9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Januar 2024

Keiner von ihnen hat je widersprochen

31.01.2024. Der 7. Oktober dominiert nach wie vor die Debatten. Und er stellt auch das Gedenken an den Holocaust in ein neues Licht, meinen Josef Schuster in der Jüdischen Allgemeinen und Rachel Salamander in ihrer Rede zum Moses-Mendelssohn-Preis. Auch die Nähe der auch von Deutschland finanzierten UNRWA zur Hamas ist weiter Debattenthema. Atlantic prangert die  totalitären Fantasien von Techno-Königen wie Mark Zuckerberg und Elon Musk an.

Gegen die Gottheit tritt man nicht an

30.01.2024. Die Russen verhalten sich wie Sklaven, die die Größe ihres Herren anbeten, notiert ein deprimierter Michail Schischkin im Gespräch mit der Welt. Was bei den Demos gegen die AfD viel zu wenig zur Sprache kam, ist, wer der eigentliche Pate des Rechtsextremismus in Europa ist, nämlich Wladimir Putin, meint Richard Herzinger in seinem Blog. In Polen werden jetzt auch die superrepressiven Abtreibungsgesetze der Kaczynski-Regierung geschleift, freut sich hpd.de.

Gegen eine Wand

29.01.2024. Die Welt notiert, wie sehr die Hamas davon profitiert, im Gegensatz zu Israel die Menschenrechtskonvention nicht unterzeichnet zu haben. Deutsche Menschenrechtler haben Strafanzeige gegen protürkische Milizenführer in Syrien erstattet, die sich mittels gezielter Vertreibungen, Folterungen und Erpressung bereichern, berichtet die taz. Netzpolitik bedauert den Abgang des Bundesdatenschutzbeauftragten Ulrich Kelber.

Die schöne Harmonie

27.01.2024. Wir sind verdammt dazu, mit der Hamas zu verhandeln, sagt David Grossman in der FAS. Derweil warnt der Internationale Gerichtshof vor einem Völkermord in Gaza - der Hamas gefällt das, weiß die Welt. Ebenfalls in der FAS fragt Michel Friedman, ob die "oft beschworene Erinnerungskultur" in Deutschland überhaupt stattfindet. Der Kampf gegen Antisemitismus im deutschen Kulturbetrieb werde immer "woker", klagt Deniz Yücel in der Welt. In der FR skizziert der Historiker Jens-Christian Wagner, wie die AfD das Tabu bricht, als Nazi zu gelten. Die Hürden für ein AfD-Verbot sind niedriger als angenommen, meint der der Verfassungsrechtler Andreas Fischer-Lescano in der taz.

Ausschließlich Wirklichkeiten

26.01.2024. In der Welt fürchtet der Politikwissenschaftler Asiem El Difraoui die Entstehung dschihadistischer Emirate in der Sahelzone. In Italien ist der Antisemitismus so stark geworden, dass man das Erinnern am Holocaust-Gedenktag lieber den Nichtjuden überlassen möchte, berichtet die FAZ. Der Tagesspiegel zählt die zerstörten Kulturstätten in Gaza. Der Dlf berichtet, wie bei den Corona-Hilfen in der Kulturbranche getrickst wurde. In der SZ konstatiert der Soziologe Hartmut Rosa eine Ablehnung der Leitmedien auch im akademischen Milieu.

Zögern und Taktieren

25.01.2024. Zeit und SZ lernen in Polen, wie schwierig es ist, ein illiberales System mit legalen Mitteln zurückzu bauen. Bei Spon warnt Sascha Lobo davor, Rechte und Konservative in einen Topf zu werfen. Die Linke braucht einen Plan, erkennt der Journalist Vincent Bevins, der über erfolgreiche Demonstrationen hinaus reicht. Im Tagesspiegel begrüßt Meron Mendel das vorzeitige Aus für die Berliner Antidiskriminierungsklausel, fordert aber mehr Widerstand gegen BDS in den Kulturinstitutionen.

Nicht nur das Leben von Kühen schützen

24.01.2024. Im Spiegel fordert Aleida Assmann, die Erinnerung an die Nakba in der deutschen Erinnerungskultur zu verankern. Im Guardian skizziert Timothy Garton Ash, wie schwierig es für Donald Tusk ist, die Demokratie in Polen wiederherzustellen. Demokratien sind "uns nicht von Natur aus gegeben", meint indes Timothy Snyder, der auf Zeit Online daran erinnert, dass wir auch an die Rechtsstaatlichkeit glauben müssen. Ebenfalls auf Zeit Online fragt Vanessa Vu, warum so wenige Stimmen von Migranten bei den Anti-AfD-Protesten zu hören waren. FAZ und taz denken weiterhin über Für und Wider der Antidiskriminierungsklausel nach.

Reformwillig, aber nicht reformfähig

23.01.2024. Die Proteste am Wochenende galten nicht nur der AfD, sondern dem Rechtsruck, sagt Luisa Neubauer in der taz. Der "Antifaschismus" der Proteste ist wohlfeil, meint Thomas Schmid in der Welt. Der Berliner Kultursenator Joe Chialo lässt die Antidiskriminierungsklausel fallen, melden die Zeitungen. In der FAZ schreibt Dan Diner über die Gründung Israels. In der FR erklärt Christoph Menke, warum die Hamas nicht von Freiheit reden kann.

Schockierend, aber nicht schockierend neu

22.01.2024. "Da hat sich etwas ein Ventil gesucht", resümiert die taz nach den riesigen Demos am Wochenende, aber was genau? Viel kommt darauf an, wie lange Xi Jinping und Putin noch leben, sagt Russlandexperte Alexander Gabujew in der NZZ: je länger, desto enger die russisch-chinesische Freundschaft. Fania Oz-Salzberger zeichnet auf Twitter einen radikalen Stimmungsumschwung in Israel nach dem 7. Oktober nach. Joe Biden reagiert auf Twitter humorvoll auf Donald Trumps Aussetzer.

Eine ominöse Substanz

20.01.2024. Die Bilder aus Hamburg und anderen Städten sind beeindruckend: Endlich wird gegen Rechtsextremismus demonstriert, freut sich die taz: "Es geht um die Frage, auf welcher Seite man steht." Auch der Rabbiner Pinchas Goldschmid, der aus Moskau emigriert ist und den Karlspreis bekommen wird, bekennt laut der Jüdischen Allgemeinen seinen Stolz, auf der richtigen Seite der Geschichte zu stehen. Viel diskutiert wird über das neue deutsche Staatsbürgerschaftsrecht - die FAZ ist kritisch, der Tagesspiegel freut sich. Und Joschka Fischer redet in der Augsburger Allgemeinen Klartext über Israel und über Deutschland.

Wenn das keine intellektuelle Scheinheiligkeit ist

19.01.2024. In der SZ prangert eine desillusionierte Eva Illouz die Beschönigungen linker Autorinnen wie Judith Butler an. In Debatte um Migration und Klimawandel wird der Elefant im Raum meist beschwiegen, meint Daniele Dell'Agli im Perlentaucher: die Demografie. Miriam Rürup im Tagesspiegel und Ronen Steinke in der Jüdischen Allgemeinen plädieren für ein Verbot der AfD. In der Welt gratuliert Viktor Jerofejew dem "Pionier der kommunistischen Dummheit" Wladimir Iljitsch Lenin zum hundertsten Todestag.

Augenmaß und auch etwas Mut

18.01.2024. In der FAZ erinnert Alexander Estis Masha Gessen, Deborah Feldman und Susan Neiman daran, dass Gedenkkultur in erster Linie den Toten gilt und nicht der Erziehung der Lebenden. Die SZ freut sich über die Anti-AfD-Demos, auch der Soziologe Nils C. Kumkar, der die AfD darauf festnageln willl, dass man nicht ein bisschen rechtsextrem sein kann. Auch links tut sich was: Der Wokeismus hat seinen Peak überschritten, glaubt die Zeit. Weniger Antidiskriminierungsklauseln und mehr Mut zur Auseinandersetzung fordern der Tagesspiegel und die Philosophie-Professorin Maria-Sibylla Lotter im Interview mit der Zeit.

Die Substanz von Demokratie und Rechtsstaat

17.01.2024. Populismus ist "kein politischer Stil", mahnt der Historiker Christian Lotz in der FR, sondern erstarkt, wenn man gesellschaftliche Probleme ignoriert. In der Jüdischen Allgemeinen erzählt Alon Nimrodi, Vater einer Geisel, von hundert Tagen Hölle. Spon berichtet von einem hämischen Ratespiel der Hamas über die Überlebenschancen der israelischen Geiseln. Die Bauernproteste zeigen: man muss romantische Vorstellungen von der Landwirtschaft ablegen, fordern die Ruhrbarone. Warum sind alle überzeugt das Richtige zu tun, aber niemand ist zufrieden, fragt der Schriftsteller Etgar Keret in der SZ.

Das Aufmerksamkeitsprivileg

16.01.2024. "Er ist wieder da", ist die Überschrift zum FAZ-Essay von Dan Diner. Gemeint ist der Antisemitismus, besonders hässlich heute in seiner postkolonialen Form. In der NZZ erzählt Ernst Piper, wie zynisch die Briten vor der Gründung Israels Nahostpolitik machten. In der SZ blickt der Historiker Volker Weiß auf die Geschichte des Begriffs "Remigration". Mehrere Medien widmen sich dem bereits vermissten Hamburger Institut für Sozialforschung.

Postmoderne ohne Moderne

15.01.2024. In der FAZ beschreibt Irina Rastorgujewa die Post-Realität in Russland, an der auch die kommenden "Wahlen" nichts ändern werden. Außerdem meldet die FAZ die annoncierte Schließung des Hamburger Institut für Sozialforschung 2028. In der SZ fordert der Historiker Norbert Frei auch von der AfD eine Ethik des Erinnerns ein. In Südafrika droht der ANC wegen seiner Korruption erstmals die Wahlen zu verlieren, dafür konnte in Guatemala die Zivilgesellschaft ihren Präsidenten gegen eine korrupte Oberschicht erfolgreich verteidigen, berichtet die taz. Auf Spon fragt die Präsidentin des Goethe-Instituts, Carola Lentz, ob Kultur wirklich demokratiefördernd sein muss, um gefördert zu werden.

Mit Worten statt Waffen

13.01.2024. Die FAZ wirft den demokratischen Parteien vor, in Bezug auf Migrationspolitik ein ähnliches Programm wie die AfD zu vertreten. Der Iran will gar keinen Krieg mit Israel, glaubt die Islamwissenschaftlerin Katajun Amirpur in der FR. Fania Oz-Salzberger hat in der FAS derweil Hoffnung für die Zukunft der israelischen Protestbewegung, aber nicht für die von Netanjahu. Philipp Peyman Engel wirft den deutschen Medien in der NZZ ihr jahrelanges Schweigen über Antisemitismus vor.

Der sogenannte Binnenkonsens

12.01.2024. Die SZ denkt nach den neuesten Enthüllungen nochmal über ein AfD-Verbot nach. Wie antisemitisch müssen Feministinnen sein, die die Verbrechen der Hamas an Israelinnen leugnen, fragt Deborah Lipstadt im Guardian. Ein Bekenntnis gegen Antisemitismus, wie es in der Berliner Antidiskriminierungsklausel gefordert wird, könnte zur Provinzialisierung der deutschen Kulturszene führen, fürchtet die SZ. Bernd Stegemann ist kein Linker mehr, bekennt er in der Welt. Und: FAZ und taz begrüßen das Ende des Placebo-Effekts auf Krankenschein.

Verdächtig zugespitzt

11.01.2024. Correctiv zeigt auf, dass die AfD noch extremer rechts ist als sie selber zugibt. taz und Zeit werfen unterschiedliche Blicke auf die Antidiskriminierungsklausel des Berliner Kultursenators Joe Chialo, die eine kontra, die andere pro. Inzwischen kursiert gar ein "Strike Germany"-Aufruf, der wegen mangelnden israelbezogenen Antisemitismus' Deutschland boykottieren will. SZ und FAZ fragen, ob die postkoloniale Linke tatsächlich so dumm ist oder hier nur persifliert wird. Die SZ zeigt, welche Auswirkungen KI schon jetzt auf die Filmbranche hat.

Keine evangelischen Biker

10.01.2024. Die Palästinenser in Gaza erleben eine zweite Nakba, sagt der Historiker Tom Segev im FR-Gespräch, in dem er ein sofortiges Ende des Krieges fordert. Die Kultur ist ein Teil des Antisemitismusproblems, konstatiert DHM-Chef Raphael Gross in der Berliner Zeitung. Der Tagesspiegel resümiert indes die Kritik am Vorschlag der CDU, die Antidiskriminierungsklausel auch auf die Wissenschaft auszuweiten. In der Welt glaubt Henryk Broder nicht an härtere Strafen für antisemitische Straftaten.

Hohes Maß an inhaltlichen Gemeinsamkeiten

09.01.2024. Im Tagesspiegel fordert Francis Fukuyama Waffenstillstand in Nahost. In der Welt widerspricht Michael Wolffsohn seinem Kollegen Moshe Zimmermann, der in Haaretz behauptet hatte, die "zionistische Lösung" sei gescheitert. Die Zweistaatenlösung dient nur dem Nationalismus, glaubt in der SZ der israelische Schriftsteller Tomer Dotan-Dreyfus. Ebenfalls in der SZ fordert Ronen Steinke Anklagen aus Den Haag sowohl gegen den Militärführer der Hamas als auch gegen "Hetzer" im Kabinett Netanjahus. In der taz ermuntert der Sozialwissenschaftler David Begrich zum Kampf gegen die AfD.

Glatteis der Instrumentalisierung

08.01.2024. Streit in Berlin. 4.000 Künstler wenden sich gegen eine von Kultursenator Joe Chialo geplante Antidiskriminierungsklausel, die Voraussetzung für eine Förderung werden soll: genauer gesagt geht es eigentlich nur um die Frage, ob es israelbezogenen Antisemitismus gibt, und zwar speziell in der Kunst. Ja, meinen Tagesspiegel und Welt. Die SZ macht sich dagegen Sorgen um Deutschland. Die FAZ fragt, was BDS ist. Die NZZ beleuchtet den polnischen Kulturbetrieb, wo die von der PiS-Partei installierten Funktionäre noch auf Jahre hinaus das Sagen haben werden.

Denkt komplex, nicht in einem Narrativ

06.01.2024. In der FAZ betrachtet der Historiker Stephan Malinowski eine Urszene des Postkolonialismus: die Verteidigung des Nazi-Schlächters Klaus Barbie durch den linken französischen Anwalt Jacques Vergès: auch damals schon tobte die Manie des Vergleichs, stellt er fest. In der FR demonstriert Naomi Klein in der Spur Masha Gessens, wie das geht. Leander Scholz fürchtet in der NZZ, dass die von den "psychotischen Assassinen" in die Welt gesetzten Snuff Movies des 7. Oktober einen globalen Bürgerkrieg auslösen können. Einen Trost gibt es: Russland ist schwächer als es scheint, konstatieren taz und NZZ.

Schützengrabenkerzen

05.01.2024. In der Welt fragt Henryk Broder die Kontextualisierer: "Wie viele deutsche Menschen dürfte ein jüdisches Waisenkind umbringen, dessen Eltern oder Großeltern in einem deutschen Lager ermordet wurden?" In der FAZ erzählt der russische Schriftsteller Igor Saweljew, wie schon Schulkinder in die Kriegspropaganda eingespannt werden. Der Rücktritt der Harvard-Präsidentin Claudine Gay beschäftigt die Medien immer noch: Plagiat ist Plagiat, insistiert The Atlantic. Postkolonialismus ist differenziert, nur in den sozialen Medien nicht, beteuert der Postkolonialist Aram Ziai in der FR. Der Buchreport ist pleite, teilt er in seiner letzten Meldung mit.

Wenn es Krieg gibt, na gut

04.01.2024. Die Historikerin Fania Oz-Salzberger erklärt in der Zeit, wie schwer es ist, eine linke Israelin zu sein - vor allem angesichts einer "westlichen Linken, die uns verraten hat". Der Völkermord an den Herero wurde von deutschen Siedlern nach Kräften unterstützt, sagt der Historiker Matthias Häussler der SZ. Der 7. Oktober muss auch in Deutschland ein Weckruf sein, fordert Ahmad Mansour im Focus: Schluss mit dem "Rassismus der niedrigen Erwartungen". Die Tage der Demokratie sind aber ohnehin gezählt, meint Emmanuel Carrère in der NZZ.

Und dann gute Nacht!

03.01.2024. Aktuell gilt es, den Fokus vor allem auf muslimischen Antisemitismus zu legen, sagt der Berliner Antisemitismus-Beauftragte Samuel Salzborn in der taz. Die SZ warnt vor den katastrophalen Folgen einer Wiederwahl Donald Trumps für das demokratische Europa: Es drohe eine Situation wie 1938. Auch Richard Herzinger malt in seinem Blog aus, was passiert, wenn Trump regiert und Putin die EU angreift. Auf ZeitOnline beerdigt Can Dündar letzte Reste der Demokratie in der Türkei. Und in der FAZ sieht die Klimaforscherin Ricarda Winkelmann keinen Spielraum mehr in Sachen Klimakrise.

Außerhalb des Blickfelds zu den Ahnen

02.01.2024. Zeitenwende? Hat die SPD offenbar schon wieder vergessen, meint der Historiker Martin Schulze Wessel in der FAZ. Die SZ verneigt sich vor ihren neuen Ahnen im Grassi-Museum. Auf ZeitOnline sucht die Historikerin Juliane Fürst nach Analogien zwischen der Ukraine und Israel. Am Autoritarismus der arabischen Staaten ist der Konflikt mit Israel Schuld, glaubt der ägyptisch-australische Soziologe Amro Ali auf SpiegelOnline. Der Perlentaucher wünscht allen Leserinnen und Lesern ein Frohes neues Jahr!