Ronya Othmann

Vierundsiebzig

Roman
Cover: Vierundsiebzig
Rowohlt Verlag, Hamburg 2024
ISBN 9783498003616
Gebunden, 512 Seiten, 26,00 EUR

Klappentext

"Ich habe gesehen. Das Ich ist ein Zeuge. Es spricht, und doch hat es keine Sprache." So beschreibt Ronya Othmann in ihrem neuen Roman den Vorgang des Erzählens. Sie will eine Form finden für das Unaussprechliche, den Genozid an der jesidischen Bevölkerung, den vierundsiebzigsten, verübt 2014 in Shingal von Terroristen des IS. Vierundsiebzig ist eine Reise zu den Ursprüngen, zu den Tatorten. Der Weg führt in die Camps und an die Frontlinien, in die Wohnzimmer der Verwandten und weiter in ein jesidisches Dorf in der Türkei, in dem heute niemand mehr lebt. Es geht darum, hinzusehen, zuzuhören, Zeugnis abzulegen, Bilder und Berichte mit der eigenen Geschichte zu verweben, mit einem Leben als Journalistin und Autorin in Deutschland.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 06.04.2024

"Ohne jeden fiktionalen Dämmschaum" schreibt Ronya Othmann über den Genozid an den Jesiden, 2014 im Sindschar-Gebirge. Es war der titelgebender vierundsiebzigste Völkermord, so Rezensentin Marianna Lieder. Das Buch ist zwar als Roman ausgewiesen, vereint aber vor allem Reportage, Gespräche und Reisebericht miteinander, denn Othmann, selbst jesidisch-kurdischer Herkunft, ist an den Ort gereist, um mit Überlebenden zu sprechen. Dabei stellt sie (sich selbst) immer wieder die Frage, wie man von den Gräueltaten erzählen kann, erfahren wir. Weder schont die Autorin dabei sich selbst, noch ihre Leser und Leserinnen, geköpfte Säuglinge finden ebenso Eingang in den Band wie der Versuch, selbst noch die Erinnerung an den Genozid auszulöschen, so Lieder, die zudem auch merklich berührt Othmanns Beschreibung der Beziehung zwischen Vater und Tochter und die Frage nach der jesidischen Identität liest. Ein wichtiges und beeindruckendes Buch. resümiert sie.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 28.03.2024

Mindestens vierundsiebzig Mal wurden die Jesiden im Laufe ihrer Geschichte Opfer von Massakern, daher stammt der Titel von Ronya Othmanns neuem Buch, erzählt Rezensentin Stephanie von Oppen: Die Autorin hat nach dem Massaker im Sintschar-Gebirge 2014 gemeinsam mit ihrem Vater die Orte besucht, an denen der Genozid durch den Islamischen Staat verübt wurde. Sie schreibt von zerstörten Dörfen, traumatisierten Menschen, einem Prozess in München gegen eine IS-Anhängerin und über die Beziehung zu ihrem Vater, der selbst Jeside ist. Ein eindrückliches, bewegendes Buch, das auch davon erzählt, wie man das "eigentlich Unsagbare schreiben kann", hält die beeindruckte Kritikerin fest.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 25.03.2024

Ronya Othmann beschäftigt sich in diesem Buch mit den Jesiden, beziehungsweise in ihrer Selbstbezeichnung: Êzîden, einer Volksgruppe, der sie, als Tochter eines säkularen Jesiden und einer Deutschen, gleichzeitig angehört und nicht angehört, wie Rezensent Moritz Baumstieger darstellt. Und die hierzulande, so der Rezensent, nur 2014 kurz in den Medien Erwähnung fand, als sie vom Syrien heimsuchenden IS in genozidaler Absicht attackiert wurde. Was freilich nur eine von, siehe Titel, 74 historischen Verfolgungen war, der die ethnisch-religiöse Gruppe in ihrer Geschichte ausgesetzt war. Othmann tritt nicht als allwissende Expertin auf, führt Baumstieger aus, sondern als Suchende, die gelegentlich auch von Schuldgefühlen als Überlebende des IS-Massakers heimgesucht wird und die nun versucht, wenigstens einige Spuren der begangenen Verbrechen zu sichern. All dies fügt sich, stellt Baumstieger dar, nicht zu einer geradlinigen Erzählung, vielmehr breitet die Autorin die Ergebnisse einer vielfältigen Recherche aus, die sie unter anderem in Gerichtssäle, zu Checkpoints schiitischer und anderer Milizen, und auch zu ihrer eigenen Verwandtschaft nach Syrien führt. Alles kann und will dieses Buch nicht erklären, meint der insgesamt ziemlich beeindruckte Rezensent am Ende, gleichwohl rückt es wichtige und bislang in Deutschland kaum bekannte Zusammenhänge ins Licht.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 21.03.2024

Ronya Othmann hat ein wichtiges, ein großes Buch geschrieben, hält der beeindruckte Rezensent Ronald Düker fest: Der Titel hat eine bittere Geschichte, steht er doch für das vierundsiebzigste Pogrom, das an den Jesiden verübt worden ist, im August 2014 im Sindschar-Gebirge, erfahren wir. Ein paar Jahre danach reist Othmann in den Nordirak und spricht mit Überlebenden und mit ihren Familienmitgliedern, die mit ihrem Auto fliehen können und mitansehen müssen, wie der IS ihre Kunstschätze und Heiligtümer zerstört, erzählt Düker, merklich bewegt nicht nur von dem, was erzählt wird, sondern auch von der Kraft und der Stärke, mit der die Autorin scheibt. Eigentlich handelt es sich hier nicht um einen Roman, meint er, leider ist das Geschilderte, wie der Fall einer Konvertitin, die ein Kind im Irak verdursten lässt, nicht erfunden. Ein Buch, das unbedingt gelesen werden muss, resümiert er.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 20.03.2024

Immer wieder ist Ronya Othmann - oft mit ihrem Vater - zu Verwandten in den Irak gereist und in die Türkei. Und hat dabei Material gesammelt über jesidische Geschichte und die Verfolgung der Jesiden über die Jahrhunderte hinweg, erzählt Rezensentin Eva Behrendt. Chronologisch aufbereitet hat sie das nicht, vielmehr kann die Rezensentin bei der Lektüre mitverfolgen, wie Othmann ihr Schreiben über die sonst nur mündlich überlieferte Geschichte erfindet - weshalb die Gattungsbezeichnung "Roman" für das Buch nicht ganz abwegig ist, meint Behrendt. Sie ist bald ganz mitgerissen vom Sammel-"Furor" der Autorin und begleitet ihre Reisen mit Suchen im Internet. Und noch etwas imponiert ihr: Gerade bei den großen Gräueln, die Othmann beschreibt, sind es die "kleinen Alltagsschilderungen", die sie bei der Stange halten.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.03.2024

Rezensent Alexandru Bulucz trifft sich mit Ronya Othmann, um mit ihr über den neuen Roman und das Schicksal der Jesiden zu sprechen. Denn davon handelt auch das zweite Buch der als Tochter eines jesidischen Vaters geborenen Autorin. Bulucz spricht von einer "großangelegten Schmerzensdarstellung", die Othmann nun weniger fiktionalisert als noch im Vorgängerroman mit dieser Mischung aus Autobiografie, Biografie, Reiseliteratur und Geschichtsschreibung fortsetzt. Othmann, die im Mittelpunkt des Buches steht, erzählt hier von ihren Reisen nach Kurdistan, von Ermordung, Vertreibungs- und Fluchtgeschichte ihrer Familie, überhaupt vom Genozid an den Jesiden nach dem 74. Ferman durch den "Islamischen Staat". Erinnerungen und "poetologische" Passagen wechseln sich mit "manisch" dokumentierenden Szenen ab, immer wieder gibt Othmann Komplexitäten Raum, erkennt Bulucz. Von den brutalen Schicksalen einzelner Jesiden und der politischen und juristischen Aufarbeitung des Genozids liest er hier ebenso wie von jesidischer Kultur. Ein "Meilenstein der literarischen Genozidforschung", schließt der Kritiker.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 09.03.2024

Eine ausführliche Rezension widmet der merklich bewegte Rezensent Tobias Lehmkuhl dem neuen Roman von Ronya Othmann: "Vierundsiebzig" heißt er, das bezieht sich auf den Völkermord im Shingal, der in der Zählung der Jesiden den 74. Versuch darstellt, sie auszulöschen. Othmann hat hier keinen klassischen Roman geschrieben, erklärt Lehmkuhl, sondern eine aus Essay, Erzählpassagen, Reflexion und Reisebericht bestehende Annäherung an die Frage, wie man über Genozid schreibt, über die Geschichte der eigenen Familie, die so eng mit der Geschichte des jesidischen Volkes verbunden ist. 2014 wird der Genozid im Shingal verübt, 2018 reist die Autorin erstmals wieder dorthin, eine Reise, die den Kern des Buches darstellt, so der Kritiker, der sich der Dringlichkeit von Othmanns Schilderungen nicht entziehen kann.
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