9punkt - Die Debattenrundschau

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.

Januar 2023

Ganz ungrammatisch ist freilich der Stern

31.01.2023. Den Briten geht's gerade nicht gut, aber sie sind nicht wütend: Sie hatten ja ihren Willen, konstatiert die FAZ. Die SZ betrachtet mit Sorge das unheimliche Wachstum der putinistischen FPÖ. Der brasilianische Präsident Lula da Silva rät den Ukrainern in einer Pressekonfernz mit Olaf Scholz, den Frieden zu wollen, berichtet der Tagesspiegel. In der NZZ erklärt der Sprachwissenschafter Roland Kaehlbrandt, warum er nicht gern gendert.

Wenn er den Brei lobt

30.01.2023. Die Sowjetunion hat Russland nie verlassen, schreibt die Autorin Irina Rastorgujewa in der FAZ: Terror, Spitzelei, Denunziation, der ganze Repressionsapparat ist noch da. Putin ist nicht Hitler, Parallelen gibt es dennoch, sagt Heinrich August Winkler im Tagesspiegel. Die westlichen Eliten mögen diverser geworden sein, aber sind die Gesellschaften deshalb gleicher, fragt Kenan Malik im Observer. In der FAS wendet sich Ralf Fücks gegen das "zukunftsängstliche Schrumpfgermanien" der Klimaaktivisten. Die FAS recherchiert auch über den Terror iranischer Geheimdienste gegen deutsche Staatsbürger.

Wie schnell Extremismus wieder Fuß fassen kann

28.01.2023. Putins Krieg wird wohl "von der Mehrzahl der Russen unterstützt", schreibt der russische Ökonom  Wladislaw L. Inosemzew in einem düsteren Artikel für die NZZ. Im Spiegel hält die amerikanische Russlandexpertin Angela Stent Friedensverhandlungen mit Putin im Moment für sinnlos. Italien war das Labor für die heutige Konjunktur der "Strongmen", gewählter Autokraten, sagt die Historikerin Ruth Ben-Ghiat im Tagesspiegel. Erst explodierten beim RBB die Kosten für die Entlohnung seiner Spitzenfunktionäre, jetzt explodieren die Kosten für die Aufarbeitung des Skandals, berichtet die SZ.

Konflikte, die überhaupt nicht zu lösen sind

27.01.2023. Heute ist Auschwitz-Gedenktag. Die deutsche Vergangenheitsbewältigung ist reichlich selektiv, konstatieren die Osteuropahistorikerinnen Katja Makhotina und Franziska Davies im Tagesspiegel. In einem aufsehenerregenden Text für Zeit online widmet sich die Autorin und Dramaturgin Stella Leder der Verfolgung von Juden in der frühen DDR. Der Bundestag wird erstmals verfolgter Homosexueller und Lesben gedenken, berichtet die taz. In der SZ spricht  Amir Reza Koohestani über die iranische Revolution, die weniger einen radikalen Buch als Permanenz suche: "Deswegen ist es jetzt von so großer Dringlichkeit, auf die Frauen zu hören."

Mit drinstecken im Konflikt

26.01.2023. Kann es sein, dass Olaf Scholz, der wochenlang wegen seines Zögerns geschmäht wurde, sich nun mit der Leopard-Entscheidung als gewiefter Taktiker erwies? Die Medien sind jedenfalls froh, dass die Amerikaner durch ihre Zusage von Panzerlieferungen mit an Bord sind. Syrien ist vergessen:  Der Schriftsteller Khaled Khalifa schildert in der NZZ das düstere Leben in Aleppo. Chat GPT tendiert nach rechts, fürchtet die taz, nach links, fürchtet die FAZ.

Frauen als Frauen

25.01.2023. Die Lieferung von Leopard-Panzern ist ein Einschnitt - die Financial Times kann das Zögern Olaf Scholz' dabei durchaus nachvollziehen. Bei t-online.de schildert der Historiker Stéphane Courtois Putin als einen Mann des KGB. Die klassischen Anliegen des Feminismus sind auf gutem Wege, sagt Anne Wizorek in der taz. Was ihr jetzt noch fehlt, ist ein "Selbstbestimmungsgesetz", das "die Ideologie der Zweigeschlechtlichkeit" in Frage stellt. Dieser Feminismus scheint Frauen als Frauen überhaupt nicht mehr einzubeziehen, meint hingegen Holly Lawford-Smith bei Quillette.

Zugang zu den Fakten

24.01.2023. In der SZ beleuchtet der Völkerrechtler Philippe Sands die systematischen russischen Kriegsverbrechen in der Ukraine. In Belarus und selbst noch im Exil werden Journalisten von Lukaschenko, verfolgt, entführt und verhaftet, erklärt die Bürgerrechtlerin Swetlana Tichanowskaja in Politico. In  Zeit online bekennt der junge jüdische Autor Monty Ott seine Enttäuschung über linken Antisemitismus.

Auf der nach unten offenen Merkel-Skala

23.01.2023. Verschiedene Texte versuchen, sich ein Bild von Russland im Krieg zu machen: "Putinismus" ist das richtige Wort, um den Zustand des Landes zu beschreiben, meint Karl Schlögel in der Welt. "Der Krieg hat all unsere früheren Gewissheiten über uns selbst niedergerissen", schreibt Maria Stepanova in der FAZ. Nick Cohen betrachtet für sein Blog abstruse russische Rekrutierungsvideos. Spiegel und Zeit online beleuchten den traurigen Zustand der deutsch-französischen Freundschaft.

Er sucht sie wie im Wahn

21.01.2023. In der SZ erklärt Moskaus Oberrabbiner Pinchas Goldschmidt, warum er die Juden aufruft, Russland zu verlassen. Die NZZ kann auf keinen Putsch im Kreml mehr hoffen. Die FAS erzählt, wie nach der Verhaftung von Mafiaboss Matteo Messina Denaro über Sizilien ein Kübel Eiswürfel ausgeschüttet wurde. Die FAZ beobachtet, wie eisern im Westen Frankreichs der alte Kulturkampf um religiöse Symbole geführt wird. Und in der taz opponiert die Restitution Study Group dagegen, die einstigen Profiteure des Sklavenhandels mit der Rückgabe der Benin-Bronzen zu belohnen.

Die Kategorie "Frau", die vom Wegfall bedroht ist

20.01.2023. Es ist Deutschlands historische Verantwortung, Waffen an die Ukraine zu liefern, schreibt Timothy Garton Ash im Tagesspiegel. In der NZZ fragt Mario Vargas Llosa: Wann werden die Länder Lateinamerikas endlich aufhören, den Weg Kubas zu gehen? Warum offenbart sich der eine Gott nicht, zumal er allmächtig ist, fragt hpd.de. "Nichts als Leere" wird Putin hinterlassen, fürchtet Leonid Gozman in einer Nowaja-Gaseta-Beilage der taz.

Fortschreitende Polarisierung

19.01.2023. Putin könnte Belarus in seinen Krieg mit einbeziehen, allerdings darf er da nicht mit der Sympathie der Bevölkerung rechnen, sagt der ehemalige belarussische Diplomat Andrei Sannikow in der NZZ.  In Benin wird jetzt mit staatlicher Förderung die Voodoo-Religion wiederbelebt, berichtet die taz. Die Kirche braucht Hilfe vom Staat, um ihre Opfer zu entschädigen, sagt Gutachter Ulrich Wastl in der SZ. In der Berliner Zeitung antwortet Ahmad Mansour mit Engelsgeduld auf Behzad Karim Khani. In der Zeit erklärt Natan Sznaider, wie er nach der Mbembe-Moses-Documenta-Debatte aus der Illusion erwachte, es gebe hier für Antisemitismus keinen Raum.

Singt nicht den Koran bei meiner Beerdigung

18.01.2023. Die FR bringt Navid Kermanis Frankfurter Neujahrsrede - eine Hommage auf die Hingerichteten der iranischen Freiheitsbewegung. Die FAZ berichtet von der Gründung einer "Kulturfront Russlands" durch einige putinistische Kollaborateure aus der Kulturwelt wie den Schauspieler Nikolai Burljajew, den Filmemacher Andrei Kontschalowski und den Dirigenten Valery Gergiev. In der taz erklärt die Feministin Maren Smith, warum sie gegen das schottische Selbstbestimmungsgesetz ist.

Eine Art mentaler Humus

17.01.2023. Die Festnahme des Mafiabosses Matteo Messina Denaro  ist eine Befreiung für alle Sizilianer, schreibt Cinzia Sciuto bei Micromega. Die Ukraine ist nicht verpflichtet, ihren Mördern Konzessionen zu machen, antwortet der Philosoph Darrell Moellendorf in der FAZ auf Reinhard Merkel. Russland ist ein Failed State, und je eher der Westen das begreift, umso besser, meint der Politologe Janusz Bugajski in Politico. In der Menschheit überwiegt das Gemeinsame, sagt der Ethnologe Christoph Antweiler in hpd.de.

Schon die Dreigeschlechtlichkeit des Deutschen

16.01.2023. Unerhörte Fissuren notiert die SZ nach Lützerath bei den Grünen: Manche sind jetzt für Atomkraft. Die FAZ fragt: Muss amtlich gegendert werden? Die SZ fragt: Existiert Cancel Culture, und, wenn ja, ist sie ein Einzelfall? Die taz erinnert an die Besetzung des Ruhrgebiets durch französische  und belgische Truppen vor hundert Jahren - das Ruhr Museum Essen zeigt eine Ausstellung dazu.

Wiederholung des verlorenen Baus

14.01.2023. Man kann ja viel Schlimmes über den Kapitalismus sagen, aber ohne geht es irgendwie auch nicht, füchtet Wolfgang Merkel in der FR. Bei Libmod staunt Marko Martin über Oliver Nachtweys Totalitarismusbegriff. Die Berliner Zeitung antwortet auf einen FAZ-Artikel, der nicht mehr existiert. taz und FAZ machen sich Sorgen um die brasilianische Demokratie.

Es wird weniger Parkplätze geben müssen

13.01.2023. In der NZZ schildert Timothy Snyder, wie Putin mit seinem Krieg die russische Bevölkerung "reinigen" will. Ebenfalls in der NZZ beschreibt Grigori Judin das aktuelle Russland als ein faschistisches Regime. Die Menschenrechte sind nicht universell, sagt der britische Historiker Tom Holland in der FR. Die FAZ erzählt, wie innig deutsche Unis mit chinesischen Instituten zusammenarbeiten, dabei geht es auch schon mal um Überwachungstechnologien.

Ein echter Mangel an Toilettenpapier

12.01.2023. Die Silvesterkrawalle lassen die Zeitungen einfach nicht los. Tja, irgendwie waren es schon Jugendliche mit Migrationshintergrund, sagt der Neuköllner Bürgermeister Martin Hikel in der FAZ. Aber in Sachsen haben auch Nazis randaliert, notiert die taz. Die Polizei hat bei den Berliner Zahlen sowieso übertrieben, außerdem waren es "überwiegend Deutsche", meint die SZ. Und falls sie Migrationshintergrund hatten, hat es bestimmt nur soziale Ursachen, diagnostiziert Oliver Nachtwey in der FAZ. Außerdem trauern die Zeitungen um Christoph Stölzl .

Die Erziehung des unbewussten Genießens

11.01.2023. Karl Schlögel wirft im Tagesspiegel Reinhard Merkel Täter-Opfer-Umkehr vor, wenn dieser die Ukraine zu Konzessionen verpflichten will. Der Guardian porträtiert drei schwarze Tory-Mitglieder, die darauf verweisen, dass die Tories in ihren oberen Rängen um einiges diverser sind als Labor. In der Welt beklagt die Philosophin Tove Soiland, wie unglaublich rigide der queere Diskurs Sexualität heute verregelt. In der FAZ warnt der Jurist Peter Oestmann vor einer Personalisierung des Rechts im Gefolge der Diversitätsdebatten. Die Berliner Zeitung prophezeit einen neuen Historikerstreit - diesmal um afrikanische Geschichte.

Ein Störgefühl

10.01.2023. Offen rassistische Propaganda im Goebbels-Stil. 'Russkij mir' als Großdeutschland. Die Krim als Sudetenland: Michail Schischkin zieht in FAZ und Welt düstere Parallelen. Die Zeitungen betrachten mit Sorge die ungefestigte brasilianische Demokratie. Die SPK hat 99 Probleme, der Name ist nur eines davon, meint Klaus-Dieter Lehmann  in der FAZ. Güner Balci erklärt in der Emma, welche Sozialarbeit in Neukölln gefördert wird und welche nicht.

Aus einer Hipster-Rösterei

09.01.2023. Der ukrainische Schriftsteller Andriy Lyubka erzählt in der taz, was im Krieg manchmal das Wichtigste ist. Vieles vom heutigen Dominanzverhalten Chinas lässt sich nur postkolonial erklären, schreibt der Historiker Benedikt Stuchtey in der FAZ. Die SZ attackiert den juristischen Verlag C.H. Beck, der lieber Hans-Georg Maaßen die Treue hält als demokratisch gesinnten Juristen, die gegen ihn protestieren. Unbewusst legten die Silvesterrandalierer die Hand auf eine Schwachstelle des Staates, die andere Kräfte viel bewusster nutzen, schreibt Caroline Fetscher im Tagesspiegel. In der NZZ fragen Caroline von Gall und Andreas Umland, warum Reinhard Merkel eigentlich immerzu Falsches behaupten darf.

Das Ende einer Belle Époque

07.01.2023. In der taz setzt die ukrainische Schriftstellerin Oksana Sabuschko keinerlei Hoffnung auf Russland: Demokratisierung von unten zu erwarten, wäre sehr naiv. In der FR sorgt sich der Philosoph Markus Gabriel mehr noch als um die Welt um die moralische Integrität der Menschheit. In der taz fürchtet Hans Ulrich Gumbrecht, dass uns die Individualisierung in höchst undramatische Einsamkeit führt. Die SZ möchte nicht mehr übers Gendern diskutieren, sondern Kitas bauen. Aber bitte nicht die Care-Tätigkeiten ökonomisieren, ruft die NZZ.

Jungproletarisches Aufbegehren

06.01.2023. Russland ist ein einziger Gewaltzusammenhang, sagt die Frauenrechtlerin Aljona Popowa in der FAZ: Es fängt bereits bei häuslicher Gewalt an. Die Medien arbeiten sich nach wie vor an schwer zu benennenden "migrationskulturell verursachten Diffusitäten" ab, die zu den Silvesterkrawallen beitrugen. Clausewitz hat wieder Konjunktur, konstatiert die taz, er war halt auch ziemlich klug. Schon die Null-Spatzen-Kampagnen brachte nichts, erinnert die chinesische Schriftstellerin Fang Fang mit Blick auf die Null-Covid-Politik im Tagesspiegel.

Horror-Schönheitswettbewerb

05.01.2023. In der FAZ wirft die Osteuropaforscherin Gwendolyn Sasse dem Rechtsprofessor Reinhard Merkel "Falschaussagen über die Ukraine" vor. In der Zeit wirft Florian Illies Claudia Roth, die die Stiftung Preußischer Kulturbesitz umbenennen will, antiaufklärerischen Größenwahn vor. Ebenfalls in der Zeit hofft der Politologe Yascha Mounk  zaghaft auf das Überleben der amerikanischen Demokratie. In der taz will die Berliner Integrationsbeauftragte Katarina Niewiedzial nach den Silvesterkrawallen lieber nach sozialen Ursachen suchen. Die Welt beklagt "Anthro-Bashing".

Lust auf Attacke

04.01.2023. Ist der Putinismus ein Faschismus? Die Analogie ist problematisch, auch weil sie das Erbe des Stalinismus übersieht, sagt Karl Schlögel im Interview mit der SZ. Die taz beleuchtet in zwei Artikeln die harte Repression in Belarus und das Taktieren Lukaschenkos gegenüber Putin. Haben wir es bei den Silvesterkrawallen mit einem "molekularen Bürgerkrieg" nach dem Begriff von Hans Magnus Enzensberger zu tun, fragt Harry Nutt in der Berliner Zeitung. Solange man gar nicht weiß, ob da Männer mit Migrationshintergrund randalierten, ist diese Unterstellung rassistisch, findet Hanno Hauenstein ebenfalls in der Berliner Zeitung.

Bisher unbekannte Hohlräume

03.01.2023. Es scheint sich eine ähnliche Debatte anzubahnen wie nach der Kölner Silvesternacht 2015: Sollte über ein Böllerverbot diskutiert werden, fragen die einen. Müssen wir nicht eher die Probleme benennen, die zu der Gewalt an Silvester führten, fragen die anderen. Annalena Baerbock hat das Bismarck-Zimmer im Auswärtigen Amt umbenannt, und das zu Recht, findet der Historiker Eckart Conze in der FAZ.  "Das Böse" ist ein Begriff, auf den wir in der politischen Debatte nicht verzichten können, schreibt Richard Herzinger in der Zeitschrift Internationale Politik.

Nicht nichts

02.01.2023. Benedikt XVI. ist gestorben. Seine größte Tat als Papst war sein Rücktritt, finden die taz und die SZ. In Großbritannien droht eine neue Welle des Populismus, auch weil die Folgen des Populismus, der zum Brexit führte, nicht benannt werden, schreibt John Harris im Guardian. Die FAS veranstaltet ein Dossier mit Blicken internationaler Schriftsteller auf Deutschland. Hat es eine Mitschuld am Ukrainekrieg? Zweifellos ja, meint Viktor Jerofejew. Und der Perlentaucher wünscht allen Lesern und Leserinnen ein frohes neues Jahr!