Polina Barskova

Lebende Bilder

Cover: Lebende Bilder
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
ISBN 9783518429426
Gebunden, 218 Seiten, 22,00 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Olga Radetzkaja. Sie weigern sich, im Keller Schutz zu suchen, und harren in der dunklen, zugigen Gemäldegalerie aus, Kälte und Hunger trotzend. Mojsej, 25, und Antonina, 37, sind Mitarbeiter der Leningrader Eremitage, einem der schönsten Kunstmuseen der Welt. Im Winter 1941/42 wird es zu ihrem letzten Zufluchtsort. Anfangs rezitieren sie Gedichte, erzählen sich das Märchen von der Schneekönigin, stellen zwei Rembrandt-Gemälde nach, die aus dem Museum evakuiert werden sollen. Als sie versuchen, sich an ein Lied zu erinnern, versagen ihre Stimmen. Das Lauschen in die Stille hinein, das wiederholte Rufen, Sichvergewissern, ob der andere noch da ist, das auf elementare Bruchstücke reduzierte Gespräch zweier Liebender, erweist sich am Ende als eine "Dokumentation aus Stimmen" authentischer Figuren, die in der Leningrader Blockade umgekommen sind.
"Lebende Bilder" heißt dieser zentrale Text des Bandes, dem zehn längere und kürzere Prosastücke vorangestellt sind. Alle kreisen sie um Sankt Petersburg als imaginären Ort, auch wenn sie in Lowell/Massachusetts, in San Francisco oder an einem Strom in Sibirien spielen und von Kindheit, erster Liebe und schmerzlichen Verlusten handeln. Polina Barskovas lyrische Sprache ruft uns, gleichsam durch Raum und Zeit hindurch, als Zeugen mit an die Schauplätze und rückt jedes Erleben in die größere Geschichte ein. In dem Versuch, private Erinnerung und kulturelles Gedächtnis ineinander zu verweben, verweigert sie sich traditionellen Erzählformen - nicht programmatisch, sondern aus einer existenziellen Erfahrung heraus.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 03.07.2021

Rezensentin Katharina Granzin ist "eigenartig berührt" vom ersten Prosaband der Lyrikerin Polina Barskova, die in Leningrad aufwuchs und nun in den USA lebt und lehrt. Der Band beschäftigt sich mit der Leningrader Blockade durch die deutsche Wehrmacht 1941 bis 1944, zu dem Barskova auch forscht, und ergänzt das titelgebende Theaterstück um "lyrische Prosa-Miniaturen", erklärt Granzin. Dabei gefällt ihr das besagte Stück um ein Liebespaar, das während der Blockade in einer Kunsthalle ausharrt, außerordentlich gut mit seinem "absurden" Kontrast zwischen der existenziellen Not und der davon unberührten Sphäre der Kunst. In den anderen Texten jedoch irritiert es Granzin etwas, wie unmittelbar die Autorin Texte zur Blockadezeit und der damaligen Literatur neben solche zu ganz persönlichen Leidens- und Liebeserfahrungen stellt - lyrisches Verfahren in Reinform oder (allzu) kühne Montage, fragt sie sich. Die "hintergründig assoziative" Sprache des Bands, der von Olga Radetzkaja gekonnt übersetzt worden sei, scheint sie aber doch zu faszinieren.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 16.04.2021

Rezensent Franz Haas ist schwer beeindruckt von Polina Barskovas Buch, in dem die russischstämmige, nun in den USA lebende und lehrende Autorin das Trauma der Leningrader Blockade aufleben lässt. In einem Dramolett und mehreren Prosastücken aus der Perspektive eines autofiktionalen Ichs verbinde Barskova virtuos und auf eingehender Archivarbeit basierend, so Haas, Beschreibungen des damaligen Leids, des Hungers und der Krankheit mit privaten schmerzlichen Erfahrungen - ein Kunststück, das nur dank Barskovas enormem Gespür für "Sprache und Schrecken" gelinge, staunt der Rezensent. Zwischen ergänzenden Texten über ihre Einbürgerung oder eine sadomasochistische Beziehung zu einem älteren Mann haben beim Rezensenten diejenigen Texte den größten Eindruck hinterlassen, in denen sich die Autorin "liebevoll böse" und dabei sehr "scharfsinnig" über die Leningrader Literatur auslasse.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 06.02.2021

Rezensent Herbert Wiesner ist ganz fasziniert von Polina Barskovas poetischer Anverwandlung der Menschen und ihrer Widerständigkeit während der Hungerblockade von Leningrad zwischen 1941 und 1944. Der Autorin gelingt laut Wiesner nicht weniger, als den Opfern ihre Würde zurückzugeben, indem sie an ihre Musik, Kunst und Literatur erinnert, an gespielte Tableaux vivants in der kaputten Eremitage und an Daniil Charms und Jewgeni Schwarz, in dessen Schreibweise die Autorin eintaucht, wie Wiesner erläutert. Für Wiesner ein "verzauberndes Experimentieren mit Prosa".

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 19.12.2020

Olga Martynova liest diesen "speziellen" Entwicklungsroman von Polina Barskova dankbar angesichts der darin aufgehobenen Erinnerung an das Leid der Leningrader unter der Belagerung durch die deutsche Wehrmacht und die Folgen. Wie die Autorin dieses Trauma hier auf mal essayistische, mal belletristische Weise fasst, indem sie sich an ihre Jugend in Leningrad erinnert, "groteske" Details und Figuren festhält, findet Martynova lesenswert. Für ärgerlich aber hält sie die teils allzu glatte Übersetzung, die der sehr eigenen Blockade-Sprache bedauerlicherweise den Stachel zieht, wie sie findet. Das Allzumenschliche, von dem die Texte laut Rezensentin erzählen, schimmert aber dennoch hindurch, stellt Martynova fest.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 21.11.2020

Rezensent Andreas Platthaus dankt der im amerikanischen Amherst lehrenden russischen Literaturwissenschaftlerin und Schriftstellerin Polina Barskova dafür, dass sie Stimmen jener Toten gesammelt hat, die durch die Blockade Petersburgs durch die deutsche Wehrmacht verstummten und deren Aufzeichnungen in den Petersburger Archiven eingeschlossen waren. Russische Avantgarde vom Feinsten bietet dem Kritiker der Band, in den Barskova auch eigene Texte, oft ausgehend von den Originaltexten montiert hat. So lauscht Platthaus Dialogen in der Eremitage, bewundert Barskova Porträts und begrüßt mit diesem Band die Avantgarde zurück in Petersburg.
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