Wo wir nicht sind

Offen für alle Winde

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
19.01.2022. In seiner "Philosophie der Weltbeziehung" verbindet der karibische Denker Edouard Glissant Dichtung, Erinnerung und politische Analyse zu einer Poesie der Weite, des Austauschs und der Offenheit. Gegen Polarisierung und Abgrenzung beschwört er den gemeinsamen Ort, an dem sich die Gedanken zur Welt gegenseitig erhellen.
Die Karibik war in der Weltgeschichte die Bühne, auf der im frühen 16. Jahrhundert erstmals die drei Kontinente Europa, Amerika und Afrika so überaus gewaltvoll aufeinandertrafen. Noch bevor sich hier Engländer und Spanier mit ihren Flotten und Freibeutern gegenseitig bekriegten, verfrachteten ihre Segelschiffe Sklaven aus Westafrika über den Atlantik hierher. 1510 verschleppten die Spanier die ersten Afrikaner auf die Insel Hispaniola, um sie auf ihren Zuckerrohrplantagen schuften zu lassen, fünfzig Jahre bevor auch die Portugiesen Sklaven nach Brasilien brachten und hundert Jahre bevor die ersten Sklavenschiffe in Virginia landeten. Aber hier in der Karibik trafen auch drei große Weltkulturen aufeinander und verbanden sich zu der ganz eigenen, dynamischen Kultur der Antillen.

Für Edouard Glissant, den Dichter, Philosophen und charismatischen Aktivisten, ist die Karibische See mit ihren vielen Inseln und den Passatwinden ein offenes Meer, das verteilt und streut: Ihm entspreche ein archipelisches Denken, das sich intuitiv vorwärts tastet, in seiner Struktur nicht zielgerichtet und unvorhersehbar. Dem entgegen stellt Glissant zum Beispiel das Mittelmeer, das sammelt und konzentriert, oder den Atlantik mit seiner Mittelpassage als Symbol und Realität der Macht. Zu ihm gehöre das kontinentale Denken in Systemen, mit seiner Trias aus Entdeckung, Eroberung und Erkenntnis.

In Glissants Schriften verbinden sich Geschichte und Geografie zu Poesie und Philosophie: In ihnen stehen Vielfalt, Diversität und Kreolisierung allen Formen von Abgrenzung und Polarisierung entgegen. Identität ist für ihn allenfalls eine Voraussetzung, um sich der Welt zu öffnen. Sie speist sich nicht aus einer Wurzel, sondern aus einem ganzen Wurzelgeflecht und ergibt nur Sinn im Austausch mit dem Anderen: "Ich verändere mich im Austausch mit dem Anderen, ohne mich zu verlieren oder zu verfälschen."

Auch zehn Jahre nach Glissants Tod im Jahr 2011 bringt der Heidelberger Wunderhorn Verlag zuverlässig dessen Gedichte, Essays und Traktate heraus. Wahrscheinlich hat sich auch niemand so tief in diesen sprachlich und referenziell sehr eigenen Kosmos eingefunden wie die Übersetzerin Beate Thill. Seit Jahren, wenn nicht Jahrzehnten arbeitet sie daran, den Deutschen Glissants zentrale Begriffe näherzubringen: All-Welt, Chaos-Welt, Weltbeziehung, Totalität.

Im jüngsten Band, der "Philosophie der Weltbeziehung", fügt Glissant Erinnerungen, Aphorismen und die wichtigsten Motive seines Denken zu einer Poesie der Weite, sehr dicht, sehr komprimiert und leider nicht so zugänglich wie etwa in "Kultur und Identität". Doch eigentlich ist Glissant kein hermetischer Denker, dessen Philosophie sich zu einem geschlossenen Gebäude fügte, sondern ein Dichterphilosoph, der alle Sinne gleichermaßen in Schwingungen versetzen möchte

Die Weltbeziehung, im französischen Original la Relation, setzt Glissant den beiden großen Antagonismen von Universalismus und Partikularismus entgegen: "Die Weltbeziehung strebt nicht nach Erhabenheit, sondern nach Fülle, nach Vollzähligkeit." Das Detail ist bei ihm der Punkt, an dem man anknüpft, um Verbindungen zu schaffen. Der gemeinsame Ort - französisch "lieu-commun" und nicht zu verwechseln mit dem Gemeinplatz, "lieu commun" ohne Bindestrich - ist für Glissant ein Ort, "an dem ein Gedanke der Welt einen anderen Gedanken der Welt aufruft und erhellt". Das Eigene, individuell und kollektiv verstanden, ist legitim und auch kostbar, aber es findet seine Wahrheit und Schönheit erst im Austausch mit dem Anderen.

Glissant ist kein systematischer Denker, alles Systematische - schroff Kontinentale - ist ihm als archipelischem Denker suspekt. Er entwickelt seine Gedanken aus der Beobachtung von Mensch und Natur von Martinique: Unweit des Mont Pelé sucht er den Weg zu der kleinen Hütte, in der er geboren 1928 wurde, beschwört in den Hügeln von Bezaudin die tropische Umgebung, Wasserfälle, Zyklone, Vulkan. Das führt ihn zu der Erkenntnis über die Dichtung, mit der die Poeten, Sänger und Griots seit Menschengedenken das Gespräch mit den Wäldern, den Wassern und den Feuern gesucht hätten: "Tatsächlich ist das Gedicht die einzige Dimension von Wahrheit, Dauer und Abweichung, in der alle Präsenzen auf der Welt miteinander verbunden sind, erobernde und zerstörte Völker, gebildete und einfache Gemeinschaften."

Gegen das Starre, Hierarchische, Ausschließende ruft Glissant seine berühmten Konzepte auf, an erster Stelle natürlich das Denken der Kreolisierung: Glissant grenzt die Kreolisierung klar von der Hybridisierung ab, die etwas fixiertes Neues erschaffen und die einzelnen Elemente nicht mehr erkennen lassen. Bei der Kreolisierung vermischen sich die einzelnen Elemente immer weiter und bleiben dabei doch erkennbar. Es ist ein unaufhörlicher Prozess, unvorhersehbar, funkenschlagend und "offen für alle Winde".

Dazu kommen das Denken in Beben, das sich auf die Erschütterungen dieser Welt einstimmt. Das Denken in Grenzen soll unterschiedliche Realitäten miteinander in Verbindung bringen. Das Denken der Spur will die Mondialität der "Feuerwalze der Globalisierung" entgegenstellen. Das Denken der Opazität fordert das Recht auf Unverständlichkeit ein. Das Denken der Irrfahrt, streng unterschieden vom Irren oder Irregehen, öffnet sich für ungeplante Zusammenschlüsse, es hat kein Ziel vor Augen und reißt dennoch mit.

Der Essay erschien im französischen Original im Jahr 2009, zwei Jahre vor Glissants Tod 2011. Manche Passagen erscheinen frappierend hellsichtig, speisen sich aber aus Glissants jahrzehntelangen Erfahrung in den Administrationen mehrerer Kontinente: Mit einem Denken der Unvorhersehbarkeit, so fordert er, könnten wir der lähmenden Betäubung entkommen, die uns während einer Pandemie befallen habe. Dies scheint uns heute bemerkenswert vorausschauend, zeigt aber eher, dass im globalen Süden Epidemien eine beständige Erfahrung sind. Sich auf das Unübersichtliche und Unvorhersehbare einzulassen dient dem Menschen, die Vorhersagbarkeit dagegen der Herrschaft und dem Profit. 

Glissants Denken schließt an europäische Denker ebenso an wie an die Dichter der Négritude oder die Autoren des Postkolonialismus, an Gilles Deleuze, Aimé Césaire und Frantz Fanon. Aber alles Schroffe, Harte, Ideologische ist ihm fremd. Gegen die universelle Abstraktion der Moderne setzt er ein Denken des Ortes in Beziehung zur Welt: "Was du von der Schönheit der Welt wahrnimmst, engagiert dich an deinem Ort. Was du von den bedrohten Schönheiten der Welt wertschätzt, gibt deinem Handeln und deiner Stimme die Richtung."

Glissants Poetik verbindet Intuition und Großzügigkeit, Rhythmus und Reflexion, ästhetische Wahrnehmung der Welt und die politische Praxis der Teilhabe. Seine "Philosophie der Weltbeziehung" ist politische Analyse und poetischer Gesang in einem. Sie schwebt mühelos über allen schroffen Felsen und harschen Klüften.

Edouard Glissant: Philosophie der Weltbeziehung. Aus dem Französischen von Beate Thill. Wunderhorn Verlag, Heidelberg 2021, 131 Seiten, 20 Euro (Bestellen)