Nikolai Epplee

Die unbequeme Vergangenheit

Vom Umgang mit Staatsverbrechen in Russland und anderswo
Cover: Die unbequeme Vergangenheit
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783518431054
Gebunden, 598 Seiten, 30,00 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Anselm Bühling. Wie umgehen mit einer Geschichte, die von Phasen exzessiven Terrors geprägt war? Kann es eine Aufarbeitung der Vergangenheit geben, wenn als einzige Institution der Geheimdienst den Zusammenbruch der Sowjetunion überdauert hat? Nikolai Epplée umreißt die Unterdrückungsmethoden der Sowjetherrschaft von der Oktoberrevolution bis zu Stalins Tod und die anschließenden Versuche, ihre Opfer zu rehabilitieren. Eine "Versöhnung" von oben spricht die Bürger von Schuld und Verantwortung frei, während Initiativen von unten, wie die im Dezember 2021 verbotene Menschenrechtsgesellschaft Memorial, Millionen von Toten ihre Namen zurückgeben. Vergleichend blickt er auf Länder wie Argentinien, Deutschland, Japan, Polen, Spanien und Südafrika. Ob Schlussstrich, juristische Aufarbeitung oder Wahrheitskommissionen - was lässt sich daraus lernen? Welche Folgen das Ausbleiben der Vergangenheitsbearbeitung für die russische Gesellschaft hatte, zeigt sich heute dramatischer als je zuvor. Wie dennoch zu einem produktiven Umgang mit der Vergangenheit gefunden werden könnte - das ist Thema dieser Studie.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 21.08.2023

Gleichzeitig erstaunlich und wichtig, findet Rezensent Nicolas Freund, dass dieses russische Buch Nikolai Epplées über den Umgang mit den Verbrechen der Stalinzeit gerade jetzt, ein Jahr nach dem Überfall Russlands auf die Ukraine im Frühjahr 2022, auf deutsch erscheint. Im Original ist es zwar schon 2020 erschienen, führt Freund aus, von der Gegenwart aus betrachtet liest es sich freilich, wie die sich summierenden Kriegsverbrechen der russischen Armee belegen, beinahe prophetisch. Das Buch, das der Rezensent am liebsten sofort zum Standardwerk erklären möchte, beschäftigt sich im ersten Teil mit dem Stalin-Terror und dessen (Nicht-)Aufarbeitung, bevor im zweiten die Erinnerungspolitik einer Reihe anderer Länder als Vergleichsmaßstab vorgestellt und im dritten ein Fazit gezogen wird. Naturgemäß fühlt sich Freund vor allem im ersten Teil an die Gegenwart erinnert: Die Toten der Geschichte kommen, zeige Epplée, immer wieder, letztlich gebe es für eine funktionierende Gesellschaft keine Möglichkeit, sich den dunklen Seiten ihrer Geschichte zu entziehen. Dass Epplée im letzten Teil des Buches die Notwendigkeit betont, die eigene Familiengeschichte in die Aufarbeitung der Geschichte mit einzubeziehen, zeigt für Freund die Relevanz des Buchs gerade auch für deutsche Debatten.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 12.08.2023

Schwer beeindruckt ist Rezensent Marko Martin von dem "mutigen wie komplexen" Buch Nikolai Epplées, das sich der Bedeutung von Vergangenheitsaufarbeitung und -bewältigung widmet. Die erste Auflage konnte vor dem Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine noch in Moskau erscheinen, jetzt liegt die deutsche Übersetzung vor und zeigt Linien auf, die von den nie aufgearbeiteten Verbrechen des Stalinismus bis zum 24.02.2022 weisen, erklärt Martin. Epplée macht ihm darüber hinaus mit Vergleichen zu Aufarbeitungsprozessen in anderen Ländern deutlich, wie dadurch Staaten wieder funktions- und kooperationsfähig werden - und auch umgekehrt, wie beispielsweise das Verdrängen der maoistischen Morde in China eng mit der heutigen politischen Ausrichtung des Landes zusammenhängt. Auch Deutschlands Verdrängung der Verbrechen unter Putin stellt der Autor heraus, nicht nur deshalb ist dies auch für deutsche Leser ein wichtiges Buch, resümiert der Kritiker.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 11.08.2023

Rezensent Ulrich M. Schmid liest das Buch des Philosophen und Journalisten Nikolai Epplee in der "sorgfältigen" Übersetzung von Anselm Bühling mit Interesse. Die vom Autor im deutschen Vorwort veranschlagte Dringlichkeit seines Themas der tabuisierten russischen Vergangenheit kann Schmid gut nachvollziehen. Epplee schildert laut Schmid, wie sich Russland in "einer gefährlichen Agonie" noch einmal aufbäumt, und vergleicht diese Entwicklung mit der in anderen posttotalitären Gesellschaften in Argentinien oder in Francos Spanien. Für Schmid erhellende Fallstudien, weil sie die Verzerrung der Geschichte zeigen und den Autor zu einem Programm der russischen Vergangenheitsbewältigung inspirieren.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 31.07.2023

Hoch aktuell findet Rezensent Marko Martin Nikolai Eppleés Studie über die historische Aufarbeitung von Staatsverbrechen in Russland - wobei es kapitelweise auch um Japan, Polen und Deutschland geht. Detailliert recherchiert und "atemberaubend erzählt" sind die Darstellungen vom Leninistisch-Stalinistischen Terror wie auch der japanischen Kriegsverbrechen und der spätere Umgang der Nachfolgeregierungen mit diesen, resümiert Martin. Eppleé gelingt es hierbei, nie den Fokus auf die Zivilbevölkerung und deren Leiden zu verlieren, sondern genau zu dokumentieren und neue Perspektiven zu eröffnen, meint der Rezensent. Doch besonders die deutsche Politik, so Martin, kann von diesem Buch lernen, da sie viel zu lange die vom Kreml propagierte Geschichtsklitterung akzeptierte und auf Zusammenarbeit setzte. Somit ist dieses Buch eine Studie über "die Notwendigkeit wirklichen Hinsehens" schließt der begeisterte Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 29.07.2023

Eine ausführliche Rezension widmet eine schwer beeindruckte Catrin Stövesand dem Buch des russischen Publizisten Nikolai Epplée, der sich Verbrechen von Staaten widmet, vor allem, aber nicht nur in Russland. Epplée schreibt, so Stövesand, von beunruhigenden Zuständen der Vergangenheitsverschleierung und -wiederholung in Russland, hat aber auch Lösungsansätze im Gepäck, stalinistischen Terror wie die zunehmende Autokratisierung des Landes zu bewältigen. Der Vergleich mit Ländern wie Südafrika und Argentinien zeigt ihm, und damit auch der Kritikerin, dass Wahrheitskommissionen ebenso unverzichtbar sind wie juristische Aufarbeitung und gesellschaftliche Neuorientierung. Stövesand kann Epplée mit seinem konstruktiven und inklusiven Ansatz gut zu folgen, umso erschreckender findet sie, dass auch er aus Angst vor Repressalien im Exil leben muss. Das macht dieses Buch noch wichtiger und lesenswerter, schließt sie.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.07.2023

Recht interessiert, aber auch angesichts des Buchumfangs recht kurz bespricht der Bochumer Osteuropahistoriker Stefan Plaggenborg diese Studie. Er würdigt sie als einen der wenigen überhaupt aus Russland kommenden Versuche, über Vergangenheitsbewältigung im Hinblick auf die Geschichte des Kommunismus und besonders natürlich die Verbrechen des Stalinismus nachzudenken. Plaggenborg teilt die Idee des russischen Autors Epplée, dass nur eine Internationalisierung des Blicks bei der Bewältigung nationaler Traumata helfen kann. Die Nürnberger Prozesse sieht Epplée dabei nicht als das richtige Modell für Russland, wo es keine klare Täter-Opfer-Entgegensetzung gibt: Der Denunziant von heute konnte dort das Opfer von morgen sein. Die Erinnerung in Russland sei auch deshalb gespalten. Positiv nimmt der Rezensent auch Epplées Bevorzugung des südafrikanischen Modells der Vergangenheitsbewältigung auf: Bei eine Wahrheitskommission komme es am Ende nicht auf das Urteil an, sondern auf die Beteiligung der Einzelnen am Verfahren. Eine schwierig zu verwirklichende Voraussetzung liegt allerdings vor diesem Prozess: Das ganze funktioniert nur, wenn ein Land sich demokratisiert, pflichtet Plaggenborg dem Autor bei.
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