Bücherbrief

Kleine Wärmeinseln im kalten Prosafluss

09.03.2020. Lutz Seiler erzählt sinnlich und lustvoll von der überhitzten Anarchie der Wendemonate, Regina Porter springt in Siebenmeilensätzen von der Bürgerrechtsbewegung bis zur Obama-Ära, Jan Wenzel legt aufregend wie nie das Jahr 1990 frei und Karl Schlögel erliegt dem Duft der Imperien. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats März.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Antonio Scurati
M. Der Sohn des Jahrhunderts
Roman
Klett-Cotta Verlag 2020, 830 Seiten, 32 Euro

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In Italien hat Antonio Scuratis Roman über den Aufstieg des Faschismus entlang der Lebensstationen Benito Mussolinis, der Auftakt einer monumentalen Trilogie, bereits die 21. Auflage erreicht. Hierzulande sprechen die Zeitungen lieber mit Scurati als über das Buch, was allerdings auch der Aktualität des Themas geschuldet ist: Im taz-Interview mit Ambros Waibel zog Scurati Parallelen zu Italien und dem Rechtspopulismus heute, im Welt-Gespräch mit Marc Reichwein warnte Scurati etwa davor, den Begriff des Faschismus zu inflationär zu verwenden: "Wenn alles, was einer ausgestellten moralischen Überlegenheit der Linken nicht ins Weltbild passt, faschistisch genannt wird, besteht die Gefahr, das, was wirklich Faschismus genannt werden muss, zu verharmlosen." Der Roman zeichnet anhand von Briefen, Zeitungsartikeln, Parteiprogrammen oder Tagebucheinträgen vor allem die Jahre nach dem Ersten Weltkrieg bis zum Marsch auf Rom nach, allerdings aus Tätersicht, was Scurati auch Kritik einbrachte: Dabei ist "M." weit entfernt von Jünger'scher Sensationslust und Täterfaszination, beschwichtigt Jutta Person in der Zeit und lobt gerade das Aufklärerische und sorgfältig Recherchierte, aber auch die Thrillerelemente des Romans.  Von den sexuellen Eroberungen und Käsefüßen des Duce hätte SZ-Kritikerin Maike Albath zwar nicht unbedingt erfahren müssen, die vielen historisch beglaubigten Stimmen im Roman machen für sie aber den Mehrwert aus.

Valerie Fritsch
Herzklappen von Johnson & Johnson
Roman
Suhrkamp Verlag 2020, 174 Seiten, 22 Euro

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Einen ganz eigenwilligen Weg, von den generationsübergreifenden Familientraumata vor dem Hintergrund des Zweiten Weltkriegs zu erzählen, hat Valerie Fritsch gefunden, versichern uns die KritikerInnen. In einer literarischen Versuchsanordnung schaut die österreichische Autorin und Fotografin auf Anna und Friedrich, deren Sohn Emil keinen Schmerz empfinden kann. Erst die Geschichten der Großmutter über Krieg, Flucht, Hunger und die Kriegsgefangenschaft des Großvaters geben Auskunft über lange Verdrängtes. Keine Wohlfühlliteratur, aber eine Geschichte über das Elementare, lobt NZZ-Kritiker Paul Jandl und bewundert "Sätze und Wörter wie Mikroskope", unter die Fritsch ihre Figuren legt. Klarheit, Lakonie und Metaphorik der Sprache wirken auch auf Peter Praschl (Welt) invasiv, fast körperlich und wie das Gegenteil des beschriebenen Verschweigens. Diese Geschichte wirkt lange nach, meint er. Einen wundersamen, ganz feinen Roman liest auch Miriam Zeh (Dlf): Sie bewundert vor allem die surreale, trügerische und atmosphärische Dichte des Romans. Und im SWR ruht sich Carsten Otto immer wieder auf "kleinen Wärmeinseln im kalten Prosafluss" aus, um sich einige der Sätze zu notieren.

Lutz Seiler
Stern 111
Roman
Suhrkamp. 528 Seiten. 24 Euro

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Auf zwei Punkte können sich die Kritiker einigen: Die Nominierung von Lutz Seiler für den Leipziger Buchpreis geht in Ordnung. Und: So einen Wenderoman hat man bisher noch nicht gelesen. Seiler leuchtet jenen noch literarisch ganz unberührten Zeitpunkt kurz nach dem Mauerfall, aber noch vor dem Ende der DDR aus. So weht uns ein Hauch "lustvoller Anarchie" aus dem Roman entgegen, meint etwa im Dlf-Kultur Helmut Böttiger, der hier gebannt einem DDR-Ehepaar beim Neustart folgt und staunt, wie "sinnlich" und klischeefrei der Autor von deren Ausbeutung im Westen erzählt. In der SZ lobt auch Thomas Steinfeld die Kraft dieses Romans, der ihm eine Innenansicht der alternativen Szene im Osten von Berlin bietet - und dabei ganz ohne Nostalgie auskommt. Auch Ijoma Mangold (Zeit) lässt sich von Seiler gern in das Milieu der Gegenkultur von Boheme und Berliner Stadtguerilla entführen: Seilers Figurenzeichnung und seine Anschaulichkeit bei der Beschreibung des "Überhitzten der politischen Romantik" findet er groß.


Anna Burns
Milchmann
Roman
Tropen Verlag 2020, 452 Seiten, 25 Euro

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Völlig zurecht hat die nordirische Autorin Anna Burns für diesen Roman den Man-Booker-Preis erhalten, versichert uns FAZ-Kritiker Martin Halter. Vor dem nur vage real gehaltenen Hintergrund der politischen und religiösen Konflikte im Belfast der Siebziger folgen wir einer jungen, "Mittelschwester" genannten Frau, die in einer von Tribalismus, sozialer Kontrolle und Konformitätsdruck geprägten Gesellschaft plötzlich vom titelgebenden Milchmann obsessiv verfolgt und von ihrem Umfeld bedrängt wird. Dass Burns auf ausführliche Schilderungen, "Zeitkolorit" und Figurennamen verzichtet, dafür Reflexionen und Dialoge einbindet, macht die Lektüre zwar nicht mühelos, gibt Halter zu: Die den Text durchziehende Spannung wird so aber spürbar, versichert er. Seltsam und faszinierend, originell, lustig, entwaffnend schräg und einzigartig nennt Claire Kilroy im Guardian den Roman. Keine leichte Kost, dafür hochintelligent, radikal feministisch und unerhört frisch, meint A. N. Devers in der L.A. Times. Spannung und brutale Absurdität lobt Laura Miller im New Yorker.

Regina Porter
Die Reisenden
Roman
S. Fischer Verlag 2020, 384 Seiten, 22 Euro

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Über sechzig Jahre, von der Bürgerrechtsbewegung bis zur Obama-Ära, deckt dieses Epos ab, mehr als dreißig Personen treten auf, im Mittelpunkt stehen die weiße Familie Vincent und die schwarze Familie Christie, deren Schicksale miteinander verknüpft sind. Als Reise voller Überraschungen erlebt Dlf-Kultur-Kritikerin Sonja Hartl den Roman, in dem ihr die amerikanische Autorin Regina Porter angenehm lakonisch und anhand von fiktiven Briefwechseln, Fotografien oder Shakespeare-Verweisen von sozialem Aufstieg unter unterschiedlichen Bedingungen erzählt: Wie selbstverständlich Porter dabei die Themen Rassismus und Frauenfeindlichkeit anpackt, findet Hartl beeindruckend. FR-Kritikerin Sylvia Staude mag vor allem das "Locker-Ausschweifende" des Romans, in dem sie in "Siebenmeilensätzen" durch die Zeiten und von Figur zu Figur hüpft. Witz, bittere Wahrheiten und sprühenden Einfallsreichtum attestiert Angela Schader der Autorin in der NZZ. Im Spiegel-Interview mit Nora Reinhardt spricht Porter über Alltagsrassismus, Vorbilder und Afroamerikaner in Berlin.

Sachbuch

Karl Schlögel
Der Duft der Imperien
"Chanel No 5" und "Rotes Moskau"
Carl Hanser Verlag 2020, 224 Seiten, 23 Euro

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Geschichte ist überall. Auch im einzigen Requisit, das Marilyn Monroe zu tragen behauptete, wenn sie schlafen ging: Chanel No. 5. Das Parfum gilt bis heute als revolutionär, weil es Aldehyde enthält. Und Aldehyde (einige banalere Ableger wie Formaldehyd dienen zur Desinfektion und sind heute fast so begehrt wie Parfum) sind "synthetische Stoffe, die nach etwas schwer zu Beschreibendem riechen und die früher das Chanel No. 5 so außergewöhnlich, abstrakt und bahnbrechend erscheinen ließen", heißt es in der Parfum-Enzyklopädie fragrantica.de. In Karl Schlögels neuem Buch erfahren wir, dass die Formel des Parfums zuerst im zaristischen Russland erfunden worden war, für einen Duft, der das 300. Kronjubiläum der Romanows feieren sollte. Durch die Wirren der Revolution gelangte die Formel nach Paris, wo sie die Grundlage für Chanel No. 5 bildete. Die Rezensenten von Dlf und FAZ sind dem Duft von Schlögels Geschichtserzählung verfallen. Er rede nicht nur über Coco Chanels Parfum und sein russisches Pendant "Rotes Moskau", sondern entfalte daran eine ganze Duft- (und Gestanks-)geschichte des 20. Jahrhunderts.

Matthias Glaubrecht
Das Ende der Evolution
Der Mensch und die Vernichtung der Arten
C. Bertelsmann Verlag 2019, 1072 Seiten, 38 Euro

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1072 Seiten Apokalypse? Jein. Der Evolutionsbiologe Matthias Glaubrecht malt zwar in seinem ziegelschweren Buch die Folgen des anhaltenden Artensterbens aus, aber er tut es mit soviel Sachkenntnis, Fakten und erzählerischem Schwung, dass er die Rezensenten nicht in die Schwermut treibt, sondern zum Nachdenken und zur Diskussion anregt. Für Glaubrecht ist das Artensterben noch dramatischer als der Klimawandel, erfahren wir. Wie er sein Thema historisch und perspektivisch angeht und es immer wieder zurückbindet an den Menschen, scheint dem FAZ-Rezensenten Joachim Müller-Jung überzeugend, auch wenn die Argumente nicht neu sind und der Autor sich manchmal in Widersprüche verstrickt. Und Welt-Kritiker Michael Pilz schöpft sogar etwas Mut: Anders als den Klimawandel kann man das Artensterben durch eine kluge Politik noch aufhalten. Im Tagesspiegel kann man zur Einstimmung auf das Thema einen Essay von Glaubrecht lesen.

Edward Wilson-Lee
Shakespeare in Swahililand
Eine literarische Spurensuche
Luchterhand Literaturverlag 2019, 400 Seiten, 25 Euro

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Der britische Literaurwissenschaftler Edward Wilson-Lee ist in Kenia aufgewachsen, er spricht Swahili, sein Buch "Shakespeare in Swahililand" ist also nur folgerichtig. Wilson-Lee rekonstruiert die Verbreitung des englischen Dichters auf dem afrikanischen Kontinent und stößt dabei auf eine erste "Hamlet"-Aufführung im Jahre 1607 auf einer vor Sierra Leone kreuzenden Fregatte der East India Company. FAZ-Kritiker Andreas Rossmann findet diese Verbindung aus literaturhistorischer Recherche und Reportage spannend und lebendig. Er lernt unter anderem, wie Shakespeare den englischen Kolonisten zur Distinktion diente, später in Missionsschulen zum Unterricht und schließlich einem Jomo Kenyatta zur Kritik am Kolonialismus. Auch der britische Independent war fasziniert, im Interview mit dem Telegraph erzählt Wilson-Lee von seinen Entdeckungsreisen in britischen und afrikanischen Archiven.

Jan Wenzel (Hg.)
Das Jahr 1990 freilegen
Spector Books 2019, 592 Seiten, 36 Euro

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Für den SZ-Rezensenten Jens Bisky gibt es derzeit kein aufregenderes Geschichtsbuch als dieser von Jan Wenzel herausgegebene Sammelband zum Jahr 1990, der verschiedene Textsorten, Archivmaterial, Geschichten und Fotos vereint. Bisky schmökert darin vor und zurück, entdeckt, staunt und ergänzt nach Belieben. Dazwischen immer wieder Fragen des Herausgebers, die Bisky zu eigenen Überlegungen anregen, was wirklich wichtig war: der Mauerfall oder noch mehr die Lizenzvergabe fürs Mobilfunknetz? In der Welt zeigt sich Michael Pilz überwältigt von dem Panorama, das ihm das Buch eröffnet, und der Vernetzung von Bildern und Texten, ob zeitgenössisch oder rückblickend. Für Pilz ergeben sie einen großen "Almanach der Anarchie von 1990". taz-Rezensent Steffen Siegel fühlt sich durch die dokumentierte Gleichzeitigkeit des Ungleichzeitigen gar an Kempowskis "Echolot" erinnert.

Kai-Uwe Merz
Vulkan Berlin
Eine Kulturgeschichte der 1920er-Jahre
Elsengold Verlag 2020, 208 Seiten, 25 Euro

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Und noch ein Rückblick, diesmal auf die zwanziger Jahre des letzten Jahrhunderts. FR-Rezensent Arno Widmann hätte sich zwar gewünscht, dass der Autor Kai-Uwe Merz seine Kulturgeschichte in die politischen Bewegungen jener Zeit eingebettet und verortet hätte, aber auch so ist es ein anregendes Buch geworden, versichert er. Dass Merz sich in seinen vierzehn Kapiteln jeweils nur Beispiele heraussucht - Döblins "Berlin Alexanderplatz" etwa für das Kapital Literatur  - um seinen Punkt zu machen, findet Widmann überzeugend. Auch in diesem Buch versammeln sich weit zerstreute Mosaikteilchen zu einem Gesamtbild: ob es um die Gründung von Großberlin 1920 geht oder die Kinderbanden nach Kriegsende, um Brecht, Grosz, Piscator oder Remarque. Bei letzterem geht Widmann ein Licht auf, wenn auch kein angenehmes: Die ganze Tragödie einer Generation, die leben wollte, aber kämpfen musste, steht ihm auf einmal lebendig vor Augen. In der WDR-Mediathek findet man ein 12-minütiges Interview mit Merz über sein Buch.