Lutz Seiler

Stern 111

Roman
Cover: Stern 111
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
ISBN 9783518429259
Gebunden, 528 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Zwei Tage nach dem Fall der Mauer verlässt das Ehepaar Bischoff sein altes Leben - die Wohnung, den Garten, seine Arbeit und das Land. Ihre Reise führt die beiden Fünfzigjährigen weit hinaus: Über Notaufnahmelager und Durchgangswohnheime folgen sie einem lange gehegten Traum, einem "Lebensgeheimnis", von dem selbst ihr Sohn Carl nichts weiß. Carl wiederum, der den Auftrag verweigert, das elterliche Erbe zu übernehmen, flieht nach Berlin. Er lebt auf der Straße, bis er in den Kreis des "klugen Rudels" aufgenommen wird, einer Gruppe junger Frauen und Männer, die dunkle Geschäfte, einen Guerillakampf um leerstehende Häuser und die Kellerkneipe Assel betreibt. Im U-Boot der Assel schlingert Carl durch das archaische Chaos der Nachwendezeit, immer in der Hoffnung, Effi wiederzusehen, "die einzige Frau, in die er je verliebt gewesen war".
Ein Panorama der ersten Nachwendejahre in Ost und West: Nach "Kruso" führt Lutz Seiler die Geschichte in zwei großen Erzählbögen fort - in einem Roadtrip, der seine Bahn um den halben Erdball zieht, und in einem Berlin-Roman, der uns die ersten Tage einer neuen Welt vor Augen führt. Und ganz nebenbei wird die Geschichte einer Familie erzählt, die der Herbst 89 sprengt und die nun versuchen muss, neu zueinander zu finden.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 17.03.2020

Paul Jandl spürt den Riss in der Geschichte auf jeder Seite von Lutz Seilers "atmosphärischem" Roman. Die Wendezeit betrachtet durch das Treiben einer anarchistischen Clique aus Hausbesetzern und Künstlern im Prenzlauer Berg, diese Perspektive gefällt Jandl, weil der Autor das Leben nach dem Fall der Mauer als großes Abenteuer inszeniert, als ein Haufen von Möglichkeiten, garniert mit politischen Analysen, "knallhart herzergreifender Psychologie", einer Liebesgeschichte und einer Geschichte aus der Elterngeneration.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 13.03.2020

Rezensent Richard Kämmerlings schaut mit Lutz Seiler auf die zweite Tafel des großen "Diptychons" als dessen ersten Teil er Seilers "Kruso" ausmacht. Erneut lässt ihn der Autor in ein "mystisches Zwischenreich" blicken, das hier ganz anders erscheint als in der Flut sonstiger Wenderomane: Der Kritiker streift mit Seilers Alter Ego Carl durch den anarchischen Prenzlauer Berg nach dem Mauerfall und bewundert einmal mehr die Mischung aus präzisen Beobachtungen, "sinnlicher Dichte",  historischen Details und "originellen" Figuren. Vor allem aber lobt Kämmerlings Seilers Idee, Carls Erfahrungen jene seiner Eltern, die sofort nach dem Mauerfall gen Westen aufbrechen, entgegenzusetzen. Wenn die Eltern schließlich in Notaufnahmelagern landen und mit Bürokratie und Fremdenfeindlichkeit zu kämpfen haben, erkennt der Rezensent auch die Aktualität des Romans.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 13.03.2020

Rezensent Christoph Schröder ist voll überschwänglichem Lob für Lutz Seilers gerade mit dem Leipziger Buchpreis ausgezeichneten Roman "Stern 111". Seiler erzählt ihm von den 16 Monaten nach dem Mauerfall in Berlin als einer Zeit der Möglichkeiten: als alternative Lebensformen immerhin denkbar waren. Persönliche Verwandlungen, das Errichten herrschaftsfreier Räume oder vielleicht eine Stadt, die von einer Stadtguerilla regiert wird? Diese Momente des Übergangs, eines "Prozesses von Machterwerb und Machtverfall" kann Seiler dem Rezensenten wunderbar beschreiben. Dass er dabei nicht nostalgisch wird, rechnet ihm der Rezensent, der den Roman vor allem als antikapitalistischen liest, hoch an.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 10.03.2020

Rezensentin Cornelia Geißler wünscht Lutz Seilers Roman "Stern 111" den Preis der Leipziger Buchmesse. Denn wie der Dichter darin vom Chaos nach der Wende erzählt, "mit starken Tauen an die Wirklichkeit geknotet", findet sie groß und von enormer Sogkraft. Seiler folgt einer Handvoll Figuren, die es nach Berlin verschlägt, allen voran dem jungen Dichter Carl, der Gera verlassen muss, weil seine Eltern in den Westen aufbrechen. Toll, wie Carl von seinen Freunden am Wasserturm mit der Milch der schwebenden Ziege Dodo gepäppelt wird, an der Kellerkneipe Assel mitmauert (die aber nicht nur von Sexarbeiterinnen frequentiert wurde!) und es schließlich doch nach Paris schafft. Geißler ist bewegt von der Wärme, mit der Seiler von dieser intensiven Zeit erzählt, als Wochen wie Tage vergingen, aber ein ganzes Jahrzehnt wert waren.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 10.03.2020

Anja Maier hält Lutz Seilers Roman für ein selten berührendes Stück Literatur zum Thema Wende. Dass Seiler sich viel Raum nimmt ("knausgardsche Ausmaße"), um die Geschichte seines Helden und seiner existenziellen Abgründe zu erzählen, und große Gefühle bemüht, findet Maier angemessen. Spannung erhält der Text laut Maier aus dem "Wechsel der innerfamiliären Perspektive". Maier jedenfalls möchte auch nach 500 Seiten noch wissen, wie es weitergeht und was der Erinnerungsfuror des Protagonisten an DDR-Familiengeschichten alles ans Licht bringt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.2020

Rezensent Jan Wiele findet Lutz Seilers Roman so spannend, dass er sich wünschte, er wäre 1989/90 selbst dabeigewesen. Ein Wenderoman im allerbesten Sinn ist das Buch für ihn, denn Seiler gelingt es laut Wiele nicht nur, schlaglichtartig wie Döblin von der Hausbesetzerszene im Ostteil Berlins zu erzählen, als Geschichte einer poetischen Existenz reicht der Roman für Wiele auch an Rilkes "Malte Laurids Brigge" heran. Anspielungsreich das Banale besonders zu machen, etwa die Erfahrung des Autofahrens im Lada, gelingt dem Autor außerdem spielend, stellt der Rezensent fest, der sich der ostalgischen Tendenz dabei durchaus bewusst ist. Schämen muss sich der Autor dafür aber nicht, findet Wiele. Der Sozialismus nach dem gescheiterten Sozialismus - nie sah er so gut aus wie hier, meint er.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 05.03.2020

Knapp, aber begeistert bespricht Rezensent Helmut Böttiger den neuen Roman von Lutz Seiler. Allein dass Seiler jene Zeit der Freiheit und Orientierungslosigkeit kurz nach dem Mauerfall literarisch ausleuchtet, verbucht der Kritiker als Gewinn: Über die Risikolust und "lustvolle Anarchie" jener DDR-Bürger, die sofort gen Westen aufbrachen, hat er so in der deutschen Gegenwartsliteratur noch nicht gelesen. Gebannt folgt er einem DDR-Ehepaar beim Neustart, staunt, wie "sinnlich" und klischeefrei der Autor von deren Ausbeutung im Westen erzählt und lobt Seilers Entscheidung, das Schicksal des zurückgelassenen Sohnes, der im Osterberliner Underground versackt, dagegenzuschneiden. Die "Sprach- und Bildkraft" Wolfgang Hilbigs und ein hochkomplexes literarisches Verweissystem machen den Roman für Böttiger zum Ereignis.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 29.02.2020

Rezensent Thomas Steinfeld liest Lutz Seilers zweiten Roman als Künstlerroman. Der Held: ein dichtender Maurer oder mauernder Dichter aus dem ostdeutschen Hausbesetzer- und Stadtguerilla-Milieu. Kraftvoll erscheint der Text Steinfeld durch die Fruchtbarmachung der Differenz zwischen den historischen Ereignissen (des Mauerfalls) und der Innenansicht einer alternativen Szene in und um eine alternative Kneipe im wilden Osten. Dass schwebende Kommen und Gehen des Personals und eine eher uneindeutige Sprache passen laut Rezensent ganz gut dazu.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 27.02.2020

Rezensent Ijoma Mangold bewundert Lutz Seiler für seine Fähigkeit den Wende-Stoff noch einmal ganz neu zu erzählen, indem er die Perspektive wechselt. Wie Seiler eintaucht in das Milieu der Gegenkultur von Boheme und Berliner Stadtguerilla und die anarchistische Romantik der ostdeutschen Hausbesetzerszene nachempfindet, scheint Mangold bemerkenswert. Seilers Figurenzeichnung und seine Anschaulichkeit bei der Beschreibung des "Überhitzten der politischen Romantik" findet der Rezensent groß. Wenderoman ganz anders, so Mangold.