Toni Morrison

Rezitativ

Cover: Rezitativ
Rowohlt Verlag, Hamburg 2023
ISBN 9783498003647
Gebunden, 96 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Aus dem Amerikanischen von Tanja Handels. Mit einem Nachwort von Zadie Smith. Wiederentdeckung von Toni Morrisons einziger Erzählung, erstmals 1983 erschienen und nie zuvor ins Deutsche übersetzt. Die Nobelpreisträgerin spielt darin mit unserer Wahrnehmung: Von Beginn an wissen wir, dass eine der beiden Hauptfiguren schwarz ist und die andere weiß - doch welche ist welche? Twyla und Roberta begegnen sich als Achtjährige im Kinderheim. Sie werden Vertraute, geben einander Halt und Trost. Sie sind unzertrennlich, doch später verlieren sie sich aus den Augen. Immer wieder begegnen sie einander zufällig, erst in einem Diner, dann im Supermarkt und bei einer Demonstration. Sie stehen in jeder Hinsicht auf verschiedenen Seiten und sind sich uneinig über die wichtigsten Fragen - trotzdem fühlen sich die beiden Frauen einander tief verbunden. "Rezitativ" erzählt mit frappierender Aktualität über eine Mädchenfreundschaft und die Auswirkungen von Rassismus und Klassenzugehörigkeit auf die Beziehungen, die unser Leben prägen.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 28.04.2023

Zwei Mädchen, später Frauen - die eine weiß, die andere schwarz - begegnen sich im Kinderheim und stellen fest, dass sie mehr gemeinsam haben, als sie voneinander unterscheidet - davon handelt Toni Morrisons einzige Erzählung, fasst Rezensentin Judith von Sternburg zusammen. Bis zum Schluss weiß die Leserin nicht, welche der beiden Frauen erzählt, wer wer ist. Und genau das, so die Rezensentin, ist der Clou dieser Geschichte, das Experiment - ein Experiment, welches auf ganzer Linie glückt. Denn diese verknappte, nur scheinbar simple Erzählung zeigt doch auf äußerst kluge Weise, wie absurd die Zuschreibungen von Eigenschaften aufgrund der Hautfarbe sind, ja, wie absurd es ist, dass wir immer noch über Hautfarbe sprechen (müssen), findet die begeisterte Rezensentin, welche im Übrigen auch die Leistung der Übersetzerin gewürdigt wissen will. Denn Tanja Handels gelingt es, so von Sternburg, einen Ton zu treffen, der in der Schwebe lässt, was in der Schwebe gelassen werden sollte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.04.2023

Über ein echtes Meisterwerk darf sich Rezensent Hubert Spiegel freuen, eines, das herausfordert: Toni Morrison hat eine Erzählung über zwei Mädchen geschrieben, von denen die eine weiß, die andere schwarz ist. Und zwar ohne klarzumachen, wer wer ist - entsprechende Hinweise stiften Verwirrung und werden mal der einen, mal der anderen zugeordnet, erklärt Spiegel das Wechsel- und Ratespiel. Die beiden Mädchen treffen zunächst im Waisenhaus aufeinander, freunden sich an, berichtet er, werden dann aber auseinandergerissen und können sich nur noch sporadisch sehen, bis sie sich irgendwann in oppositionellen Demogruppen wiederfinden. Immer werden dabei von der Autorin als Hinweise lesbare Formulierungen von "unförmigen Haaren" oder Hochzeiten mit IBM-Managern aufgegriffen, bei deren Interpretation der Kritiker zwischen detektivischem Spürsinn und "racial profiling im Lesesessel" schwankt. Das einzige, was er zu bemängeln hat, ist, dass es bis zur hervorragend gelungenen deutschen Übersetzung vierzig Jahre gedauert hat, aber bei diesem so klugen Buch, das noch um ein ebenfalls herausragendes Nachwort von Zadie Smith ergänzt wurde, hat sich das Warten für ihn gelohnt.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 12.04.2023

Ein "brilliantes Stück Prosa" ist diese Kurzgeschichte von Toni Morrison aus dem Jahr 1983 für Rezensentin Tanya Lieske. Morrison erzählt die Geschichte zweier Mädchen, die zusammen in einem Waisenhaus aufwachsen und sich später als Erwachsene mehrmals zufällig begegnen, schreibt die Kritikerin. Die Erzählung ist ein Experiment: Die Leser wissen, dass eines der Mädchen weiß und eines schwarz ist, allerdings nicht welches von beiden. Während die Autorin nun zahlreiche Hinweise einbaut, die allerdings nie eindeutig sind, wird den Lesern das eigene stereotype, mitunter rassistische Denken vor Augen geführt, so die Kritikerin. Lieske bewundert die "allegorische Schärfe" und "humane Kraft" dieser kurzen Erzählung, die eindringliche Fragen über den Umgang mit Rassismus und kollektiver Schuld stellt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 25.03.2023

Die einzige Erzählung, die die 2019 verstorbene Toni Morrison geschrieben hat, "ersetzt ganze Forschungsbibliotheken", schreibt der begeisterte Rezensent Tobias Rüther. Vierzig Jahre nach Erscheinen erstmals ins Deutsche übersetzt, zeige die Geschichte zweier Freundinnen auf knappem Raum auf, worauf Rassismus fußt. In einem großen Bogen problematisiere die Literaturnobelpreisträgerin das 20. Jahrhundert in den USA und schaffe es, die Leser bis zum Schluss in die eigenen Klischee- und Vorurteilsfallen tappen zu lassen, weil sie nichts über die Hautfarbe der beiden Protagonistinnen erzählt. Zweimal hat Rüther die Erzählung deshalb gelesen - um festzustellen, dass die Scham über die eigenen Abgründe weit älter ist als die kompakte Geschichte, in der Morrison spiegelt, wieso Menschen schwarz und weiß denken.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 25.03.2023

Endlich, endlich liegt diese großartige Erzählung von Toni Morrison auch auf Deutsch vor, freut sich Rezensent Jörg Häntzschel überschwänglich. Er ist angetan von der Idee, die Geschichte von zwei Mädchen im Heim zu erzählen, die sich nur in ihrer Hautfarbe unterscheiden, ohne aber deutlich zu machen, welche schwarz ist und welche weiß. Dass die Autorin ständig mit Andeutungen wie gelockten Haaren, Religion und Essensvorlieben spielt, nur um sie dann gleich wieder aufzulösen, ist für ihn nahezu ein Geniestreich, der internalisierte Vorstellungen von Hautfarbe zu offenbaren und enttarnen weiß. Auch die Küchenhilfe im Heim beeindruckt ihn als eine Figur, "deren Wesenskern darin besteht, ein Niemand zu sein", wie Zadie Smith in ihrem Nachwort über das völlig unterdrückte Leben Maggies schreibe. Vielschichtig, entwaffnend, ehrlich und deswegen absolut zu empfehlen, resümiert Häntzschel.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 16.03.2023

Grandios irritierend ist diese Erzählung der Nobelpreisträgerin Toni Morrison, freut sich Kritiker Daniel Haas. Es geht um die beiden Mädchen Roberta und Twyla, die zusammen aufwachsen und sich später, nach langer Zeit, in der Nähe von New York wiedertreffen, in einer von Arbeiterelend und Gentrifizierung geprägten Kleinstadt. Der Clou des Ganzen: Der Leser weiß, dass eine der beiden Frauen schwarz und eine weiß ist, wir erfahren aber nicht welche. In dem Morrison diese Antwort verweigert, entzieht sie sich klischeehafter Rollenzuschreibungen, so der Rezensent, und führt dem Leser sein zwanghaftes Bedürfnis vor Augen, in Kategorien zu denken. Damit schafft die Autorin eine "humanistische Vision" und ein Statement gegen Rassismus, allerdings ohne sich zu sehr der politischen Ideologie zu verschreiben, stellt Haas überzeugt fest.