Bücherbrief

Duftender Eintopf aus Geschichte und Literatur

09.08.2020. Thorsten Nagelschmidt braust rauschhaft-musikalisch durch eine Berliner Nacht zu Dealern, Späti-Besitzern und Streifenpolizisten, Ulrike Almut Sandig erzählt poetisch von den Monstern in uns, Zsofia Ban lässt mit einem kurzen Knall Frösche, Menschen und Sülze aufeinanderprallen und Roberto Calasso erzählt wuchtig und saftig von Jagd und Blutschuld. Dies alles und mehr in unseren besten Büchern des Monats August.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Thorsten Nagelschmidt
Arbeit
Roman
S. Fischer Verlag. 336 Seiten. 22 Euro

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Berlin-Romane gibt es zur Genüge. Aber Thorsten Nagelschmidts "Arbeit" scheint trotzdem lesenswert. Wenn der Musiker, Künstler und Autor hier in einzelnen Episoden an der Seite eines kauzigen Taxifahrers durch eine rauschhafte Berliner Nacht braust, auf Dealer, Raver, Türsteher und andere Nachteulen ebenso trifft wie auf Krankenschwestern, Streifenpolizisten oder Späti-Besitzer, denkt SZ-Kritiker Patrick Bauer nicht nur wehmütig an Berliner Party-Nächte vor Corona zurück, sondern bewundert auch die Authentizität der vielen unterschiedlichen Tonlagen, die der Autor für ihn deutlich hörbar der Wirklichkeit abgelauscht hat. Ein kluges, witziges, vielstimmiges Panorama mit viel Sogpotenzial, findet er. "Atemberaubend gegenwärtig" nennt Judit von Sternburg in der FR den Roman, der ihr von den Feierwütigen vor allem aus Sicht der Arbeitenden erzählt. Und im Dlf-Kultur verrät uns Elke Schlinsog, dass Nagelschmidt seine Porträts der Menschen, die über den Rand hinaus träumen und sich zugleich immer wieder selbst torpedieren, aus vielen Gesprächen gewonnen hat. "Etwas Dokumentarisches und gleichzeitig Rauschhaft-Musikalisches zeichnet diesen spannenden Gesellschaftsroman aus", schreibt im NDR Anna Hartwich. Im Zeit-Interview mit Tobi Müller spricht der Autor über die dunkle Seite der Berliner Nächte.


Ulrike Almut Sandig
Monster wie wir
Roman
Schöffling und Co. Verlag. 240 Seiten. 22 Euro

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Kein leichtes Thema packt die Lyrikerin Ulrike Almut Sandig in ihrem Debütroman an: Sie erzählt uns von Gewalt in all ihren Facetten, vom Missbrauch Schutzbefohlener, von faschistischer und von staatlicher Gewalt, aber auch von Gewalt gegen die Natur. Und dennoch lieben die KritikerInnen den Roman: Für den FAZ-Rezensenten Andreas Platthaus ist es vor allem Sandigs schöne Mischung aus Poesie und Prosa und die Abgründigkeit, die ihn ganz in einen "Wirbel" ziehen: Sandig erzählt so subtil, wortgewaltig und andeutungsreich, dass es schockierend genug wirkt, auch wenn oberflächlich wenig geschieht, lobt er. Für taz-Kritiker Carsten Otte ist der Roman ein Gesellschaftsporträt, eine Analyse familiärer Gewalt, ihrer Allgegenwärtigkeit und ihrer Wiederkehr. Literarisch feinfühlig erzählt, bleibt der Kritiker schockiert, aufgerüttelt und nachhaltig beeindruckt zurück. Nur in der SZ vermisst Kristina Maidt-Zinke die sprachlichen Experimente der Lyrikerin, wenngleich sie bewundert, wie anschaulich Sandig etwa von einem Neonazi erzählt, der in Südfrankreich als Au-pair arbeitet.

Jhumpa Lahiri
Wo ich mich finde
Roman
Rowohlt Verlag. 160 Seiten. 20 Euro

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Kaum eine Rezensentin vermag zu sagen, wovon die in den USA aufgewachsene und in Italien lebende Autorin Jhumpa Lahiri genau erzählt. Der Sogkraft des Romans erliegen sie dennoch: Lahiri folgt in kurzen Episoden einer weder besonders glücklichen noch unglücklichen alleinstehenden Literaturwissenschaftlerin, die ein Stipendium in eine italienische Unistadt führt. Deren öder Alltag zermürbt sie langsam, ohne, dass sie es direkt spürt, bis sie irgendwann eine lebensverändernde Entscheidung trifft, erzählt Katharina Granzin, in größtem Leseglück schwelgend, in der FR: Lahiris Sinn für Details, ihre Beobachtungsgabe und Akribie in Kombination mit den zarten Andeutungen im Text, beflügeln die Fantasie der Kritikerin. Im Dlf-Kultur spürt auch Maike Albath das subtile Strömen, das den Leser durch die Geschichte und die zerwühlte Gefühlswelt der Heldin treibt. Die Episoden, die vom Fremdsein und von Entwurzelung erzählen, von Begegnungen, Beziehungen und Wahrnehmungen, beeindrucken Julia Frisé im Dlf mit ihrer "wunderbarer modrig-feuchten Melancholie". Welt-Kritikerin Mara Delius fühlt sich an Antonioni erinnert.

Zsofia Ban
Weiter atmen
Erzählungen
Suhrkamp Verlag. 173 Seiten. 22 Euro

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Zsofia Ban wuchs als Tochter von Holocaust-Überlebenden in Brasilien und Ungarn auf. Nicht nur, weil einige Erzählungen dieses Bandes in den beiden Ländern spielen, meint SZ-Kritikerin Meike Feßmann den biografischen Hintergrund der Autorin in den Texten zu erkennen: In den zwischen Bedrohung und Rettung "balancierenden", oft realistischen, manchmal surrealen Geschichten sind auch immer die Themen Antisemitismus und Xenophobie vernehmbar sind, meint sie und lobt zugleich Trockenheit, Witz und Sinnlichkeit der Texte. In der FR ist auch Judith von Sternburg ganz hingerissen von den sprachlich wie inhaltlich überraschenden und experimentierfreudigen Erzählungen der Autorin, die immer wieder mit Leseerwartungen spiele: Hier schreibt eine Virtuosin und Sprachkünstlerin, die glücklicherweise mit Terezia Mora von einer ebensolchen übersetzt wurde, meint sie. Und wenn Dlf-Kritiker Jörg Plath auf Frösche, Menschen und Sülze trifft, liest wie ein alter Ungar zu seiner Jugendliebe nach Rio reist, eine Hure sich vor zwei an Brustkrebs erkrankten Frauen über ihre neuen Brüste freut oder eine Frau sich mit ihrem Aquarium vor der Außenwelt verschanzt, staunt er immer wieder, wie es Ban gelingt, Gegensätze mit einem kurzen Knall zu verbinden und eine gleichermaßen "emotionale wie rationale Intimität" zu erzeugen. In der Wiener Zeitung empfiehlt auch Andreas Wirthensohn, in den "wilden Erzählkosmos" der Autorin einzutauchen.

Nicolas Mathieu
Rose Royal
Roman
Hanser Berlin. 96 Seiten. 18 Euro

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Erst vor einem Jahr erschien hierzulande Nicolas Mathieus hochgelobter, mit dem Prix Goncourt ausgezeichneter Roman "Wie später ihre Kinder" (Bestellen). Nun legt der deutsche Verlag mit dem schmalen Debütroman des französischen Autors nach - und dieser hält den Erwartungen zumindest der meisten KritikerInnen stand: Abermals führt uns Mathieu in die französische Provinz, hier allerdings an der Seite einer von männlicher Gewalt drangsalierten, aber wehrhaften Frau, die sich nach etlichen Enttäuschungen, seelischer Not und Gewalt, wieder in die Abhängigkeit eines Mannes begibt und in die Alkoholsucht abrutscht. Wie unerbittlich Mathieu das kleine Glück und schäbige Leben seiner Heldin seziert, erscheint Judith von Sternburg psychologisch so glänzend, dass sie das Ganze gern in größerer Breite geschildert bekommen hätte. In der FAZ lobt Rose-Maria Gropp die "atemberaubende Intensität", die eiskalte wie klare Sprache dieses eleganten und ungeheuerlichen Textes, dessen "Nachbilder" sie lange nicht los wird. Auch die Kritiker in taz, Welt und Dlf-Kultur empfehlen den Roman. Nur NZZ-Kritiker Paul Jandl kann die Allerweltstristesse nicht überzeugen: Alles wird hier behauptet, nichts beglaubigt, der Roman sei eine reine Platzpatrone, winkt er ab.


Sachbuch

Roberto Calasso
Der Himmlische Jäger
Suhrkamp Verlag. 624 Seiten. 38 Euro

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Liest man Johan Schloemanns Kritik in der SZ, die einzige, die bisher zu diesem Buch überregional erschienen ist, dann möchte man sofort zu Robert Calassos neuem Buch greifen. Wuchtig, gar saftig nennt der Rezensent den Essay des italienischen Universaldenkers, der hier auf über sechshundert Seiten schildert, wie die Erfindung der Jagd den Homo Sapiens in die zivilisatorische Bredouille brachte: Der Mensch ist nicht als Räuber geboren, er wurde dazu, weil er Raubtiere, seine Feinde, beim Jagen oder Reißen beobachtete, lernt der Kritiker. Gebannt verfolgt er, wie Calasso auch religiöse Riten und Tieropfer als Sühne für die Blutschuld begreift, die der Mensch mit der Jagd auf sich genommen hat. Und wenn Calasso den Mythen des Mittelmeerraums und Altindiens nachspürt, sieht Schloeman einen "modern-archaischen" Essayisten am Werk, mit Sinn für Mysterien und Abschweifungen, universell und immer auch ein wenig tragisch. Klug, poetisch und doch so leicht, lobt der Kritiker.

Norman Davies
Ins Unbekannte
Eine Weltreise in die Geschichte
WBG Theiss. 896 Seiten. 39,95 Euro

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Schon der Titel klingt vielversprechend: "Ins Unbekannte". Und genau dorthin begibt sich der emeritierte englische Geschichtsprofessor Norman Davies auf seiner "Weltreise in die Geschichte". Er klärt uns auf über den Denisova-Menschen, den römisch-britischen König Marcus Quonimorus, erzählt von französischen Atomtests in Polynesien oder dem gefährdeten Frankfurter Stadtwald - stets mitreißend, kenntnisreich und mit Gegenwartsbezug, wie Arno Widmann in der FR versichert. Verschlungen hat er jedes der fünfzehn Kapitel des Buches, immer "angelockt vom Unvertrauten", und dabei ebenso "liebevolle" wie "mörderische" Geschichten entdeckt. Hymnisch besprach beim Erscheinen des englischen Originals auch Sarah Wheeler im Guardian das Buch, in dem sie von der "Marginalisierung indigener Völker" genauso liest, wie vom letzten Tiger in Singapur oder von der Geschichte der Luftfahrt. Dieses Buch ist ein "duftender Eintopf aus Geschichte, Literatur und Reisen", der mit "Exkursen, Detektivarbeit und Humor gewürzt" ist, schwärmt sie.

Fred Pearce
Fallout
Das Atomzeitalter - Katastrophen, Lügen und was bleibt
Antje Kunstmann Verlag. 350 Seiten. 25 Euro

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Eine Reise der ganz anderen Art hat der britische Wissenschaftsjournalist Fred Pearce für dieses Buch unternommen: Pearce nimmt uns mit zu jenen Orten, wo sich die größten Atomunfälle der Geschichte ereigneten. Wenn Pearce auf seiner nuklearen Welttour nach Tschernobyl, Fukushima oder Sellafield reist, mit Wissenschaftlern, Ingenieuren, Überlebenden und Ärzten spricht, erkennt Dagmar Röhrich im Dlf vor allem die Verlogenheit im Umgang mit der Atomkraft. Gleichermaßen fasziniert und beklommen liest auch Susanne Billig im Dlf-Kultur die Reportage, in der ihr der Autor fesselnd, bewegend, detailtreu und "nervenzerrüttend spannend" verdeutlicht, wie es zu den Unfällen kam: "Menschliches Versagen in grotesken Ausmaßen" eint die Vorfälle, lernt Billig. Vor allem aber lobt sie, dass Pearce auch die Schicksale der "im Stich gelassenen", etwa der Fischer von Fukushima oder der Inselbewohner im Pazifik, ins Licht rückt. FAZ-Kritiker Christian Schwägerl lernt hier anhand von wissenschaftlichen Quellen auch viel über tatsächliche und nur vorgestellte Effekte der Strahlung. Das Buch möchte er aber eher als Zwischenbericht, denn als Nachruf auf die Atomenergie empfehlen: Letzteres erscheint ihm dann doch zu voreilig.

Donatella Di Cesare
Von der politischen Berufung der Philosophie
Matthes und Seitz Berlin. 175 Seiten. 22 Euro

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Brauchte es wirklich die "Schwarzen Hefte" um festzustellen, dass Martin Heidegger Antisemit war? Donatella Di Cesare, so heißt es in ihren Autorenbios, war Vizepräsidentin der Heidegger-Gesellschaft, aus der sie am 3. März 2015, nach der Veröffentlichung der Schwarzen Hefte, ausgetreten ist. In ihrem neuen Band widmet sie sich Corona, aber auch dem metaphysischen Katzenjammer, dem die Linke doch eigentlich ihre Existenz verdankt: "Es gibt keine Alternative zur nach den Regeln eines globalen Kapitalismus funktionierenden Welt, lautet das gegenwärtige Dogma", paraphrasiert Gerd Brendel im Dlf Kultur und lässt sich Anregen von Di Cesare als einer Denkerin weniger des Ortlosen - des Atopischen - als der Ortlosen, also all jener Philosophen, die von ihr den Ehrentitel der "Nicht-Angehörigkeit" bekommen. Sie lobt sie - allerdings von ihrem sicheren Lehrstuhl in Rom aus - für ihre Negativität, so Brendel, auch Heidegger letztlich, der am Ende nur für die falsche Revolution optiert habe. Positiv auch die Kritik von Ulrich van Loyen im Freitag, der mehr auf ihren ursprünglich für die Repubblica verfassten Essay zur Coronakrise eingeht. Sie entwickle dort einen Begriff der "immunitären Demokratie", mit dem sie eine Vorstellung vom Gemeinwesen kritisiere, "das seinen Mitgliedern Freiheit von Lebensrisiken verspricht". Hm ja, das ist sicher nicht das, was manchen atopischen Denkern vorschwebte. Beate Meierfrankenfeld ist im Bayerischen Rundfunk weniger überzeugt von einem derart schnittigen Radikalimus. Hält sie es etwa mit Habermas' "beflissenen Appell an eine mittelmäßige Rationalität", so eine weitere böse Formulierung Di Cesares?

Hubert Wolf
Der Unfehlbare
Pius IX. und die Erfindung des Katholizismus im 19. Jahrhundert
C.H. Beck Verlag. 432 Seiten. 28 Euro

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Vor 150 Jahren ließ sich Papst Pius IX. beim Ersten Vatikanischen Konzil die "Unfehlbarkeit" zuschreiben. "Alles was heute an dieser Institution so weltfremd ist, was so kalt und unbarmherzig wirkt, die gesamte anachronistsche Klerikalhierarchie also wurzelt in abenteuerlichen theologischen Winkelzügen, die im 19. Jahrhundert unter Pius IX. ersonnen wurden", schrieb Rudolf Neumaier dazu in der SZ (Unser Resümee). Der Münsteraner Kirchenhistoriker Hubert Wolf zeichnet in seiner Studie denn auch nicht nur den Lebensweg des italienischen Adligen nach, der zum mächtigsten und am längsten amtierenden Papst der Geschichte wurde, sondern legt fesselnd, einleuchtend und gestützt von unzähligen Belegen dar, weshalb sich Pius IX. sowohl bei seinen Einmischungen in die Politik als auch beim Erlass des Unfehlbarkeitsdogmas für Päpste völlig falsch verhielt und inwiefern diese Fehler noch bis heute verheerende Konsequenzen haben, erklärt Jörg Ernesti in der FAZ. Mit so viel Schärfe hatte der Kritiker bei Wolf nicht gerechnet. In der SZ lobt Rudolf Neumaier auch den "dramaturgischen" Schwung der Studie.