler nicht hoch genug geschätzt werden können. Klar mache der Band auch, schreibt der Rezensent, dass Genazino den Roman brauchte, weil er über das Autobiografische zeitlebens nicht sprechen konnte. Die eigenen Verletzungen in denen anderer zu spiegeln und dabei auch noch ein politischer Autor gewesen zu sein - das macht das zum 80. Geburtstag herausgegebene Buch für Geisler unbedingt lesenswert.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 21.01.2023

Rezensent Frank Schäfer freut sich über die Veröffentlichung von Auszügen aus Wilhelm Genazinos Werktagebüchern: kleine Notizen zu Erlebnissen oder Gegenständen, vom Autor selbst als "Prothese des Schreibens" bezeichnet, die er in 38 Ordnern sammelte, wie sich der Kritiker an einen Besuch bei Genazino 2004 erinnert. Um ein geheimes Hauptwerk handele es sich dabei zwar nicht, aber eine besondere "Strahlkraft" geht für den Kritiker trotzdem von den aphoristischen Aufzeichnungen aus - ein Vater mit Baby am Schießstand, ein "Schienenstück, das glänzt wie ein Stück Wasser", wie er Genazino zitiert. Dabei ziehen sich eine grundlegende Skepsis gegenüber dem eigenen Beruf und ein Minderwertigkeitsgefühl wegen des erst sehr spät nachgeholten akademischen Abschlusses durch das Buch, so Schäfer - und eine "leise Vergeblichkeitsmelodie", die gegen Ende sogar in Bitterkeit mündet; lustig werde es nur sehr selten. Das könnte aber auch an der Auswahl der beiden Herausgeber und Germanisten Jan Bürger und Friedhelm Marx liegen, vermutet Schäfer, die dem Leser lobenswerterweise mit einigen Anmerkungen zum Entstehungskontext Orientierung liefern.