Durs Grünbein

Der Komet

Roman
Cover: Der Komet
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783518430200
Gebunden, 282 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Im Mittelpunkt dieses Berichts steht eine Frau aus einfachen Verhältnissen. Es geht um das Leben von Dora W., die aus Schlesien nach Dresden kommt, mit sechzehn Mutter wird und mit fünfundzwanzig den Untergang der Stadt im Bombenkrieg miterlebt. Ziegenhüterin auf dem Lande, dann Ladenmädchen und Gärtnereigehilfin in einer niederschlesischen Kleinstadt sind ihre ersten Lebensstationen, bevor sie in dem Schlachtergesellen Oskar den Mann fürs Leben findet und ihm nach Dresden folgt, um dort eine Familie zu gründen. Eine kurze Zeit ist ihr dort geschenkt; es sind ihre goldenen Jahre, wie es scheint, aber dann stürzt die Perspektive, und es ereilt sie wie alle anderen der Krieg und mit ihm das Ende Dresdens in einer von Großmachtstreben und Rassenwahn vergifteten Gesellschaft. Mit ihrer Geschichte verfolgt der Autor ein Einzelschicksal im historischen Kontext vor und nach dem Einmarsch des Nationalsozialismus in jedes einzelne Leben. Was macht die Diktatur aus den Menschen, die ihren Anforderungen kaum gewachsen sind und sich recht und schlecht durchschlagen? Dabei gewinnt das Auftauchen des Halleyschen Kometen im Jahre 1910, der Weltuntergangsphantasien befeuerte, eine symbolische Bedeutung für die Vernichtung der sächsischen Metropole im Feuersturm des Februars 1945. Am Beispiel von Dora W. wird erzählt, wie Geschichte den Geschichtslosen widerfährt, zuletzt als Schrecken und zu späte Einsicht.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 13.01.2024

Die Bombardierung Dresdens wirkt bis heute ideologisch und  familiengeschichtlich nach, jetzt nimmt sich Durs Grünbein dem Thema  an, dessen Großmutter diesen Angriff am eigenen Leib erlebt hat, weiß Rezensentin Gisa Funck. "Der Gefahr der sentimentalen  Geschichtsverklärung", die mit einer solchen familiären Perspektive  einhergeht, entgeht Grünbein durch betonte Nüchternheit, was  allerdings auch nicht ganz einfach zu lesen ist, wie Funck einräumt.  Erst im zweiten der drei Kapitel gewinnt Dora, die Protagonistin, ein  bisschen Leben, etwas unnötig kommen der Kritikerin da aber die vielen  Wiederholungen und Detailbeschreibungen vor, die der Autor ganz in der  Manier der gelehrten Dichters einfließen lässt. Überzeugt ist sie  hingegen vom dritten Teil des Buches, der ihr klar macht, dass auch  Menschen wie Dora, keine Hitler-Fans, aber doch Dulderinnen, ihren  Teil zur Nazi-Herrschaft beigetragen haben und eine einfache Gut-Böse-Einteilung selten sinnvoll ist, wie sie schließt.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 23.12.2023

Kritiker Dirk Knipphals freut sich über einen Roman des Büchnerpreisträgers Durs Grünbein, der gleich drei erzählerische Linien vereint: Das Leben der Großmutter, die Stadt Dresden, beides besonders im Nationalsozialismus, und der Erzähler selbst und sein Verhältnis zum Vergangenen. Knipphals liest hier "in kreisend sich voranbewegenden erzählerischen Anläufen", wie die Stadt Dresden und das ganz alltägliche Leben vom Nationalsozialismus überrollt und vereinnahmt werden konnten, aber auch, wie die Großmutter sich ihr Leben in der Großstadt mitsamt ihrer Familie aufgebaut hat. Besonders gefällt dem Rezensenten dabei, dass Grünbein der Versuchung widersteht, die verschiedenen Erzählstränge und Ereignisse ineinander aufgehen zu lassen, auch wenn ihn manche Wiederholungen etwa zur Stadtgeschichte Dresdens etwas irritieren. Ein vielschichtiger Roman, lobt der Kritiker.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 15.12.2023

Rezensent Paul Jandl gefällt die Balance zwischen Distanz und Nähe, mit der Durs Grünbein in seinem halbdokumentarischen Buch sehr atmosphärisch, wie Jandl findet, von einer Dresdner Familie in den Jahren vor, während und nach dem großen Krieg erzählt. Die autofiktionalen Momente der Geschichte entgehen Jandl nicht, sind aber nicht so wichtig für ihn wie die starken wie "handkolorierten" Bilder, in die der Autor das Kleine-Leute-Milieu der 30er Jahre und seine Zerstörung durch deutsche Großmachtfantasien fasst. Das Autor-Ich taucht im Text wie "eine Hand an der Türklinke ferner Räume" auf, schreibt Jandl sehr schön.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2023

Rezensent Andreas Platthaus ist tief gerührt von Durs Grünbeins neuem Buch, das irgendwo zwischen autobiografischer Familiengeschichte, Gesellschaftsporträt und Roman angesiedelt ist und die Geschichte von Grünbeins Urgroß- und Großeltern in Dresden vor, während und nach dem Krieg erzählt. Atemberaubend sind für Platthaus nicht nur die Schilderung der Zerstörung Dresdens, sondern auch die Vorgeschichte des Angriffs, die die Gesellschaft im Nationalsozialismus aus fast noch kindlicher Perspektive abbildet. Gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Ereignisse in der Ukraine und in Nahost findet Platthaus das Buch eindrucksvoll.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.11.2023

Rezensent Tobias Rüther lobt die Erinnerungsarbeit, die Durs Grünbein in seinem neuen Buch vollziehe. Der selbst in Dresden geborene und aufgewachsene Autor, der sich stets öffentlich gegen den dortigen "Biedermeier-Populismus" positioniert habe - diesen Kontext findet der Kritiker hier wichtig -, erzählt darin entlang der Biografie seiner Großmutter von der Bombennacht des 13. Februar 1945, die sie überlebte, und von der vorangehenden Zeit der nationalsozialistischen Gleichschaltung in Dresden. Wie Grünbein diese beiden Zeitebenen durch stetiges Vor- und Zurückspringen eng führe, findet der Kritiker formal überzeugend; sprachlich hingegen hätte er sich eine ähnliche "Klarheit" gewünscht: Hier gehe es zum Teil so verschnörkelt und überladen zu - wenn etwa der Pomp Dresdens beschrieben wird -, dass die nationalsozialistische Durchsetzung sprachlich manchmal fast unterzugehen droht, meint Rüther. Um diese gehe es Grünbein aber im Kern, auch wenn der Roman auf den Bombenangriff in all seiner Grausamkeit zulaufe, analysiert der Kritiker. Ein "intensiv" geschriebener, persönlicher Roman und gleichzeitig eine kluge "Sozialstudie", lobt er.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 24.11.2023

Ein großer Verdienst kommt Durs Grünbeins Buch "Der Komet" zu, meint Rezensentin Ursula März anerkennend: mit der Erzählung des Lebens der jungen Frau Dora W. vor dem Hintergrund des zweiten Weltkrieges verleiht er dem Schicksal einzelner Individuen Gewicht, die in Anbetracht der großen historischen Ereignisse oft vergessen werden. Wohlweislich hat der Verlag die Genre-Bezeichnung weggelassen, so März, denn der Text ist ein "literarischer Hybrid" aus analytischen Betrachtungen, erzählenden Elementen und Autobiografischem, denn bei Dora W. handelt es sich um die Großmutter des Autors. So natürlich fügen sich diese Elemente zu einem Ganzen, meint die Kritikerin, dass man geneigt ist, die "enorme Rechercheleistung" zu vergessen, die dem Autor eine so historisch authentische Darstellung des aufsteigenden Nationalsozialismus und der Bombardierung Dresdens ermöglichte.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 20.11.2023

Beeindruckt ist Rezensent Cornelius Pollmer vor allem von dem Ende des Buchs Durs Grünbeins, das die Bombardierung Dresdens im Zweiten Weltkrieg schildert - als Finale einer Erzählung, in deren Zentrum Grünbeins Großmutter Dora Wachtel steht, die als Sechzehnjährige nach Dresden zieht und dort einen Schlachtergesellen heiratet. Infernalisch, regelrecht apokalyptisch wird die Bombennacht gezeichnet, führt Pollmer aus, der Blick richtet sich gen Himmel, wozu auch der Titel des Buches passt. Das hat auch deshalb so viel Wucht, heißt es weiter, weil Grünbein, der nur zweimal selbst in der Erzählung auftaucht, sehr klar und nüchtern schreibt. Auch als Dresden-Porträt gefällt das Buch Pollmer, der es außerdem darüber schätzt, dass bei Grünbein der Schrecken der Bombennacht in keiner Weise eigene, also deutsche Schuld aufwiegt.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 18.11.2023

Bei diesem beklemmenden Roman über Dresden im "Dritten Reich" von Durs Grünbein sieht Rezensent Björn Hayer die "Streubomben buchstäblich über dem Text" einschlagen, so bildlich ist die Sprache des Romans, der sich um die junge Dora dreht. Dora zieht aus Schlesien nach Dresden, lernt ihren Mann kennen, die beiden bekommen Kinder - alles vor dem Hintergrund des erstarkenden Nationalsozialismus, dessen immer lebensfeindlichere Ausmaße Grünbein präzise nachvollzieht, so Hayer, der erschreckende Parallelen zum Jetzt-Zustand ziehen kann. Einige Längen, die manchmal im Opa-erzählt-vom-Krieg-Duktus daherkommen, kann der Kritiker verzeihen, so überzeugend und eindringlich sind die Schilderungen der Gewalt der Bombennächte, aber auch der alltäglichen Arbeitsplätze im NS. Ein Buch, das an die Wichtigkeit gemahnt, die politischen Entwicklungen kritisch im Blick zu behalten, schließt er.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.11.2023

Als Gegenentwurf zu Uwe Tellkamps "Der Turm" beschreibt Rezensent Adam Soboczynski Durs Grünbeins Roman, der vielleicht eher ein Bericht ist. Und zwar, führt Soboczynski aus, erzählt der Autor von Dora, seiner eigenen Großmutter, die 1935 als 16-jährige aus der Provinz nach Dresden zieht. Das kleinbürgerliche Leben Doras und der ihren ist, heißt es weiter, von harter Arbeit, aber auch von deren materiellem Ertrag geprägt, die Diktatur, in der die Familie lebt, wird nicht affirmiert, aber hingenommen. Insbesondere Dresden als altehrwürdige Kulturstadt trägt implizit - hier sieht Soboczynski den Bezug zu, beziehungsweise die Kritik an Tellkamp - zur Überzeugungskraft des NS-Regimes bei. Grünbein beschreibt das alles schnörkellos, so der Rezensent, setzt nicht auf Einfühlung, sondern auf nüchterne Analyse, lediglich die Bombennächte am Ende des Kriegs werden stilistisch eindringlich ausgearbeitet. Ein Buch, das sich gegen Überhöhungen und Ästhetisierungen im Angesicht des Schreckens wendet, so das das Fazit.