9punkt - Die Debattenrundschau

Und jetzt? Das Schweigen

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
10.10.2023. Nach wie vor okkupieren die Ereignisse in Israel unsere ganze Aufmerksamkeit - und wieder können wir nicht einen konzisen Überblick liefern, sondern viele Splitter, die versuchen, wenigstens den Moment ein wenig einzufangen. Es gibt viele Reaktionen auf Reaktionen: FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube ist zornig, unter anderem über die eiskalten Öffentlich-Rechtlichen. Sollen wir die Bilder zeigen, fragt Deniz Yücel, in der Welt? Ja, wir sollen. Die BBC und die Washington Post zeigen, wie man mit den Videos umgehen kann. Der Streit setzt sich auch auf Berliner Straßen fort, protokolliert unter anderem die Berliner Zeitung. Spiegel online resümiert: 900 Israelis sind gezählt, die von den Hamas-Terroristen umgebracht wurden. Nicht nur Israel war abgelenkt, schreibt Ayaan Hirsi Ali in Unherd, wir waren es.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 10.10.2023 finden Sie hier

Politik

Auch diese Bilanz, die gestern Abend in Spiegel online veröffentlicht wurde, wird nicht der letzte Stand sein: "Nach dem Großangriff der Terrororganisation Hamas aus dem Gazastreifen ist die Zahl der Toten in Israel laut Medienberichten auf 900 gestiegen. Wie das Pressebüro der Regierung mitteilte, wurden rund 2.600 Menschen verletzt. Allein im völlig zerstörten Kibbuz Beeri mit rund tausend Einwohnern wurden am Montag, dem ersten Tag der Suche, mehr als hundert Leichen geborgen, wie Medien unter Berufung auf Rettungskräfte meldeten."

Inzwischen gelangen auch immer mehr Bilder über die Massaker an die Öffentlichkeit: Menschen wurden verstümmelt, vergewaltigt, erschossen, während andere drumherumstanden und "Allahu Akbar" johlten. Soll man das wirklich zeigen? Unbedingt, fordert Deniz Yücel in der Welt nach ausführlicher Abwägung: "Anders als der IS gilt die Hamas so manchem internationalen Staats- und Regierungschef als respektabel: Dazu zählen der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan, das iranische Staatsoberhaupt Ali Khamenei, der russische Außenminister Sergej Lawrow, der katarische Emir Tamim bin Hamad Al Thani. Die Liste ranghoher Politiker, die sich in den vergangenen Jahren mit Anführern der Hamas getroffen haben, ist lang. Zugleich konnten am Samstag manche Beobachter gar nicht schnell genug die Palästinenser zu den eigentlichen Opfern des Hamas-Angriffs erklären. Deshalb scheint es mir in der Abwägung geboten, in diesem Fall die abstoßenden Bilder zu verbreiten: um zu zeigen, mit welcher bestialischen Bande die israelische Gesellschaft konfrontiert ist."

Zornig fasst FAZ-Herausgeber Jürgen Kaube eine gewisse Bandbreite der Reaktionen auf die Hamas-Pogrome zusammen, manche sind niederträchtig, andere einfach "dumm: Das öffentlich-rechtliche Fernsehen, für das wir die 'Demokratieabgabe' (Jörg Schönenborn) zahlen, zieht Nahost-Experten heran, die seit Jahren für den Unfug bekannt sind, den sie verzapfen. Es legt einerseits die Stirn in Falten und fragt, was die Motive der Hamas seien, so als sei ihm der Begriff 'Judenhass' unbekannt. Andererseits blendet es Hinweise auf die Sendung 'Verstehen Sie Spaß?' in seinen Brennpunkt zum Terror ein. Wer verantwortet so etwas? Wer ist so abgestumpft, die Geschmacklosigkeit dieses 'The games must go on' nicht zu erkennen? Den Mut, eine solche Sendung aus gegebenem Anlass auszusetzen, finden die Hüter der Demokratie in den Intendantenbüros jedenfalls nicht, wohingegen sie sofort mit Sondersendungen zur Hand sind, wenn jemand Prominentes aus dem eigenen Personal stirbt. Hier geht die Dummheit ins Erbärmliche über."

Ein deutscher Diplomat wies der Hamas den Weg. Vor ein paar Monaten zeigte der deutsche Diplomat Sven Kühn von Burgsdorff den verblüfften Einwohnern von Gaza, wie man sich mit einem Paraglider fortbewegt: "Once you have a free Palestine, a free Gaza, you can do exactly the same thing."


FAZ-Korrespondent Christian Meier hatte Burgsdorff, der sich gerade in den Ruhestand verabschiedet hat, noch vor einem Monat als "scharfen Kritiker der israelischen Besatzung" gefeiert und interviewt: "Wir müssen viel deutlicher mit Israel reden", hatte er empfohlen.

Leon de Winter wird in der NZZ übel angesichts der Versuche "ausgewogen" zu berichten, indem man die Hamas nicht Mörder und Terroristen nennt, sondern "Kämpfer" und den Gazastreifen ein "Gefängnis": Gaza ist "seit 2005 ein unabhängiger Stadtstaat ohne Juden oder israelische Soldaten. Die Entscheidung, Gaza zu einer terroristischen Festung zu machen, ist die Entscheidung von Islamisten, die es nicht nötig haben, ein nahöstliches Singapur zu errichten, wo doch Gaza ideal zwischen Israel und Ägypten liegt und schöne Strände oder bunte Märkte hat. Das tyrannische Gefängnis Gaza wurde von der Hamas und nicht von Israel errichtet. Die Hamas hat den Gazastreifen seit 2005, nach dem vollständigen Rückzug Israels, zu einem Stützpunkt des Terrors ausgebaut. Es glaube niemand die Lüge, Gaza sei ein Gefängnis für jeden Palästinenser. Wer die richtigen Verbindungen hat, geht über Ägypten in den Urlaub und bereist die Welt. Die reiche und korrupte Oberschicht lebt dort in riesigen Villen, besucht luxuriöse Einkaufszentren und genießt die Strandrestaurants. Schauen Sie sich die Tweets von @imshin an, der den extremen Reichtum in Gaza in seinen Videos aufdeckt."

Susanne Memarnia und Uta Schleiermacher versuchen in der taz zu klären, um wen es sich bei dem propalästinensischen Netzwerks "Samidoun" handelt, das am Samstag aus lauter Freude an den barbarischen Morden Bonbons auf der Sonnenallee verteilten: "Neuköllns Bezirksbürgermeister Martin Hikel (SPD) hatte sich bereits vor Monaten für ein Verbot des Netzwerks ausgesprochen. Am Wochenende, noch unter dem Eindruck der Provokationen auf der Sonnenallee, forderte er Bildungsangebote und Begegnungen an Schulen langfristig zu verstärken und auszuweiten. 'Wir müssen prüfen, wie wirksam bisherige Projekte zur Prävention sind', sagte er."

In der SZ kann Ronen Steinke einfach nicht verstehen, dass der Rechtsstaat Gruppen wie Samidoun gewähren lässt: "Für Terrorverherrlicher, die eine mörderische Attacke auf Zivilisten jedes Alters und Geschlechts in Israel zum Anlass nehmen, auf deutschen Straßen Baklava zu verschenken, ist exakt der Strafparagraf 'Billigung von Straftaten' geschaffen worden. Ihnen droht demnach: Gefängnisstrafe bis zu drei Jahren. Für deutsche Ermittler ist dieser Paragraf ein Auftrag, den es ernst zu nehmen gilt. Umso mehr, als Polizei und Staatsanwaltschaft in früheren Jahren tatenlos zusahen, wenn Gaza-Demonstranten in Berlin etwa skandierten: 'Hamas, Hamas, Juden ins Gas'." Auch Steinke fordert ein Verbot von Samidoun.

An den Schulen in Neukölln geht es allerdings auch nicht so idyllisch zu, meldet unterdessen der Tagesspiegel: Am Ernst-Abbe-Gymnasium in Berlin-Neukölln kam es zu einem Zwischenfall. Ein 14-Jähriger erschien eingewickelt in eine palästinensische Fahne auf dem Schulhof. "Ein Lehrer habe ihm das Tragen der politischen Symbole verbieten wollen. Daraufhin sei es zunächst zu verbalen Streitigkeiten gekommen, bis sich ein 15-jähriger Mitschüler einmischte und dem Lehrer einen Kopfstoß versetzte. Den Polizeiangaben zufolge habe der 61-Jährige den Schüler daraufhin geschlagen. Schließlich habe der 15-Jährige dem Lehrer in den Bauch getreten." Die Polizei Berlin protokolliert auf Twitter: "Alarmierte Einsatzkräfte nahmen die Personalien aller Beteiligten für die Strafanzeigen auf."

Erste Zahlen zeigen zudem, "dass die Stimmung im Bezirk und auch in ganz Berlin angespannter, gereizter, gewaltbereiter wird. Und antisemitischer", berichten Andreas Kopietz, Niklas Liebetrau und Cedric Rehmant in der Berliner Zeitung. "Bei der Recherche- und Informationsstelle Antisemitismus (Rias) häufen sich seit Sonnabend die Meldungen über Beleidigungen und Bedrohungen gegenüber Juden sowie Terrorverherrlichung. Man habe seit dem Wochenende ein deutlich höheres Meldeaufkommen, sagte eine Mitarbeiterin am Montag. Unter anderem häufen sich antisemitische Farbschmierereien und Parolen im Stadtbild. Nach Angaben von Polizisten entdeckte der Leiter einer Schule in der Pankower Dunckerstraße am Sonntag 15 Schriftzüge in unterschiedlichen Größen und Farben wie etwa 'Scheiß Zionisten' und 'free palestine'. An der Kösliner Straße in Wedding wurden fünf Häuserfassaden beschmiert mit 'Deutschland finanziert, Israel bombadiert'. In der Schlüterstraße in Charlottenburg schrieb jemand mit weißer Farbe 'Fuck Israel' auf die Fahrbahn."

Auch in der Kunstwelt gibt es Jubel über den Terror der Hamas, wie Boris Pofalla in der Welt feststellt. Mehr in efeu.

Clanchef Abou Chaker hat ebenfalls schon seine Solidarität mit seinen Brüdern von Hamas erklärt:


Und weiß sich darin einig mit dem bei deutschen Intellektuellen beliebteren Netzwerk BDS:


Immer mehr Spuren weisen in den Iran, berichtet die FAZ: "Wie das Wall Street Journal unter Berufung auf mehrere Kader irantreuer Gruppen wie Hamas und Hizbullah berichtete, sollen die iranischen Revolutionswächter bei den Planungen geholfen haben. Die iranischen Militärs sollen demnach sogar im Zuge eines Treffens in der libanesischen Hauptstadt Beirut Anfang vergangener Woche grünes Licht für den Angriff gegeben haben. Von Treffen in Beirut, an denen Kader des iranischen Regimes und seiner arabischen Bundesgenossen teilgenommen haben, liegen auch aus anderen Quellen Berichte vor. "

In der New York Times ruft Shimrit Meir, Chefberater des ehemaligen israelischen Preministers Naftali Bennett, die Israelis zur Einigkeit auf: "Diese tragischen Ereignisse haben einen Protagonisten: die Hamas. Aber es gibt zwei große blinde Flecken auf israelischer Seite, die uns daran gehindert haben, zu erkennen und zu verhindern, was wir hätten sehen müssen. Der erste ist die Politik, den Feind zu beschwichtigen, in der Hoffnung, dass die Hamas schließlich aus ihrem dschihadistischen Ursprung herauswachsen würde. Stattdessen ist der militärische Flügel der Hamas gewachsen - von einer kleinen Organisation zu einer mächtigen Armee. Unser zweiter blinder Fleck war, dass wir uns von unseren internen politischen Differenzen aufzehren ließen, die uns von den äußeren Bedrohungen ablenkten und sowohl unsere Gesellschaft als auch, was besonders wichtig ist, die Armee spalteten."

Israel war durch seine internen Streitigkeiten abgelenkt, allerdings, schreibt Ayaan Hirsi Ali bei Unherd. Aber auch Amerika ist durch internen Streit gelähmt, und der "Westen" nicht weniger: "Infolgedessen sind viele Menschen nicht in der Lage, sich auf die wenigen Fakten in diesem endlosen Konflikt zu einigen, die klar sind: dass die Hamas mehr von ihrem Hass auf jüdische Menschen angetrieben wird als von ihrer Liebe zu den Palästinensern; dass die Hamas routinemäßig Palästinenser tötet, foltert und verfolgt, die Frieden mit Israel suchen; dass die Hamas, lange bevor sie mit toten Körper israelischer Frauen durch ihre Straßen paradierte, palästinensische Kinder als menschliche Schutzschilde benutzte."

Netanjahus Politik der reinen Krisenverwaltung funktioniert nicht, das ist jetzt klar, erklärt Richard C. Schneider auf Spon. Seine Förderung des Siedlungsbaus im Westjordanland - der Schutz durch Truppen verlangte, die nun in Gaza fehlten - und seine Spaltung der israelischen Gesellschaft führten dazu, dass die Kampfkraft der Armee zu leiden begann, "schlimmer noch: Die Feinde Israels beobachteten genau, wie sich Israel innenpolitisch selbst zerlegte. Die Wahrscheinlichkeit, dass irgendjemand in der Nachbarschaft Israels diese Situation ausnutzen würde, war groß. Genau davor hatten die Militärs Angst. Wie desinteressiert Netanyahu war, zeigte sich Anfang Juli, als kurz vor der Verabschiedung eines ersten Gesetzes der Justizreform Generalstabschef Herzl Halevi seinen Premier in der Knesset aufsuchte, um ihn über die Sicherheitslage zu briefen. Netanyahu weigerte sich, vor der Abstimmung für das Gesetz mit Halevi zu reden."

"Israel wird nie wieder sicher sein, wenn es sich nur auf Gewalt und militärische Mittel verlässt", warnt auf Zeit online die israelische Soziologin Eva Illouz, die auch das Versagen der israelischen Streitkräfte auf Netanjahu zurückführt: "Im September 2022 waren 22 Armeebataillone in dem schmalen Gebiet des Westjordanlands stationiert. Weitere drei Bataillone wurden aus der südlichen Region - der, in die die Terroristen der Hamas und des Islamischen Dschihad eingedrungen sind - ins Westjordanland verlegt, um Siedler zu beschützen, die das Gesetz brechen und Palästinenser schikanieren. Oder einfach nur, weil die Siedler beten. Anders gesagt: Ganze Bevölkerungsgruppen blieben ohne angemessenen Schutz, weil Militäreinheiten verlegt wurden, um die jüdische Bevölkerung in den Siedlungen zu schützen. Der Schluss ist unausweichlich: Die Macht, mit der der Ministerpräsident und seine Koalition so beschäftigt waren, stand für sie an oberster Stelle, nicht Israels Sicherheit."

Dass die Ereignisse nicht nur in Israel interne Differenzen krass zu Tage treten lassen, zeigt allerdings ein Twitter-Post von Yascha Mounk:


Eines der vielen Videos, die immer noch auf Twitter zirkulieren. Emily Schradr von Ynetnews postet ein Videos, das von Terroristen selbst stolz ins Netz gestellt wurde.

Da auf Twitter auch viele Fakenews gezeigt werden, hier der Hinweis auf diese Seite der BBC, die Handyvideos aus den letzten Tagen verifiziert.

Auch die Washington Post zeigt, wie solche Videos analysiert werden müssen:


Im Interview mit Spon wagt der amerikanische Nahostexperte Aaron David Miller keinen Vorschlag mehr, wie dieser Konflikt beizulegen ist. Und doch: "Ich glaube, dass die einzige Lösung für diesen Konflikt, die den geografischen, demografischen, psychologischen und politischen Bedürfnissen der beiden Völker Rechnung trägt, eine Trennung durch Verhandlung ist. Ist es eine Konföderation? Ist es eine - ich weiß gar nicht, welchen anderen Begriff ich dafür finden kann. Am Ende wird es eine Zweistaatenlösung sein, warum soll ich den Ausdruck vermeiden? Denn am Ende bietet der Nahe Osten kein einziges Beispiel dafür, wie man zwei nationale Bewegungen mit sich überlappenden religiösen Gebietsansprüchen ohne eine Trennung in Einklang bringen kann. Zypern, Libanon, der Irak - das alles sind gescheiterte Bemühungen, nationalen und konfessionellen Gruppen entgegenzukommen. Ich sehe keine andere Möglichkeit als eine Trennung durch Verhandlungen."
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