9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Mai 2023

Die Autokratie gewann, die Demokratie verlor

31.05.2023. Wer hat gewonnen in der Türkei? Die Hizbullah, die Mafia, die Paschas und die Autokratie, notiert Bülent Mumay in der FAZ. Die Welt fordert, jede Zusammenarbeit mit der Ditib aufzugeben und die doppelte Staatsbürgerschaft zu überdenken. Viele Türken sehnen sich nach einem Übervater, erklärt sich in der NZZ der Schriftsteller Nedim Gürsel den Wahlerfolg Erdogans. In der SZ fordert Gesine Schwan eine neue Flüchtlingspolitik: mit Registrierzentren und Kommunen Matching-Systemen. Im Interview mit dem Tagesspiegel rät der Hongkong-Aktivist Nathan Law der EU, aus dem Ukrainedebakel zu lernen und ihre Abhängigkeit von China zu verringern.

Schüsse hallten durch die Nacht

30.05.2023. Depression nach der zweiten Runde der türkischen Wahlen. Während Erdogan-Anhänger in der Türkei und Deutschland nicht ohne Aggression feiern, annonciert Jürgen Gottschlich in der taz "mehr vom Gleichen - mehr Moscheen, mehr Repression, mehr Beton und mehr Abhängigkeit von Putin und den Potentaten am Golf". Für die starke Segregation der türkischen Community in Deutschland ist auch die deutsche Gesellschaft verantwortlich, sagt Necla Kelek in der Welt. RBB und MDR reflektieren den immer integrierteren Rechtsextremismus in den neuen Ländern. Ines Geipel fragt sich in der FAZ angesichts modischer DDR-Verharmlosung, ob die Aufarbeitung der SED-Diktatur gescheitert ist.

Schock über das Nichtgeliebtwerden

27.05.2023. In der Welt annonciert Michel Houellebecq seine Läuterung, vor allem in Sachen Islam: Es ist vielleicht doch nicht die Religion, die Menschen zu Mördern macht. Die NZZ moniert die Boulevardisierung der Medien durch MeToo. Ebenfalls in der NZZ glaubt Francis Fukuyama, dass die Ukraine nie sicher sein wird, solange Wladimir Putin an der Macht ist. In der taz bemerkt die Sinologin Susanne Weigelin-Schwiedrzik leichte Differenzen zwischen Russland und China in Bezug auf den Führungsanspruch in der Welt.

Warum botanische Gärten, aber keine Zoos?

26.05.2023. Über die ausgebuhte Claudia Roth gibt es nun doch noch Diskussionen. Wenn sie nach "Weltoffenheit"-Papieren und Documenta ohne ernsthafte Aussage vor die Jugendlichen der "Jewrovision" tritt, muss sie sich nicht wundern, meint Zentralratspräsident Josef Schuster in der Jüdischen Allgemeinen. Sie muss halt zwischen den Ansprüchen der jüdischen Gemeinde und den Gewissheiten der internationalen Kunstszene lavieren, findet Zeit online. Die Deutschen sollen ihr Dekolonisierungstheater aufgeben und nicht jammern, wenn die Nigerianer mit den Benin-Bronzen machen, was sie wollen, meint Carola Lentz, Präsidentin des Goethe-Instituts in der FR. Die FAZ zählt die Reichen in Großbritannien.

Nicht einmal als Foto

25.05.2023. Wenn Erdogan bei den Wahlen in die Bredouille geriet, dann wegen seines Flüchtlingsdeals mit der EU, schreibt Bülent Mumay in seiner jüngsten FAZ-Kolumne. Außerdem geht es auch viel um China: Peter Sloterdijk fragt sich in der Rheinischen Post, wie man die Chinesen davon abbringen kann, vier Milliarden Tonnen Kohle pro Jahr zu verfeuern. Der Tagesspiegel zweifelt, ob die Chinesen zu künstlicher Intelligenz fähig sind.

Ein Exempel ist statuiert

24.05.2023. SZ und NZZ beugen sich über den Tweet der an einer Polizeihochschule "interkulturelle Kompetenz" lehrenden Dozentin Bahar Aslan, die ihrer Angst vor der Polizei und dem "braunen Dreck" in den Sicherheitsbehörden Ausdruck verlieh. Die FAZ wundert sich, dass Claudia Roth sich wundert, dass sie bei der "Jewrovision" ausgebuht wurde. Die SZ möchte deutschen Erdogan-Fans genauso entschlossen gegenübertreten wie AfD-Anhängern. Frauen hierzulande sollten ihre Opferrolle ablegen, um die Emanzipation zu vollenden, fordert die Philosophin Svenja Flaßpöhler in der NZZ.

Ich kann die Gefahr spüren

23.05.2023. Der Guardian überlegt, warum die Konservativen in Griechenland so erfolgreich sind bei den Wählern, trotz der Proteste in den letzten Monaten. Nie gab es so viel Immigration in Britannien wie nach dem Brexit - jetzt sind nur kaum noch Europäer dabei, stellt der Spectator fest. Die FAZ erzählt, wie der Iran das Kopftuchtragen überwacht. In zehn, zwanzig Jahren könnte es vorbei sein mit Israel, fürchtet in der NZZ Richard C. Schneider.

Eine Kontinuität der Gewalt

22.05.2023. In der NZZ erklärt die Theaterwissenschafterin Maryam Palizban, wie das iranische Regime selbst bei exilierten Frauen "immer seine Hand auf unserem Kopf" behält. In der FAZ protestiert der Historiker Dierk Hoffmann gegen den Wessi-Kritiker Dirk Oschmann, der den  Begriff "Aufbau Ost" als Nazisprache darstellt. Im Spiegel wehrt sich die Autorin Anna Rabe gegen Katja Hoyers und Oschmanns DDR-Beschönigungen. SZ und Welt fürchten die Apokalypse oder gar Urheberrechtsverletzungen durch KI.

Die angebliche Ahnungslosigkeit

20.05.2023. Die taz erklärt, was Erdoganismus ist: Nationalismus, kombiniert mit Islamismus, und in der Türkei sehr erfolgreich. Asena Günal von der Istanbuler Kulturorganisation Anadolu Kültür erklärt in SZ, was in der zweiten Runde der türkischen Wahlen auf dem Spiel steht. Dass die Benin-Bronzen dem Oba von Benin übergeben werden, ist schon lange bekannt und nicht das eigentliche Problem, behauptet die Welt. "Das Buch taugt nichts", sagt Ilko-Sascha Kowalczuk der FAS über Katja Hoyers "Diesseits der Mauer".

Ziemliches Gerangel

19.05.2023. Der Streit um die Benin-Bronzen geht weiter. Wird schon alles gutgehen, antworten in der FAZ Hermann Parzinger und Barbara Plankensteiner auf die Ethnologin Brigitta Hauser-Schäublin, die fürchtet, dass die Bronzen im Palast und der Geschichtsversion des Oba von Benin untergehen. In der NZZ  wirft die Kulturhistorikerin Agnieszka Pufelska dem Humboldt Forum vor, den innereuropäischen Kolonialismus Preußens nicht mal wahrzunehmen. Die Zeitungen streiten außerdem über die Chancen einer ukrainischen Sommeroffensive. Und das Erinnern an 1848 in der Paulskirche überzeugte laut FAZ nur zu zwei Dritteln.

Nicht verraten, dass ich ein Roboter bin

17.05.2023. Welt und FAZ beschreiben die Angstkampagne, mit der Erdogan seine Niederlage bei den Wahlen in der Türkei für sich abwenden konnte, wenn auch nicht für seine Partei. Niemand hat so viel Angst vor dem Klimawandel wie die Deutschen und die Oberschicht, notieren die Ruhrbarone mit Blick auf die enorm zahlungskräftigen Unterstützer des "grünen Adels". In der SZ fordert die Ökonomin Charlotte Siegmann, Mitgründerin des Zentrums für KI-Risiken, mehr Regulierung von Künstlicher Intelligenz. Soll man heilige Bücher verbrennen dürfen, fragt hpd. Russland hat einen neuen Helden: den Denunzianten, schreibt Viktor Jerofejew in der FAZ.

Eine sehr aktive Diaspora-Politik

16.05.2023. Der Ausgang der türkischen Wahlen ist vor allem auch ein Schlag für Tausende politische Häftlinge des Regimes, deren Hoffnung auf Freilassung nun zerstoben ist, konstatiert die FAZ. Die Türkei ist im Grunde nach rechts gerückt, stellt die SZ fest. Und die Türken in Deutschland sind laut Stern so rechts wie immer schon. Der kenianische Präsident William Ruto äußerte sich laut Voice of Africa erstmals zu den 200 verhungerten Sektenmitgliedern der "Good News International Church". Im Iran sind in diesem Jahr bisher 209 Menschen hingerichtet worden, die deutsche Politik sagt nichts, schreibt Gilda Sahebi in der taz.

Gewaltvolle Zustände

15.05.2023. "Es ist niederschmetternd": Welt-Autor Deniz Yücel klingt in einem ersten Kommentar zu den türkischen Wahlen verzweifelt: Erdogan scheint zu gewinnen und wird sich nach dem zweiten Wahlgang womöglich noch mehr mit rechtsextremen und islamistischen Parteien verbünden. Zwei Autoren machen sich völlig unterschiedliche Gedanken über die Erosion der Fakten: Alain Finkielkraut fürchtet in der Welt ein Zeitalter der "Austauschbarkeit der Individuen". Peter Pomerantsev fragt im Observer, warum Autokraten, die die Wahrheit einst fürchteten, heute ihre Lügen stolz und offen verkünden. Aber er hofft auf ein Gegenmittel: die juristische Sanktion.

Erhebliches Berichterstattungsinteresse

13.05.2023. Morgen sind Wahlen in der Türkei: Nicht nur die taz macht sich Hoffnungen auf einen Sieg der Opposition - aber sie warnt auch vor Erdogans massivem Machtapparat. In der FAZ ruft die belarussische Autorin Eva Viežnaviec: "In Europa ist 2023 nicht ein Krieg im Gange, es sind zwei", denn auch gegen Belarus führe Putin einen stillen Krieg. Im Merkur-Blog geht Philipp Oswalt der Gesinnung des Stadtschloss-Spenders Ehrhardt Bödecker auf den Grund. In der FR wünscht sich die Soziologin Shalini Randeria eine globale Demokratiebewegung.

Wohl konnte sich niemand fühlen

12.05.2023. In der FAZ geht der Historiker Andreas Kötzing  der Geschichte eines Fotos nach, das in Medien und Schulbüchern als Dokument des Reichstagsbrands galt - und in Wirklichkeit ein Standbild aus einem Defa-Film von 1955 ist. Karl-Markus Gauß erklärt in der SZ, warum Gedenken gerade in dem Moment wichtig wird, in dem es keine überlebenden Opfer mehr gibt. In der Berliner Zeitung rechtfertigt sich Verleger Holger Friedrich für seinen Besuch in der russischen Botschaft. Die FAZ gibt Erdogans Herausforderer Kemal Kilicdaroglu in den türkischen Wahlen recht gute Chancen.

Der Boden ist trocken

11.05.2023. Die Ukrainer sind für Putin schon deshalb Nazis, weil sie nicht zugeben wollen, dass sie Russen sind, sagt der polnische Publizist Piotr Skwieciński in der FAZ. Nicht nur Gerhard Schröder und die üblichen Rinkslechten waren zu Gast beim russischen Botschafter, um zum "Tag des Sieges" anzustoßen, außerdem war ein gewisser Verleger namens Holger Friedrich da, um angelegentlich mit dem russischen Botschafter zu plaudern, berichtet der Tagesspiegel. In der Berliner Zeitung singt unterdessen Kai Diekmann Lobeshymnen auf Schröder und Putin. In der Zeit verteidigt Susanne Schröter sich und andere Teilnehmer ihrer Konferenz gegen Rechtsextremismusvorwürfe von Antirassisten.

Eine gewagte und riskante Siegestheorie

10.05.2023. In Berlin lud gestern die russische Botschaft zum "Tag des Sieges", berichtet die Berliner Zeitung. Gerhard Schröder, Klaus Ernst, Alexander Gauland und Tino Chrupalla feierten in trauter Eintracht. Für einen wirklichen Sieg der Ukraine gibt es nur einen Schlüssel, meint Timothy Garton Ash im Guardian, die Krim. In Zeit online plädiert Christian Bangel dafür, dass wir mehr Flüchtlinge aufnehmen, weil wir für die meisten Fluchtgründe verantwortlich und deshalb zur Hilfe verpflichtet seien. Es gibt keinen Nullpunkt der Geschichte, lernt Harry Nutt in der Berliner Zeitung aus der Diskussion um die Restitution der Benin-Bronzen.

Kontinuierlich negativ

09.05.2023. 40 Prozent der Serben lieben Russland, das wiederum nicht ganz sicher ist, ob es serbische oder sibirische Liebe bekommt, berichtet die taz. In der Berliner Zeitung fragt die Historikerin Susanne Heim, wer eigentlich eine Hierarchisierung historischer Gewaltphänomene wie Holocaust oder Kolonialismus braucht. Im Tagesspiegel fragt Anwalt Peter Raue, warum die Öffentlichkeit unbedingt wissen will, wer die anonymen Spender des Berliner Stadtschlosses sind. In der NZZ kritisiert der Historiker Michael Wolffsohn die Israelfeindlichkeit der Deutschen seit den 68ern.

Der Unterschied zwischen einem Palast und einem Museum

08.05.2023. Nun stellt sich heraus: Nur weil wir die Benin-Bronzen in Nigeria abgeliefert haben, ist der Streit um sie noch längst nicht zu Ende. Macht doch nichts, wenn der Staat Nigeria die Bronzen einfach dem Oba übereignet, findet die SZ. Die FAZ sieht das anders: Der Nachfahr der Benin-Könige wolle auch eine bestimmte Geschichtsversion durchsetzen. Die Grünen finden die Kritik daran laut Welt rückwärtsgewandt. A propos Geschichtsversionen: Die taz bringt ein Dossier zum 8. und 9. Mai. Der Guardian erklärt, warum Putin vor morgen Angst hat. In der SZ beharrt Josef Schuster darauf, dass Israelkritik antisemitisch ist, wenn sie auf eine Auslöschung des jüdischen Staates hinausläuft.

Ein Sieg ist ein Sieg

06.05.2023. Das Krönungsspektakel ist eröffnet: Niemand kann Staatspomp besser als die Briten, tröstet sich Marina Hyde im Guardian, auch nicht die Polen, die im Jahr 2030 einen höheren Lebensstandard haben werden. In der FAZ meldet die Ethnolognin Brigitta Hauser-Schäublin entsetzt, dass Nigeria die Benin-Bronzen dem alten Königshaus überlassen hat. In der NZZ erschauert Irina Rastorgujewa vor der grotesken russischen Wirklichkeit. Die FAZ schildert, wie sich Frankreichs Milliardäre Zeitungen zuschieben und kritische Redakteure vom Hals schaffen. Die taz verabschiedet Vice, das Zentralorgan der Millennials und Hipster, dessen Gonzo-Journalismus auch am Kapitol endete.

Ein laut und deutlich gesprochenes "Stopp!"

05.05.2023. Morgen ist Krönung. Den Medien ist teils feierlich zumute, teils gar nicht. Golem.de empfiehlt: Charles III. sollte sich nicht von den Pixies wecken lassen. Die Welt erzählt, wie Barack Obama gegen ein üppiges Honorar peinliche Fragen umgeht. Anhänger der Cancel Culture bestreiten, dass es sie gibt, heute Hadija Haruna-Oelker in der FR. Ebendort rät Felix Klein von Boykotten ab. In der SZ nimmt der Autor Norbert F. Pötzl Katja Hoyers DDR-Geschichte "Beyond the Wall" auseinander.

Nur eine vermeintliche Stabilität

04.05.2023. Die Zeit berichtet, wie Alexej Nawalny in Putins Gefängnissen gequält wird. Dass sich Gerhard Schröder von Putin derart schmieren ließ, erscheint im nachhinein noch obszöner, meint Joachim Gauck im Tagesspiegel. Mathias Döpfner macht nicht nur als Romanfigur keine gute Figur, auch das Leistungsschutzrecht, das er für die deutschen Zeitungen erkämpfte, lässt laut golem.de zu wünschen übrig. Die NZZ berichtet über die scharfe Diskriminierung von Muslimen in China. Zeit online recherchiert über Viktor Orbans Netzwerke in Deutschland.

Pilcherhaft schöne Stunden

03.05.2023. Heute ist Internationaler Tag der Pressefreiheit. Die taz hat ihm eine ganze Ausgabe gewidmet und berichtet unter anderem, wie der türkische Staat versucht, Journalisten für sich spionieren zu lassen. In Indien achtet die Regierung darauf, dass Journalisten und Wissenschaftler "hinduistische Gefühle" nicht verletzen, erzählt die FAZ. Die FR befürchtet, dass KI der Pressefreiheit den Rest geben könnte. In der NZZ erzählt Mario Vargas Llosa, wie in Peru Reporter angegriffen werden, die über sexuellen Missbrauch von Priestern berichten.  Die Welt versichert, Frauen müssen keine Angst haben: Auch nach dem neuen Selbstbestimmungsgesetz wären sie in ihren Frauensaunen sicher vor "bärtigen Rockern namens Lisa".

Der Made-in-Europe-Anteil eines Geschosses

02.05.2023. In der FAZ sieht der Osteuropahistoriker Martin Schulze Wessel den russischen Imperialismus bis zu Peter I. zurückreichen: Echte Verhandlungen im Ukrainekrieg sind erst nach Putin möglich, meint er. Die SZ ist entsetzt vom Bürokratismus der EU bei der Lieferung von Munition an die Ukraine. Dänemarks Gewerkschaftsführerin Lizette Risgaard muss wegen jahrelanger sexueller Belästigung jüngerer Männer zurücktreten, berichtet die taz. In der SZ beobachtet der Integrationsexperte Haci-Halil Uslucan eine Re-Ethnisierung der Deutschtürken, von denen überproportional viele Erdogan wählen würden.