Didier Eribon

Eine Arbeiterin

Leben, Alter und Sterben
Cover: Eine Arbeiterin
Suhrkamp Verlag, Berlin 2024
ISBN 9783518431757
Gebunden, 272 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Aus dem Französischen von Sonja Finck. Eigentlich hatte Didier Eribon sich vorgenommen, ab jetzt regelmäßig nach Fismes zu fahren. Doch seine Mutter stirbt wenige Wochen nach ihrem Umzug in ein Pflegeheim in dem kleinen Ort in der Champagne. Wie in "Rückkehr nach Reims" wird dieser Einschnitt zum Ausgangspunkt für eine Reise in die Vergangenheit. Eribon rekonstruiert die von Knappheit und Zwängen bestimmte Biografie einer Frau, die an einen brutalen Ehemann gekettet blieb und sich sogar in ihren Träumen bescheiden musste. "Meine Mutter", hält er fest, "war ihr ganzes Leben lang unglücklich."

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 20.03.2024

Sieben Wochen hat Didier Eribons Mutter noch im Pflegeheim überlebt, und er hat sie nur ein einziges Mal besucht! Kein Wunder, dass sich Eribon mit Schuldgefühlen herumplagt, mit denen Nina Apin in ihrer Rezension warmherzig sympathisiert. Die Schuldgefühle galten aber offenbar vor allem der Tatsache, dass er der Mutter kein besseres Heim habe bieten können. Naja, sie haben vielleicht auch mit seiner Familie zu tun. Eribon hat zwar Brüder, aber die sind Prolls und hetero, und Eribon verachtet sie, erzählt Apin. Dennoch empfiehlt sie das Buch vor allem wegen der Sozialanklage, die Eribon leiste. Die Zustände in französischen Pflegeheimen seien unhaltbar, Eribon prangere sie schonungslos an. Interessant findet Apin auch, dass das Pflegeheim für die Mutter offenbar nicht nur schlecht war: Ganz am Ende verliebte sie sich immerhin nochmal in einen Ko-Insassen, bis der stirbt. Dann gibt auch sie auf. Eribon habe diese Beziehung gutgeheißen, aber die "mackerhaften Brüder" nicht. Beschönigend sei an dem Buch nichts, verspricht die Rezensentin. Offen rede Eribon auch über den Rassismus seiner Mutter, den sie mit so vielen anderen Menschen aus der Unterschicht teilte.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 16.03.2024

Keineswegs wird man Didier Eribons neuem Buch gerecht, wenn man es auf ein Schlagwort wie Autofiktion reduziert, meint Rezensent Cord Riechelmann. Denn dieses Werk, das sich dem Leben der Mutter des Autoren widmet, verdient in seiner Verbindung von autobiografischer Erzählung und politisch-moralischer Reflexion, nach Meinung des Kritikers eine gehaltvollere kritische Würdigung. Riechelmann erzählt, wie es Eribon gelingt, in die Beschreibung eines Gesprächs zwischen ihm und seiner Mutter Bezüge zu seinem eigenen Werdegang als Intellektueller einzuflechten. Auch ansonsten gelingt es dem Autor aufs Anregendste, das Persönliche mit einem der Aufklärung verpflichteten Nachdenken über Kultur und Gesellschaft zu verbinden, freut sich der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 16.03.2024

Rezensent Tilman Krause kann nicht viel anfangen mit dem neuen Buch von Didier Eribon - und das aus mehreren Gründen . Allzu viel neues, was nicht schon aus "Rückkehr nach Reims" bekannt war, erfährt Krause hier nicht. Dass Eribon seine Mutter exakt zweimal im Pflegeheim besuchte, erfährt er hier allerdings schon. Die Lebensgeschichte der Frau ist nicht sonderlich interessant und wird von Eribon entsprechend mit allerhand "Lesefrüchten" gespickt, hält der Kritiker fest, der hier beispielsweise nicht zwingend originelle Verweise auf Albert Cohens Mutter-Roman entdeckt. Und wenn Eribon schließlich mit der Philosophie und politischen Theorie abrechnet, da sie das Alter "konzeptuell unsichtbar" gemacht hätten, erinnert Krause Eribon daran, wie massiv aktuell über die "Alten" debattiert wird.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.03.2024

Ja, Alter ist gräßlich, Sterben auch, und die Station dazwischen, im Pflegeheim kann ebenfalls von ausgesuchter Scheußlichkeit sein. Rezensent David Hugendick erkennt das ohne weiteres an. Didier Eribons Buch über das Sterben seiner Mutter geht ihm trotzdem auf die Nerven. Das hat mehrere Gründe: Die Erzählung vom unentrinnbaren Arbeiterschicksal kennt er schon aus allen anderen Eribon-Büchern. Vielleicht hätte es der Autor zur Abwechslung mal mit etwas Empirie versuchen können, denkt sich der Kritikker. Dann die aufgebrezelte Sprache Eribons, die noch den einfachsten Sachverhalt mit "theatralischem Imponierjargon" aufbläst. Und schließlich die unverhältnismäßig große Ausbreitung von literarischen Fundstücken zum Thema - ein Problem schon deshalb, denkt sich Hugendick, weil Beckett, Brecht und Hrabal den von sich selbst stark beeindruckten Eribon recht "blass" aussehen lassen. Vielleicht sollte Eribon doch mal einen Blick auf die Welt außerhalb der eigenen Familie werfen, denkt sich der gelangweilte Kritiker.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 12.03.2024

Ein auf lehrreiche Art misslungenes Buch ist das, findet Rezensent Guido Kalberer. Didier Eribon widmet sich darin dem Leben seiner Mutter, der er sich allerdings nicht als einem Individuum nähert, sondern als Vertreterin einer Klasse, nämlich der Arbeiterklasse. So zeichnet er nüchtern und unterstützt durch literarische Verweise nach, wie die Mutter ein hartes Leben voller Arbeit und eine Ehe ohne Liebe führt und schließlich im Alter unter dem kaputtgesparten französischen Gesundheitssystem leidet, resümiert Kalberer. Nicht verstehen kann Eribon laut Kalberer, warum die Mutter sich im Alter der politischen Rechten zuwendet und rassistische Sprüche klopft. Hier wird für den Rezensenten deutlich, dass das Buch weniger von der Arbeiterin handelt als von Eribon selbst, dem Arbeitersohn, der seinem Milieu entkommen ist, in seinem Leben Wahlfreiheit hatte, und sich intellektuell von seiner Vergangenheit abschottete. Daran, den Lebensweg der Mutter tatsächlich politisch zu analysieren, scheitert er eben deshalb, schließt der Rezensent.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 12.03.2024

Ein Buch, das Konkretion und philosophisch-politische Analyse gekonnt und auf literarisch hohem Niveau verbindet, hat Didier Eribon geschrieben, so Rezensent Christoph Vormweg. Es widmet sich, lernen wir, der Mutter des Autors, die nach einem langen, harten Leben in einem Pflegeheim ihrem Tod entgegen sieht. Wer Eribons "Rückkehr nach Reims" kennt, wird laut Vormweg vieles wiedererkennen in der Beschreibung der Jugend des Autors, aber auch in dessen Scham über seine Herkunft. Zudem ist das Buch, heißt es weiter, eine politisch engagierte Anklage des französischen Gesundheitssystems. Während die dem Alltäglichen gewidmeten Passagen leicht zu lesen sind, schreibt Eribon in den analytischen Passagen durchaus komplex, so der Kritiker. Es geht dabei laut Rezensent auch um die Diskrepanz zwischen Eribons Herkunft aus der Arbeiterklasse und seiner Karriere im Bildungsbürgertum. Insofern ist das von Sonja Finck sehr gut übersetzte Buch gleichzeitig ein Porträt der Mutter und ein intellektuelles Selbstporträt, meint Vormweg.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.03.2024

Rezensent Nils Minkmar ist hellauf begeistert von Didier Eribons neuem Buch. Für ihn versammeln sich dort alle Fähigkeiten, die der Autor auf seinem - von Minkmar nochmals recht ausführlich rekapitulierten - Werdegang: vom Sohn einer Arbeiterfamilie in Reims zum Lehrer, dann zum angesehenen Akademiker und Pionier der Schwulen- und Lesbenbewegung und schließlich zum Bestsellerautor und Star-Intellektuellen. Und auch hier, in der Geschichte über seine im Altersheim verstorbene Mutter, brilliere Eribon mit soziologischen Betrachtungen zur Institution Altersheim, mit virtuosen Ausflügen ins Denken von Foucault, Bourdieu oder Simone de Beauvoir, aber eben auch mit - und das scheint den Kritiker am meisten zu beeindrucken - einer großen Menschlichkeit: Gar nicht akademisch verquast, sondern Unsicherheits- und Schamgefühle zulassend erzähle der Autor von letzten Momenten mit seiner Mutter, ihrem Humor, von seiner Überforderung mit der Verlagerung ins Altersheim und die Schuldgefühle angesichts ihres dortigen frühen Tods. Ein komplexes, gleichzeitig sehr zugängliches und tief berührendes Buch, schwärmt der Kritiker, eine "Hymne an die Schwäche" und doch "federleicht".
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 07.03.2024

Beeindruckt bespricht Rezensentin Barbara von Machui Didier Eribons neues Buch, das sich dem Leben, vor allem den letzten Lebensjahren seiner Mutter widmet. Diese wuchs in Nordfrankreich in armen Verhältnissen auf, erfahren wir, war jahrzehntelang mit einem brutalen Mann zusammen, den sie nicht liebte, arbeitete von früh bis spät. Sie, die einen " fröhlich-unbekümmerten Rassismus" pflegte, konnte zu dem Aufstieg ihres Sohns ins linke Kulturbürgertum keinen Bezug finden, erzählt die Kritikerin. Eribon porträtiert seine Mutter als eine unglückliche Frau, das Buch ist eine Art verspätete Liebeserklärung an sie, meint Machui. Gleichzeitig aber stelle es eine harte Anklage dar gegen das System der Altersversorgung, die Art, wie alte Menschen in unterfinanzierten Institutionen weggesperrt werden und so, wie auch seine Mutter, schnell jeden Lebensmut verlieren. Diese Passagen sind mit Statistiken unterfüttert, erläutert die Rezensentin, und enthalten außerdem Verweise auf einschlägige Bücher von Simone de Beauvoir und Norbert Elias. Man fragt sich bei der Lektüre der Kritik unwillkürlich, wo eigentlich der Sohn die ganze Zeit war, den die Mutter jeden Abend verzweifelt aus dem Heim anrief.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 02.03.2024

Rezensent und Schriftsteller Nico Bleutge sieht in Didier Eribons Buch über seine im Pflegeheim verstorbene Mutter eine logische Fortsetzung bzw. Ergänzung seines Bestsellers "Rückkehr nach Reims", der dem Tod des Vaters gewidmet war. Auch diesmal geht es um Eribons Herkunft aus der Arbeiterklasse und um die "Dialektik" von Verbundenheit bei gleichzeitiger Abspaltung von dieser Herkunft, aber mit Fokus auf eine Analyse der sozialen Institution Pflegeheim - die hier, wie für Bleutge nicht anders zu erwarten- mit Begriffen wie "struktureller Misshandlung" oder "institutioneller Gewalt" bedacht wird. Das sei angesichts der "chronischen" Unterfinanziertheit der Institution natürlich berechtigt, aber etwas mehr Differenzierung innerhalb Frankreichs hätte Bleutge sich gewünscht. Schade findet er vor allem auch, dass Eribons Kritik oft nur in moralische Appelle mündet. Deutlich spannender und ertragreicher scheinen ihm die Passagen, die der Autor sprachlich "detailscharf und reflexionsgesättigt" ganz dem Dasein der Mutter widmet: ihrer Arbeit in der Fabrik, ihrem Dialekt, ihrem obsessiven Rassismus, dem Fernsehen - das wiederum zählt für Bleutge zum "Intensivsten", was in den letzten Jahren über Elternschaft geschrieben worden sei.

Buch in der Debatte

Efeu 11.03.2024
Max Florian Kühlem berichtet in der SZ von Didier Eribons Aufritt bei der Lit.Cologne, wo dieser sein neues Buch "Die Arbeiterin" über die letzten Wochen seiner Mutter in einem Pflegeheim vorstellte. "Das deprimierende Thema spricht Eribon in aller Klarheit, persönlicher Betroffenheit und analytischer Schärfe an." Unser Resümee