Daniela Dröscher

Lügen über meine Mutter

Roman
Cover: Lügen über meine Mutter
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2022
ISBN 9783462001990
Gebunden, 448 Seiten, 24,00 EUR

Klappentext

Daniela Dröscher erzählt vom Aufwachsen in einer Familie, in der ein Thema alles beherrscht: das Körpergewicht der Mutter. Ist diese schöne, eigenwillige, unberechenbare Frau zu dick? Muss sie dringend abnehmen? Ja, das muss sie. Entscheidet ihr Ehemann. Und die Mutter ist dem ausgesetzt, Tag für Tag. "Lügen über meine Mutter" ist zweierlei zugleich: die Erzählung einer Kindheit im Hunsrück der 1980er, die immer stärker beherrscht wird von der fixen Idee des Vaters, das Übergewicht seiner Frau wäre verantwortlich für alles, was ihm versagt bleibt: die Beförderung, der soziale Aufstieg, die Anerkennung in der Dorfgemeinschaft. Und es ist eine Befragung des Geschehens aus der heutigen Perspektive: Was ist damals wirklich passiert? Was wurde verheimlicht, worüber wurde gelogen? Und was sagt uns das alles über den größeren Zusammenhang: die Gesellschaft, die ständig auf uns einwirkt, ob wir wollen oder nicht? Daniela Dröscher lässt ihr kindliches Alter Ego die Jahre, in denen sich dieses  "Kammerspiel namens Familie" abspielte, noch einmal durchleben.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 14.10.2022

Selten loben Rezensenten Romane für ihre große Seitenzahl. Rezensentin Judith von Sternburg tut dies. Ausgangssituation und Handlung ließen sich zwar auch in wenigen Worten beschreiben, doch Daniela Dröschers "Lügen meiner Mutter" braucht dennoch "dringend" jede seiner 444 Seiten, um auf die ihm eigene originelle und packende Weise von Elas Problem zu erzählen, so die Rezensentin. Ela ist ein Kind, als die Geschichte einsetzt, und sie hat ein Problem. Dass ihre dicke Mutter ihr Problem ist, glaubt sie, weil ihr Vater das glaubt: Der meint seine Frau halte ihn davon ab, jener unscheinbare Durchschnitts-BRD-Bürger zu sein, der zu sein er anstrebt. Doch die Übergewichtigkeit von Elas Mutter, das begreifen sowohl Ela als auch die Lesenden Seite für Seite, ist tatsächlich kein Problem, sondern ein Symbol. Der Vater ist das Problem, erfahren wir. Gespannt und mitfühlend liest man, wie Elas Vater seine Frau immer wieder triezt, sie zum Abnehmen drängt und wie Ela seine Scham übernimmt. Entbehrlich scheinen zunächst die  Einschübe, in denen die Autorin ihren Leserinnen und Lesern direkt und nüchtern erklärt, was man auch ohne dies verstehen würde. Allerdings, so geht der Kritikerin schließlich auf, sind diese Einschübe auch eine Möglichkeit, die Mutter aus einer anderen Perspektive, nicht nur der der Tochter zu zeigen.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 13.10.2022

Die BRD in den Achtzigerjahren war die Hölle. Besonders für Frauen und ihre Körper, findet Antonia Baum nach der Lektüre von Daniela Dröschers Geschichte um Feminismus, Patriarchat, Sorgearbeit, gesellschaftlichen Aufstieg und - ganz wichtig - die Aufopferung der Mütter, die sich dann noch von den Vätern für ihren Oberschenkelumfang kritisieren lassen dürfen. Die Erzählung ist auf originelle Weise mehrfach strukturiert, so Baum: Es gibt eine junge Erzählerin, die durch Reflexionen ihres älteren Ichs ergänzt wird. Und auch die Autorin mische sich mit Spielarten der Autofiktionalität fortwährend ein. Die Rezensentin findet das sehr klug: Nicht nur erzählerisch und sprachlich, sondern auch, weil Dröscher durch die Beschäftigung mit immer noch allzu oft unsichtbarer Care-Arbeit von Frauen eine Brücke vom Jahr 1983 in die Gegenwart schlage. Die Aktualität des Themas und die Überlegungen, die das Buch bei ihr selbst angestoßen haben, bewegen Baum zu einer uneingeschränkten Empfehlung.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 19.09.2022

Rezensent Paul Jandl hält Daniela Dröschers neuen Roman für einen "messerscharfen" Angriff auf das Patriarchat der siebziger und achtziger Jahre in der deutschen Provinz. Erzählt aus der Perspektive eines Kindes, seziert die Familiengeschichte Phrasen und Lügen des Kleinbürgertums und die Ungleichheit zwischen Mann und Frau, erklärt Jandl. Gemütlich ist das nicht, Dröscher beschleunigt die Dynamik hin auf einen "Showdown im Hunsrück", warnt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 25.08.2022

Rezensentin Anna Flörchinger steht fassungslos vor dem Bild einer Familie im Rheinland der 1980er und frühen 90er, wie es Daniela Dröscher mutmaßlich mit autobiografischen Bezügen entwirft: Die Geschichte einer einsamen Frau und Mutter, die von ihrem Mann wegen ihres Übergewichts pausenlos drangsaliert wird, gesehen aus der Perspektive des Kindes. Für Flörchinger ist es eine Tortur, mitansehen zu müssen, wie Frauen noch vor 30 Jahren dem Patriarchat unterlagen. Dass der Roman kein gutes Ende bietet, erscheint ihr zwar folgerichtig, aber auch schwer erträglich.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 25.08.2022

Rezensentin Wiebke Porombka scheut den Vergleich mit Annie Ernaux nicht nach der Lektüre von Daniela Dröschers neuem Roman. Über die "Bedingtheit durch die soziale Herkunft" schreiben, das kann Dröscher einfach - und in diesem Roman ist es ihr sogar in besonderem Maße gelungen, freut sich die Kritikerin. Dröscher erzählt fiktionalisiert von der eigenen Mutter in der rheinlandpfälzischen Provinz der Achtziger, der von ihrem Mann immer wieder Vorwürfe wegen ihres Übergewichts gemacht werden: Samstags wird das Gewicht kontrolliert, zur Überwachung durch den Vater kommt bald auch sein Vorwurf, ihr Gewicht verhindere seine Karriere, resümiert Porombka. Der Vater versucht sein Selbstbewusstsein durch Autos und Tennis aufzupolieren, die Mutter erträgt und wehrt sich und versucht nach Möglichkeiten, sich beruflich zu emanzipieren, erfahren wir. Die Form, die Dröscher für ihren Roman gefunden hat, findet Porombka klug: Die kindliche Erzählperspektive ist durchzogen von essayistischen Passagen, die die Ereignisse, aber auch das Schreiben selbst reflektieren. Vor allem aber lobt die Rezensentin Dröschers Vermögen, die Mutter nie vorzuführen. Der Roman ist eine "unerhörte" Familientragödie - und beleuchtet ein noch immer zu wenig bekanntes Stück weiblicher Sozialgeschichte, schließt sie.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 19.08.2022

Daniela Dröscher gehörte zu den ersten zeitgenössischen Autorinnen in Deutschland, die literarisch über ihre Herkunft reflektierten, wobei Herkunft im Sinne von Klasse gemeint ist, so Rezensentin Johanna Adorján. Dröschers Memoir "Zeige deine Klasse" folgt nun die Fiktionalisierung - konsequent betitelt als "Lügen über meine Mutter". Eine Besonderheit dieses Romans sind die zwei Perspektiven, aus denen er erzählt wird, lesen wir: Die Perspektive einer Sechsjährigen, die in den Achtziger Jahren in der Provinz aufwächst und die Scham ihres Vaters über die Übergewichtigkeit ihrer Mutter übernimmt. Und die reflektierte Perspektive der akademisch gebildeten, erwachsenen Tochter, die ihrer Mutter Fragen stellt, ihre Ansichten von damals korrigiert und letztlich die Weigerung ihrer Mutter abzunehmen, sogar als Form des Widerstands erkennt. Diese Perspektiven ergänzen einander inhaltlich, geben dem Roman aber auch einen besonderen Rhythmus. Dass manche Kommentare der erwachsenen Tochter ein wenig "pseudophilosophisch" wirken, darüber kann Adorján hinwegsehen. So empfiehlt sie Dröschers Roman allen, ganz besonders aber jenen, die selbst in den Achtzigern aufgewachsen sind, denn die Erinnerungen, die Dröscher wachruft, sind ein besonderes Vergnügen.
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