Wo wir nicht sind

Futter für die Boa

Eine Kolumne zur Weltliteratur. Von Thekla Dannenberg
20.04.2022. David Diop erzählt in seinem Roman "Reise ohne Wiederkehr" von dem französischen Botaniker Michel Adanson, der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Senegal reiste, um Kultur und Natur Westafrikas zu erforschen - auf dem Höhepunkt von Aufklärung und Sklavenhandel.
In ihrer bahnbrechenden Menschheitsgeschichte "Anfänge" konterkarieren die beiden Anthropologen David Graeber und David Wengrow etliche Vorstellungen, die wir uns gängigerweise von Zivilisation und Entwicklung machen. Ein besonders interessanter Gedanke in diesem Monumentalwerk ist, dass die europäischen Aufklärer der frühen Neuzeit keineswegs in Opposition zu nichtwestlichen Kulturen standen und sich dort auch niemals gesehen hätten. Die westliche Aufklärung stand nicht im Gegensatz zu indigenen Kulturen, behaupten Graeber und Wengrow, jene waren eher Inspiration und Verbündete im Kampf gegen die Unfreiheit und Ungleichheit des Feudalismus.

Die Jesuiten hatten in ihren Briefen seit dem 16. Jahrhundert aus der Neuen Welt berichtet, doch im 18. Jahrhundert brachten sie vor allem von den indianischen Nationen Nordamerikas neue Ideen und Vorstellungen nach Europa. Die egalitären und freiheitlichen Prinzipien der Wendat und Algonkin, die auf dem Gebiet des heutigen Kanadas lebten, elektrisierten die Salons und Akademien in Paris. Diderot und Voltaire waren vertraut mit dem Denken indigener Intellektueller. In ihren Schriften kaschierten die Aufklärer oft die Herkunft ihrer Ideen, nicht weil sie sich mit fremden Federn schmücken wollten, sondern weil die Kirche jeden der Ketzerei beschuldigt hätte, der in nichtchristlichen Gesellschaften überlegene Modelle sah. Leibniz war einer der wenigen, der offenzulegen wagte, dass er sich in seiner Staatsrechtslehre auf das zu jener Zeit vorbildliche China berief.

Der französisch-senegalesische Schriftsteller David Diop erzählt in seinem Roman "Reise ohne Wiederkehr" die Geschichte eines solchen Aufklärers. Diop selbst ist in Paris geboren und im Senegal aufgewachsen, er lehrt Literatur an der Universität Pau. Diop sieht nicht nur das Verbindende inmitten einer Geschichte von Krieg, Ausbeutung, Versklavung und Grausamkeit, er sucht es auch. Sein Roman wurde als erster französischer Roman mit dem internationalen Booker Prize ausgezeichnet.

Diop erzählt sehr frei die Geschichte des Botanikers Michel Adanson, der Mitte des 18. Jahrhunderts in den Senegal aufbrach, um dort die Bäume und Pflanzen der afrikanischen Westküste zu erforschen. Der Roman beginnt mit dem Tod des vereinsamten und misanthropischen Gelehrten, der sich vor dem Leben in seine wissenschaftliche Arbeit geflüchtet hatte, aber seiner Tochter Aglaia auf sehr eigene Art nahestand. Die Mutter war schon längst von ihm geschieden, Aglaia selbst hat bereits ihre zweite unglückliche Ehe hinter sich. Immerhin hat sie von ihrem Vater die Liebe und das Interesse für die natürliche Welt mitbekommen. Adanson hinterlässt ihr bei seinem Tod neben einigen Kutschen voller Gerümpel auch die Aufzeichnungen seiner Senegalreise fünfzig Jahre zuvor, mit denen sich Aglaia das Leben ihres Vaters offenbart.

Adanson, jung und aufstrebend, Anwärter auf einen Platz in der  Akademie, hatte sich auf einen Posten der Indienkompagnie nach Saint-Louis versetzen lassen, wo der Generaldirektor der Senegalkonzession, Estoupan de la Brüe, über den Handel mit Sklaven und Elfenbein herrschte, zusammen mit seinem Bruder Saint-Jean, dem Gouverneur von Gorée. Adanson interessiert sich nicht für die Handelsgeschäfte, er möchte die Natur und Menschen des Senegal kennenlernen. Er lernt Wolof und lässt sich von der Konzessionsgesellschaft immer wieder auf Erkundungstouren ins Landesinnere schicken oder in den Süden ans Cap-Verd, wo heute die Hauptstadt Dakar liegt und von wo aus man auf die berüchtigte Insel Gorée gelangt. Deren ehemaliger Gouverneurspalast wurde als Haus der Sklaven zum Symbol des Sklavenhandels, die "Tür ohne Wiederkehr" zum Sinnbild des grausamen Menschenhandels, auch wenn neuere Forschungen ergeben haben, dass die Gefangenen nicht von dort auf Schiffe verfrachtet worden sein konnten, weil die Klippen viel zu steil sind.

Auf einer weiteren Reise macht Adanson sich mit einem kleinen Trupp Begleiter auf die Suche nach der mysteriösen Wiederkehrerin Maram, einer Frau, die von Sklavenjägern geraubt wurde, aber aus der westindischen Gefangenschaft zurückgekehrt sein soll. In Adansons Gefolge befindet sich der junge Ndiak, Sohn eines lokalen Würdenträgers, der zum großen Freund und Lehrmeister des europäischen Akademieanwärters wird. Oberhand gewinnt im Laufe des Romans allerdings die traurig-schöne Liebesgeschichte zwischen Adanson und Maram. Die stets in Schlangenhaut gewandete Wiederkehrerin wird sich als Heilerin entpuppen und den Botaniker als das über die Pflanzen Afrikas lehren können, was in keiner Enzyklopädie zu finden ist. Zu den Geheimnissen der Natur fühlen sich beide hingezogen, Adanson will sie erforschen, Maram will sich mit ihnen verbünden.

Sehr schön evoziert Diop die historischen Landschaften des Senegals, die abgeholzten Ebenholzwälder, die verschiedenen Königreiche, die totemistische Magie. Dabei beschönigt er nichts, weder die grausamen Praktiken der französischen Handelsgesellschaften noch die Kollaboration afrikanischer Könige, die im Tausch gegen Waffen und Statussymbole ihre Krieger auf Sklavenjagd schickten. Wahn und Wildheit herrschen im 18. Jahrhundert des Senegals ebenso wie im Paris des Ancien Régime, keine Courtoisie kann die Grausamkeiten der Herrschaft verbergen, Rebellen und Abtrünnige müssen sich ins freie Reich des Großen Marabout flüchten. Diop erzählt seine Geschichte einer verhinderten Liebe mit großer Eleganz, in einer fließende Linie und leicht historisierter Sprache. Wie goldene Fäden ziehen sich durch Diop Erzählung französische und senegalesische Erzählmuster, immer wieder finden sich auch Anklänge an Glucks Oper "Orpheus und Euridike".

Und immer wieder schafft es Diop, die List der Vernunft hinter dem Okkulten zu erkennen, ohne seinen Zauber zu brechen. Am Ende möchte man ihm gern glauben, dass Maram ihre Hütte erleuchten lassen kann, indem sie aus einem Salzwasserbottich den zarten Schimmer des Meeres entweichen lässt. Aber Vorsicht: Die Fische in diesem Bottich sind auch das Futter für die Boa.

David Diop: Reise ohne Wiederkehr. Roman. Aus dem Französischen von Andreas Jandl. Aufbau Verlag, Berlin 2022, 236 Seiten, 22 Euro (Bestellen)

David Graeber, David Wengrow: Anfänge. Eine neue Geschichte der Menschheit. Klett-Cotta, Stuttgart 2022, 672 Seiten, 28 Euro (Bestellen)