9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Politik

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 19.03.2024 - Politik

Bei Tablet, aus dem Englischen übersetzt von der NZZ, hat Abraham Wyner, Professor für Statistik und Datenwissenschaft an der Wharton School der University of Pennsylvania, starke Zweifel an den palästinensischen Opferzahlen, die die Hamas herausgibt. "Die Hamas selber hat am 15. Februar erklärt, sie habe bisher 6.000 ihrer Kämpfer in diesem Krieg verloren. Damit wären mehr als 20 Prozent der bisher Getöteten Angehörige der Hamas gewesen. Dies ist nicht möglich - es sei denn, Israel tötet keine Männer, die nicht Kämpfer der Hamas sind. Oder die Hamas behauptet, dass fast alle Männer in Gaza Hamas-Kämpfer sind. ... Einige Kommentatoren haben eingeräumt, dass die Zahlen der Hamas bei früheren Kämpfen mit Israel etwa stimmten. Dennoch ist dieser Krieg, was Umfang und Ausmaß betrifft, völlig anders. Internationale Beobachter fehlen diesmal. Der Nebel des Krieges ist im Gazastreifen besonders dicht - und er macht es unmöglich, die Zahl der zivilen Todesopfer schnell und genau zu bestimmen. Bei der offiziellen palästinensischen Zählung der Todesopfer macht die Hamas Israel für alle Todesfälle verantwortlich. Selbst wenn diese durch fehlgeleitete Raketen der Hamas, versehentliche Explosionen, vorsätzliche Tötungen oder interne Kämpfe verursacht wurden."

Im Interview mit der FR ist Joseph Croitoru überzeugt, dass Israel die Hamas gepäppelt hat, um die Palästinenser zu spalten. Und der Krieg im Gaza ist vor allem ein Rachefeldzug, meint er: "Schon deshalb will Netanjahu ihn sicherlich so lange wie möglich weiterführen. Außerdem ist seine Regierung gespalten was die Kriegsziele angeht, denn die rechtsextremen Elemente wollen ja nicht nur die Zerschlagung der Hamas, sie wollen auch den Gazastreifen neu besiedeln. Hinzu kommt, dass Israels politische und militärische Elite gerne einen Bogen um die Frage machen würde, wer eigentlich für das Sicherheitsversagen am 7. Oktober verantwortlich ist. ... Meine Recherchen zeigen, dass der militärische Arm der Hamas-Bewegung mit der Zeit immer einflussreicher wurde. Wohl auch deshalb, weil auf israelischer Seite ein ständiger Rechtsruck stattfand, bei dem sich die Palästinenser im Gazastreifen und in der Westbank gefragt haben, was sie überhaupt noch bewirken können, um ihre Lage zu verbessern. Diese Aussichtslosigkeit hat sicher zu einer weiteren Radikalisierung innerhalb der palästinensischen Gesellschaft geführt."

In der NZZ fragt sich Michael Wolfssohn, warum sich die Palästinenser derart von der Hamas manipulieren lassen. Er setzt am Ende auf eine Einstaatenlösung: "Als einzige Alternative bieten sich föderative Strukturen an. Konkret: eine Mischung aus Kantonen in einem Bundesstaat 'Israel-Palästina', bestehend aus Israel plus Westjordanland und Gazastreifen, sowie Jordanien-Palästina, denn rund 80 Prozent der Jordanier sind Palästinenser. 'Frieden durch Föderalismus'. Wenn 'die' Palästinenser auch künftig auf Gewalt setzen, werden sie sich eines Tages auf einer fernen Insel wiederfinden. Weitsichtig hatte davor bereits im Herbst 1982 der Palästinenser Issam Sartawi gewarnt. Im April 1983 erschossen ihn extremistische Landsleute. Er fehlt mehr denn je."

Der britisch-jüdische Anwalt Philippe Sands vertritt Palästina vor dem Internationalen Gerichtshof im Streit um die Besatzung der palästinensischen Gebiete durch Israel. Im Interview mit Zeit online erklärt er, warum ein Gutachten des IGH von großer Bedeutung wäre, selbst wenn das Gericht seine Entscheidung nicht durchsetzen kann: "Selbstverständlich hat Israel das Recht, sich gegen Terrorangriffe, Raketen und Bomben zu schützen, aber seine Maßnahmen müssen mit dem internationalen Recht vereinbar sein. Es gibt keine juristische Rechtfertigung für 700.000 jüdische Siedler in diesen Gebieten und die Entrechtung der palästinensischen Bevölkerung. Ich hoffe außerdem, dass der IGH feststellen wird, dass Palästina alle Kriterien einer Staatlichkeit erfüllt. Denn alles, was das Haager Weltgericht tun kann, um die Aussichten auf eine Zweistaatenlösung zu verbessern, ist gut. ... sollte der IGH bestätigen, dass die Bedingungen für eine Staatlichkeit erfüllt sind, würde es anderen Ländern leichter fallen, Palästina als Staat anzuerkennen. Ich könnte mir vorstellen, dass dann Länder wie Spanien, vielleicht auch Großbritannien, die USA und Deutschland dazu bereit wären."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 16.03.2024 - Politik

Ein Autorenteam der NZZ geht sehr nüchtern die Berichte über sexuelle Gewalt am 7. Oktober durch und spricht mit israelischen Ärzten und anderen Offiziellen. Einige der Berichte, die nach dem 7. Oktober kursierten, haben sich als falsch erwiesen. Aber die Autoren resümieren: "Sexualisierte Gewalt in militärischen Konflikten wird fast nie vollständig aufgeklärt - erst recht nicht bei einem solch massiven Überraschungsangriff, wie ihn die Hamas am 7. Oktober durchgeführt hat. Dennoch: Es existieren klare Hinweise, dass die Terroristen nicht nur gefoltert und gemordet haben. Augenzeugen berichteten von Vergewaltigungen während des Angriffs und sexuellem Missbrauch in Geiselhaft. Geborgene Leichen deuten auf Sexualverbrechen hin und weisen Verstümmelungen im Genitalbereich auf. Die Uno registrierte ein Muster von Frauenleichen, die an Bäumen und Stangen gefesselt waren, von der Taille abwärts oder vollständig entkleidet."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 15.03.2024 - Politik

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Gemeinsam mit der brasilianischen Autorin und Juristin Paula Macedo Weiß hat die Brasilianerin Aurea Pereira Steberl gerade das Buch "Eine brasilianische Lebensgeschichte" veröffentlicht. Im FR-Interview spricht sie über die Frauenfeindlichkeit in Brasilien, die unter Jair Bolsonaro noch zugenommen hat: "Besonders schlecht ist es für schwarze Frauen. Der gesellschaftliche Aufstieg ist für sie nahezu unmöglich. Der Grund ist der strukturelle Rassismus in Brasilien. Sie können nur als Hausfrauen arbeiten oder niedere Tätigkeiten versehen. Die Arbeit, die sie verrichten, wird nicht geschätzt. Sie verdienen daher fast kein Geld. Das Hauptproblem ist aus meiner Sicht, dass schwarze Frauen überhaupt keinen Zugang zu Bildung haben. Erst seit ein paar Jahren gibt es Quoten, durch die schwarze Frauen an Universitäten kommen. Ohne das könnten sie niemals gesellschaftlich aufsteigen. Die Frauen arbeiten dennoch mehr als in Deutschland. Die brasilianische Gesellschaft ist frauenfeindlicher als in Deutschland, dennoch arbeiten sie dort viel mehr als hier."

Vor fünf Jahren ermordete der Australier Brenton Tarrant 51 Muslime in der neuseeländischen Stadt Christchurch. In der taz befürchtet Dennis Miskić eine Zunahme des Rechtsextremismus. In der FAZ geht Till Fähnders dem Versagen der Behörden nach, die Tarrant in rechtsextremen Foren durchaus vor der Tat hätten aufspüren können. Wie Forscher auf dem Wissenschaftsblog The Conversation berichteten, "hatte Tarrant insbesondere im Jahr vor seiner Tat die Absicht kundgetan, mit einem gewalttätigen Angriff auf eine Schule oder ein Gotteshaus einen 'Rassenkrieg' heraufbeschwören zu wollen. Die Beiträge haben den Forschern zufolge eine besondere Relevanz dadurch, dass Tarrant etwa zur gleichen Zeit mehrere Waffen erworben hatte. 'Tarrant ließ also nicht nur seine Gewaltpläne 'durchsickern', sondern tat dies genau in dem Moment, als er Waffen dafür kaufte', schrieben die Wissenschaftler." Ostern 2019 fand dann als islamistische Antwort auf Christchurch das Attentat auf die christlichen Gemeinden von Sri Lanka mit 253 Toten statt, auf das die Zeitungen dann sicher zu Ostern zurückkommen.

Im Interview Nicola Abé vom Spiegel beschreibt Yuval Noah Harari die Stimmung in Israel nach dem 7. Oktober so: "Sowohl Israelis als auch Palästinenser müssen ihre schlimmsten Albträume, ihre Urangst, noch einmal neu erleben. Das Ergebnis: Jedes verbliebene Vertrauen in die andere Seite ist völlig zerstört. Beide Seiten sind nun voller Hass und Angst. Und sie sind es aus gutem Grund. Das ist ein psychologisches Problem. Der Schmerz ist jetzt so groß, dass die Menschen nicht mehr dazu in der Lage sind, das kleinste bisschen Empathie für den anderen zu empfinden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 14.03.2024 - Politik

Der israelische Dramatiker und Autor Joshua Sobol bleibt trotz allem im Zeit-Gespräch mit Peter Kümmel optimistisch, hofft auf vernünftige Palästinenser und darauf, dass die Siedler-Bewegung nicht komplett ausrastet: "Falls es zur Anerkennung eines palästinensischen Staates durch Israel kommen sollte, könnte ich mir vorstellen, dass fanatische Siedler versuchen werden, die Situation außer Kontrolle geraten zu lassen. Ich glaube aber nicht, dass es zum Bürgerkrieg kommt. In unserem Land gilt der Bürgerkrieg als der letzte Schritt vor der totalen Zerstörung. Gleichwohl: Es liegt sehr viel Ungewisses in der Luft. 2025 wird ein entscheidendes Jahr in der Geschichte Israels sein. Entweder es kommt zu einem radikalen Politikwechsel, oder aber es wird fürchterlich. Sehr viele Menschen reden ernsthaft über Auswanderung - sollte es zu massenweiser Auswanderung kommen, wäre das eine existenzielle Krise."
Stichwörter: Sobol, Joshua, Israel

9punkt - Die Debattenrundschau vom 12.03.2024 - Politik

Israel ist nicht nur von den Palästinensern, den Arabern, dem "globalen Süden", sondern auch der westlichen Linken einem Hass ausgesetzt, der sich in solcher Giftigkeit, trotz aller bitteren Erfahrungen, noch nie über dieses Land ergossen hat, konstatiert Bernard-Henri Lévy in seiner Kolumne. Und das nach der "sadischsten Terrorattacke aller Zeiten". Selbst von den Kanzleien der gemäßigten Länder werde das Land fallen gelassen. Es sei eine Verkettung von Diskursen und Reflexen, die fast schon zu einem Konsens führe, dass Israel "nicht mehr zu halten" und seine Existenz somit fragwürdig sei: "Angesichts dieser unendlich traurigen Anklagen, dieses unerhörten Ausbruchs von politischem und digitalem Hass, dieser Massen ohne Gedächtnis, bei denen alles darauf hindeutet, dass das Pogrom vom 7. Oktober 2023 in ihren Augen zu einem Detail der Geschichte geworden ist, was kann man da noch hoffen?" Lévy gibt drei Antworten auf seine Frage: Er hofft, dass Tsahal weiterhin so gut wie möglich die Zivilisten schützt, dass Netanjahu gekippt wird und dass die Appelle endlich auch mal an die Hamas ergehen, die Geiseln freizulassen und zu kapitulieren.

Haiti dürfte inzwischen vollends als Failed State bezeichnet werden. Die Gangs stellen die Machtfrage. Präsident Ariel Henry traut sich nicht, von einer Auslandsreis zurückzukehren. Die internationale Gemeinschaft hat eine Mitverantwortung, sagt der Menschenrechtler Pierre Esperance aus Port-au-Prince im (Telefon-)Gespräch mit Katja Maurer von der taz. Die Lage ist verzweifelt: "Haiti ist vollständig kollabiert. Seit zehn Tagen sind alle staatlichen Institutionen geschlossen. Es gibt keine Polizei auf den Straßen. Die Polizisten weigern sich Dienst zu tun, weil sie die Polizeiführung kritisieren, die nichts zum Schutz der diensthabenden Polizisten unternimmt. Die haitianische Bevölkerung ist völlig ihrem Schicksal überlassen. Es gibt keine Nahrungsmittel, kein Wasser. Die Menschen können ihre Häuser nicht verlassen, weil die Gangs alles kontrollieren. Der Staat existiert nicht mehr. Wir befinden uns alle in Gefahr."

Im jahrzehntelangen Bürgerkrieg in Kolumbien zwischen allen möglichen linken und rechten Milizen, Guerillakämpfern und der Armee unter aufmerksamer Beteiligung der Amerikaner, Russen und Kubaner kamen mehr als eine Million Menschen ums Leben. Inzwischen kümmert sich eine gigantische, aber nicht unumstrittene Bürokratie um die Versöhnung, etwa die Sondergerichtsbarkeit für den Frieden (JEP), berichtet Hubertus Knabe in der FAZ: "Mit 1.500 Mitarbeitern und 25 Außenstellen sollen 38 gewählte Richter Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit verfolgen, die gemäß Völkerstrafrecht nicht amnestierbar sind. Massenmörder, die sich dem Gericht stellen und ihre Verantwortung einräumen, dürften jedoch in der Regel mit Wiedergutmachungsarbeiten davonkommen. Nur wer seine Schuld bestreitet, kann mit bis zu zwanzig Jahren Haft bestraft werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 - Politik

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Der in Großbritannien lehrende Steve Tsang hat erstmals ein Buch über die Ideologie Xi Jinpings herausgebracht. Trotz des Werts, den Xi auf sein "Denken" legt, ist außerhalb der unterwürfigen Literatur in China gar nicht so viel darüber bekannt, sagt er im Gespräch mit taz-Korrespondent Fabian Kretschmer. Zwar diagnostiziert Tsang bei Xi ähnliche Phantomschmerzen in Bezug auf die kommunistische Zeit wie bei Wladimir Putin, aber letztlich ist Xis Ambition bei weitem größer: "China möchte nicht die USA als globalen Hegemon ersetzen. Xi bemüht sich aber, die liberale internationale Ordnung umzugestalten - in eine sinozentrische Weltordnung, in der China die herausragende Weltmacht darstellt. Wenn die USA dies akzeptieren, dann wird Chinas Regierung kein Problem mit ihnen haben. Aber wenn sie sich weigern, sich Chinas Vormachtstellung zu beugen, ist das eine andere Sache. Ob China diese Ambition erreichen kann, ist aber ein großes Fragezeichen."

Die Mehrheit der Iraner sind gegen eine Hijab-Pflicht, sagt die  Historikerin Janet Afary im Gespräch mit Till Schmidt von der FAS. Am 8. März 1979 hatten Hunderttausende Frauen und Männer für die Universalität der Frauenrechte demonstriert. "Junge Menschen interessieren sich heute viel mehr für die moderne Geschichte Irans", freut sich Afary, "und knüpfen an die Bewegung von 1979 an. Sie gehen dabei sogar bis zur Konstitutionellen Revolution von 1906 bis 1911 zurück - und damit zur frühen Demokratie in Iran, die dem Land ein Parlament, eine Verfassung und einen ernsthaften Versuch zur Trennung von Religion und Staat brachte. Aktuell gibt es einen beeindruckenden Drang, sich mit der Geschichte der Frauen und mit den fortschrittlichen Traditionen des iranischen Feminismus zu befassen. Auch um daraus Lehren für die Gegenwart zu ziehen."

Die Schriftstellerin Joana Osman, Tochter eines palästinensischen Vaters und einer deutschen Mutter, erläutert in der SZ, warum es sich beim "Krieg der Narrative" nicht um einen Krieg zwischen Israel und den Palästinensern handelt: "Der Konflikt wird nicht zwischen der israelischen und der palästinensischen Zivilbevölkerung ausgetragen, sondern er wird von Menschen geführt, die Sieg wollen, gegen Menschen, die sich Frieden wünschen. Beide Arten von Menschen gibt es auf beiden Seiten."

Mit großem Misstrauen betrachtet Michael Miersch in seinem Blog die Formelhaftigkeit deutscher Politikersprache in Bezug auf Israel, etwa die Rede von der "Staatsräson". "Eine weitere unter Politikern beliebte Formel ist der Holocaust-Bezug. Hier wird es völlig aberwitzig. Israel muss demnach von Deutschland unterstützt werden, weil die Deutschen Millionen Juden ermordet haben. Quasi als Sühne. Auch dies leuchtet vielen jungen Menschen nicht ein, was ich gut verstehen kann. Ein falsches Argument kann man oftmals entlarven, indem man einmal das Gegenteil formuliert: Hätte die Deutschen nicht Million Juden ermordet, könnte uns Israel egal sein. Ist es nicht vielmehr so, dass Israel jegliche Hilfe verdient, weil es eine Insel der Freiheit und Demokratie in einem Meer totalitärer Militärdiktaturen, Königreiche und Theokratien ist, eine Frontlinie des Westens?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 09.03.2024 - Politik

Kriegsgefahr? Mit einem wiedergewählten amerikanischen Präsidenten Donald Trump wird sie auch für die EU real, warnt Joachim Käppner im Leitartikel der SZ: "Der seit 1945 unvorstellbare Fall, dass die Schutzmacht USA ihre Verbündeten in Europa einfach alleinlässt, ist eine Möglichkeit, die beängstigend nahe rückt. Es wäre eine Weichenstellung, die in eine andere sicherheitspolitische Welt führt; eine Welt, in der sich Europa selbst beschützen muss. Ohne die Amerikaner stünde es einem Russland gegenüber, das ökonomisch und mental im Kriegsmodus läuft und dessen Präsident kalt lächelnd Zehntausende der eigenen Soldaten opfert, wenn er dies in seinen imperialen Fieberträumen für geboten hält." Als ergänzende Lektüre empfiehlt sich Peter Carstens' und Matthias Wyssuwas FAZ-Hintergrundartikel zum miesen Verhältnis zwischen Emmanuel Macron und Olaf Scholz.

Franziska Pröll berichtet in der FAZ über einen neuen UNICEF-Bericht zur Genitalverstümmelung bei Mädchen. Zwar verbreite sich die grauenhafte Praxis nicht weiter. Dennoch klingen die Befunde deprimierend: "In Somalia ist die Lage am drastischsten. Dort sind 99 Prozent der Mädchen und Frauen zwischen 15 und 49 Jahren durch die Genitalverstümmelung versehrt worden. In Guinea liegt der Anteil bei 95 Prozent, in Djibouti bei 90 Prozent. Erste globale Schätzungen zur weiblichen Genitalverstümmelung waren 2016 veröffentlicht worden. Im Vergleich dazu diagnostiziert UNICEF einen Anstieg von 15 Prozent. Die Vereinten Nationen haben es als eines ihrer nachhaltigen Entwicklungsziele formuliert, weibliche Genitalverstümmelung bis 2030 zu beenden. Um das zu erreichen, müsste der Rückgang 27-mal so schnell sein."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 08.03.2024 - Politik

Nachdem der Staat Nicaragua Deutschland vorgeworfen hat, es leiste Beihilfe zu israelischen Kriegsverbrechen sowie zu einem israelischen Völkermord an den Palästinensern im Gazastreifen, muss sich Deutschland nun vor dem Internationalen Gerichtshof in Den Haag verantworten. Die Erfolgsaussicht der Klage dürfte allerdings mäßig sein, erfährt Ronen Steinke in der SZ von dem deutsch-britischen Völkerrechtler Stefan Talmon: "Für den Vorwurf des Völkermords brauche es den klaren Beleg einer entsprechenden Absicht, und auch sonst seien die Hürden sehr hoch. 'Ganz sicher' werde der IGH nicht dem Wunsch Nicaraguas entsprechen, Deutschland zu verbieten, generell weiter Waffen an Israel zu liefern, meint Krajewski. 'Denn es bleibt ja dabei, dass Israel grundsätzlich ein Selbstverteidigungsrecht hat.' Aber: In der Zwischenzeit biete der Gerichtssaal eine große Bühne, um politischen Druck aufzubauen auf Deutschland und andere Unterstützer Israels."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 05.03.2024 - Politik

Dass es bisher kein Abkommen zwischen Israel und der Hamas über die Freilassung der Geiseln und eine Feuerpause gibt, überrascht den Islamwissenschaftler und Ex-BND-Mitarbeiter Gerhard Conrad im Tagesspiegel-Gespräch nicht: Bei der Hamas gehöre es "zum guten Ton, zur Demonstration der Selbstbehauptung, Termine verstreichen zu lassen." Conrad befürchtet allerdings, "dass die Hamas unter ihrem abgetauchten Gaza-Chef Jahia Sinwar kein Interesse an einem Deal hat, sondern auf dauerhafte Eskalation gerade während des emotional besonders heiklen Fastenmonats setzt. Sinwar könnte hier einfach sehen wollen, ob Israel das Eskalationsrisiko, insbesondere die zu befürchtenden weiteren schweren Opfer an Menschenleben in Rafah, tatsächlich in Kauf nimmt. Er könnte darauf spekulieren, dass sich Israel damit international weiter isoliert und zugleich eine Ausweitung der Gewalt im Westjordanland und Jerusalem provoziert, oder aber einknickt. (…) Ich nenne das negative Eskalationsdominanz. Diese schließt den Hinweis mit ein, man scheue nicht einmal den eigenen Untergang, der aber mit dem Tod der Geiseln und maximalen Opfern unter der Zivilbevölkerung in Gaza verbunden wäre."

In Gaza sollen am Donnerstag mehr als 100 Palästinenser ums Leben gekommen sein, viele davon mutmaßlich durch die israelische Armee - Biden und Macron verurteilten den Vorfall, während in Berlin lieber über die Vorkommnisse auf der Berlinale diskutiert wurde, behauptet Bernd Dörries, der sich in der SZ fragt, ob sich die "Diskussion manchmal gar nicht um Israel und die Palästinenser dreht, sondern ein deutsches Selbstgespräch ist, bei dem oft vergessen wird, dass in Gaza tatsächlich jeden Tag Menschen sterben." Warum schweigen die meisten deutschen Politiker zu Israels Kriegsführung? "Womöglich auch, weil sie sich sonst schwierigen Fragen stellen müssten. Etwa dieser, ob am Donnerstagmorgen auch mit deutschen Waffen auf Zivilisten geschossen wurde? Oder dieser: Als Israel dem Hilfswerk UNRWA vorwarf, zwölf seiner Mitarbeiter seien am Terror der Hamas beteiligt gewesen, stellte Berlin alle Zahlungen an das UNRWA vorläufig ein, bis eine Untersuchung erfolgt ist. Eine ähnliche Untersuchung fordert Baerbock nach den jüngsten Vorfällen auch von Israel. Warum sagt Berlin nun nicht auch, wir stellen alle Waffenlieferungen ein, bis ein ausführlicher Bericht vorliegt?"

9punkt - Die Debattenrundschau vom 02.03.2024 - Politik

Die deutsche Iran- und Nahostpolitik sei mitverantwortlich für den 7. Oktober, meint der Politologe Stephan Grigat in der taz, denn die Mordaktionen der Hamas "waren nur durch jahrelange Unterstützung aus Teheran möglich, und die Voraussetzung für diese Unterstützung waren unter anderem die Milliardengeschäfte deutscher Unternehmen mit dem iranischen Regime, die in den vergangenen Jahrzehnten von ausnahmslos allen deutschen Parteien und Regierungen gefördert wurden." Und: "Die Weigerung der Bundesregierung, die iranischen Revolutionsgarden auf jene Terrorliste zu setzen, auf die sie schon seit Jahrzehnten gehören, lässt dem Regime weiterhin freie Hand - auch nach dem 7. Oktober. Das iranische Regime ist immer noch mit Zentren, Moscheen und Kulturvereinigungen in Deutschland präsent. Die Vernichtungsaktion vom 7. Oktober wurde in sämtlichen Medien des Regimes als vorbildliche Tat gepriesen - aber zu keinem Augenblick wurde in Deutschland erwogen, zumindest den Botschafter eines solchen Regimes aus dem Land zu werfen und neue umfassende Sanktionen zu verhängen, die den ökonomischen Lebensnerv Irans treffen und letztlich auf den Sturz des Regimes zielen müssten. Solange es zu keiner 180-Grad-Wende in der deutschen Politik gegenüber dem Holocaustleugner-Regime in Iran kommt, ist das ganze Gerede von der Sicherheit Israels als Teil der deutschen Staatsräson genauso hohle Rhetorik wie die formelhaften Beschwörungen eines 'Nie wieder' und 'Wehret den Anfängen'."