Efeu - Die Kulturrundschau

Ein röchelndes und falsettierendes Wrack

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11.03.2024. Die Oscars sind vergeben: Gleich sieben gingen an Christopher Nolans "Oppenheimer". Eine Rückkehr zu alten Oscar-Traditionen meinen SZ und Standard. Zeit online vergibt Noten für die schönsten und hässlichsten Roben des Abends. Die FAZ ist komplett hingerissen von Wolfgang Rihms "Hamletmaschine" in Kassel - vor allem dank des Dirigenten Francesco Angelico, der die phantastischen Sänger auf Händen trägt. Die SZ bewundert die immense Farbskala des Popproduzenten Jack Antonoff.
9punkt - Die Debattenrundschau vom 11.03.2024 finden Sie hier

Film



Die Oscars sind vergeben: "Oppenheimer" ist mit sieben Goldjungen (darunter "bester Film", "beste Regie", "Bester Hauptdarsteller" - Cillian Murphy - und "Bester Nebendarsteller" - Robert Downey Jr.) der Abräumer des Abends in fast allen Hauptkategorien, gefolgt von "Poor Things" (unsere Kritik) mit vier Auszeichnungen, darunter "beste Hauptdarstellerin" für Emma Stone, die damit Sandra Hüller geschlagen hat. Martin Scorseses für zehn Oscars nominierter "Killers of the Flower Moon" (unsere Kritik) ging völlig leer aus. Der Oscar für den besten internationalen Film geht an Jonathan Glazers "Zone of Interest" (unsere Kritik), der damit "Perfect Days" von Wim Wenders (unsere Kritik) und "Das Klassenzimmer" von İlker Çatak (unsere Kritik) schlägt. Zusammenfassungen des Abends liefern unter anderem Variety, Tagesspiegel und FAZ.

"Nachdem die Oscars 2023 ein verrücktes, migrantisches Fest waren, stimmte die Academy heuer für das klassische, technikverliebte Kino mit maskulinem Touch, den Nolan wie kein anderer der heuer nominierten Regisseure ausstrahlt", resümieren Valerie Dirk und Jakob Thaller im Standard den Abend. Tatsächlich, "Oppenheimer" ist kein "quirliger Zeitgeist-Film wie im vergangenen Jahr 'Everything Everywhere All at Once'", konstatiert auch Andreas Scheiner in der NZZ. "Hätte die knapp 10 000 köpfige Akademie weitermachen wollen, wo sie aufgehört hat, wäre 'Barbie' in seiner verspielten Wokeness der naheliegende Gewinner gewesen. Oder auch die Komödie 'Poor Things' von Yorgos Lanthimos." Auch SZ-Kritikerin Susan Vahabzahdeh sieht mit diesem "klaren Sieger, den tatsächlich sehr viele Zuschauer gesehen haben", die "Rückkehr zu alten Oscar-Traditionen" vollzogen. "Dazu passte die Show dann auch ganz gut. Schon weil so viele Hollywood-Größen im Publikum und auf der Bühne dabei waren - Martin Scorsese und Robert De Niro (für 'Killers of the Flower Moon'), Jamie Lee Curtis, Steven Spielberg und Al Pacino, die Preise vergaben."

Mehr zu den Oscars: Dians Weis spricht für Zeit Online mit der Kostüm-Designerin Holly Waddington, die für ihre Arbeit in "Poor Things" ausgezeichnet wurde. Sandra Hüller hat dann zwar doch keinen Oscar bekommen, aber dafür kann man sich in der Arte-Mediathek mit ihren frühen Filmen trösten, die Fritz Göttler in der SZ empfiehlt. Und Ryan Gosling in Pink, der gemeinsam mit Slash seinen Barbie-Hit "I'm Just Ken" zum Besten gibt, sollte man gesehen haben: 



Abseits von Hollywood: Bert Rebhandl arbeitet sich für die FAS durch die aktuellen Neuveröffentlichungen von Pedro Almodóvar. Besprochen wird Éric Gravels "Julie - eine Frau gibt nicht auf" (online nachgereicht von der FAZ).
Archiv: Film

Design

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Carmen Böker resümiert für Zeit Online die Abendgarderobe, die bei der Oscar-Verleihung zur Schau gestellt wurde. Die meisten finden unter ihrem erbarmungslosen Blick keine Gnade: "Der halblange Tüllrüschenrock, den die Schauspielerin Erika Alexander über das bodenlange Grundmodell gezogen hatte (Ensemble vom Christian Siriano), darf bitte ruhig im Siebzigerjahre-Badezimmer hängen bleiben. Leider könnte das blassgraue, schulterfreie Kleid ihrer Kollegin Anya Taylor Joy (Dior Haute Couture) bei stilempfindlichen Minimalisten ähnliche Zeitreisereflexe auslösen: Das ging deutlich Richtung Belle Époque, der Rock kompliziert gefügt aus sich überlappenden Schabracken, deren Paillettenmuster an Korbmaranten erinnerte. Relativ eskapistisch auch die Wahl der Sängerin Ariana Grande: Deren - wir suchen noch nach dem richtigen Wort, Kleid fühlt sich zu klein an - Hommage an die Gute Hexe des Südens aus dem 'Zauberer von Oz' ließ viele Zuschauerinnen vermuten, sie habe halt unbedingt mit ihrer Daunendecke ausgehen wollen." Besser beraten, wer da zum zeitlosen klassischen Schwarz griff, etwa Sandra Hüller, "deren preiswürdiges Schiaparelli-Modell seitlich Flügel ausbreitete - ein Kleid, das sich seinen Platz verschafft und die entblößten Schultern nicht zart und nackt aussehen lässt, sondern stark."
Archiv: Design

Bühne

Szene aus Rihms "Hamletmaschine" in Kassel. Foto © Sylwester Pawliczek


Lotte Thaler (FAZ) hörte am Staatstheater Kassel Wolfgang Rihms spartenübergreifende "Hamletmaschine" nach dem Stück von Heiner Müller. Mit der Inszenierung von Florentine Klepper kann sie nicht viel anfangen ("Konventioneller geht's kaum") und Choreograf Valentin Alfery tut ihrer Meinung nach "des Guten zu viel". Aber die Musik! Und die Darsteller! "Auf der Opernbühne heißt dies, Hamlet singt nicht mehr. Deshalb überträgt Rihm einem Schauspieler die apokalyptische Abrechnung Müllers mit der Staatsgewalt. Jakob Benkhofer führt sie in einem grauenerregenden Monolog vor Augen, klanglich krass komprimiert in zwei Pistolenschüssen. Dem Sänger des Hamlet bleibt der Ekel, vor der Welt und vor sich selbst. Er ist ein röchelndes und falsettierendes Wrack. Hohe Geigen haben es blutig gestochen, Klavier und Kontrafagott in den Abgrund gezogen - eine Wahnsinnsszene... Peter Felix Bauer, der seine Hamletrolle ungewöhnlich spät übernahm, meistert die Monsterpartie mit wahrem Perfektionsdrang. Allerdings hat er wie auch alle anderen Protagonisten im Dirigenten Francesco Angelico einen Mentor, der ihn auf Händen trägt."

Auch FR-Kritikerin Judith Sternburg ist beeindruckt: "Fabelhaft sofort, wie gut Tänzerinnen einen 'Engel mit dem Gesicht im Nacken' (Walter Benjamins 'Engel der Geschichte') darstellen können. Vor dem finsteren Grund der diesjährigen Kasseler Bühnenrauminstallation 'Antipolis', als 'Hamletmaschinen'-Bühne eingerichtet von Sarah-Katharina Karl, wirken die zitronengelben, Elisabethanisches zitierenden Kleider erst recht. Wie überhaupt die Kostüme von Miriam Grimm ein Trumpf des Abends sind, zum Knallgelben kommt das Nachtschwarze und Alltagsbunte." In der nachtkritik sekundiert Simon Gottwald: "Manchmal ist die Bühne sogar etwas zu voll. ... Aber Kleinigkeiten wie diese können vernachlässigt werden, wenn man sich eine Inszenierung anschauen möchte, die zwischen lustvoller Groteske und Weltschmerz pendelt wie der Sandbottich über der Bühne."

Besprochen werden außerdem Jasper Brandis Inszenierung des "Oedipus" von Sophokles am Theater Regensburg (Großes Theater, lobt nachtkritiker Thomas Rothschild: "Der Ödipus des Jonas Julian Niemann ist ein heutiger Mensch, angefüllt mit antikem Furor. Der Mythos bedarf keiner Oberflächenaktualisierung. In Regensburg wird erfahrbar, wie sehr er nach wie vor ergreift, wenn man ihn ernst nimmt"), Alessandro Schiattarellas "Breaking Point" am Schauspiel Hannover (nachtkritik), Felix Metzners Adaption von Bernhards "Auslöschung" am Staatstheater Darmstadt (den Bernhard-Schmäh mildert Metzner "so ab, dass er im inneren Monolog der Hauptfigur, teils auf Figuren verteilt, nie lästig wird. ... Schöner Theaterabend", lobt Marcus Hladek in der FR), Ibsens "Volksfeind" in der Inszenierung von Julienne De Muirier am Theater Dortmund (nachtkritik), Walter Sutcliffes Inszenierung von Puccinis "La bohème" in Halle (nmz), Johann Christian Bachs Oper "Zanaida" im Münchner Prinzregententheater (nmz), Christoph Marthalers "Aucune idée" im Schiffbau Zürich (NZZ), Anna-Sophie Mahlers radikale Umarbeitung von Johnsons "Jahrestagen" am Schauspiel Leipzig (FAZ), Heiki Riipinens Inszenierung von Ibsens "Hedda Gabler" am Berliner Ensemble (SZ) und "Goethes Faust, allerdings mit anderem Text und auch anderer Melodie" von Clemens Sienknecht und Barbara Bürk am Schauspiel Hannover (SZ).
Archiv: Bühne

Kunst

Bei den Ruhrbaronen fürchtet Stefan Laurin, der von der Kunstsammlung NRW verliehene Kunstpreis "K21 Global Art Award" könnte in diesem Jahr an die kanadische Künstlerin Hajra Waheed gehen. Deren "große Leidenschaft jenseits der Kunst scheint der Kampf gegen Israel zu sein". Sie gehörte zu den Unterzeichnern des Aufrufs, der den Ausschluss Israels von der diesjährigen Biennale in Venedig fordert. Waheed unterzeichnete "schon im Oktober 2023, nur wenige Tage nach dem Abschlachten von Juden, einen 'Offenen Brief der Kunstszene an Kulturorganisationen', in dem es heißt, es gäbe 'zahlreiche Beweise dafür, dass wir Zeugen eines Völkermords sind, bei dem das ohnehin prekäre Leben der Palästinenser als unwürdig erachtet wird.' Damit waren natürlich nicht die ermordeten Israelis und die Bürger anderer Staaten gemeint, die von den islamischen Banden umgebracht wurden."

Besprochen wird die Ausstellung "Apropos Hodler - Aktuelle Blicke auf eine Ikone" im Kunsthaus Zürich, die den Schweizer Nationalmaler mit 30 zeitgenösschen Werken rund um Hodlers Gemälde "ausgeklopft wie einen alten Teppich", notiert ein zufriedener Philipp Meier in der NZZ.
Archiv: Kunst

Architektur

Kengo Kuma, Coeda House. Foto: Kawasumi Kobayashi Kenji Photograph Office


Angesichts der tristen deutschen Architektur wurde FAZ-Kritiker Matthias Alexander bei einem Interview mit dem japanischen Architekten Kengo Kuma, dem die Bundeskunsthalle Bonn gerade eine Ausstellung widmet, ganz warm ums Herz: "Ohne Fachjargon und ohne Rückgriff auf zusammengeklaubte Begrifflichkeiten aus der Philosophie erläutert er die Maximen seiner Entwurfspraxis in einfachen, bildreichen Worten. Was wieder eine Leerstelle hierzulande vor Augen führt: Die Position des Großen Weisen unter den deutschen Architekten, der in der Hochschullehre und mit Publikationen zu Grundfragen der Architektur ebenso hervorgetreten ist wie mit international beachteten Bauten, ist unbesetzt. Der Ansatz Kumas ist ein künstlerischer: Die Wirkung von Gebäuden lässt sich nicht allein mithilfe von Logik erfassen, er versteht seine Bauten vielmehr als Klangkörper, durch die er in diesen selbst, aber auch in den Betrachtern und Nutzern etwas zum Singen oder gar Tanzen bringen möchte. Was für manche esoterisch klingen mag, ist nur seine Art, die seelische Verarmung, die mit der Moderne einhergegangen ist, zu überwinden."
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Literatur

Buch in der Debatte

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Max Florian Kühlem berichtet in der SZ von Didier Eribons Aufritt bei der Lit.Cologne, wo dieser sein neues Buch "Die Arbeiterin" über die letzten Wochen seiner Mutter in einem Pflegeheim vorstellte. "Das deprimierende Thema spricht Eribon in aller Klarheit, persönlicher Betroffenheit und analytischer Schärfe an. Den Alten und Pflegebedürftigen sei es unmöglich, sich zu einer kollektiven Bewegung zusammenzuschließen, die für ihre eigenen Rechte eintreten könnte. ... Der Aktionsradius alter Menschen in der Welt ist maximal beschränkt. Deshalb sagt Eribon: 'Wir kennen das Leid dieses vulnerabelsten, unterdrücktesten und entrechteten Teils der Bevölkerung nur aus der Außenperspektive. ... Der Protestruf meiner Mutter war auch ein politischer Protestruf.' Ihre Proteste gingen auf der Mailbox des Telefons ihres Sohnes ein." Da klagte die Mutter, dass man ihr kaum noch helfe, aus dem Bett aufzustehen, sie nicht duschen lasse, ihre Windeln nicht wechsele."

Außerdem: Die Comiczeichnerin Elizabeth Pich füllt den Fragenbogen des Tagesspiegels aus. In den "Actionszenen der Weltliteratur" erinnert Elmar Krekeler daran, wie Graham Greene einmal gleich mit mehreren anonymen Einreichungen an einem Literaturwettbewerb teilnahm, bei dem es darum ging, Graham Greene zu simulieren.

Besprochen werden unter anderem Wladimir Sorokins "Doktor Garin" (online nachgereicht von der FAZ), Roberto Savianos "Falcone" (NZZ), Bora Chungs "Der Fluch des Hasen" (Jungle World), Georgi Demidows "Fone Kwas oder Der Idiot" (Standard) und Gabriel García Márquez' "Wir sehen uns im August" (SZ).

Und der Standard veröffentlicht das Gedicht "Schmetterlingseffekt" von Clemens J. Setz, dem zweiten Poeta Lauretus des Literaricums Lech:

"Dieser eine verheerende
Wirbelsturm letzte Woche
am anderen Ende der Welt:
Das war ich ..."
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Musik

Zumindest das erste Stück auf Igor Levits unter den Eindrücken des 7. Oktobers entstandene Aufnahme von Mendelssohns "Lieder ohne Worte" kann den FAZ-Kritiker Jan Brachmann nicht überzeugen: "Wäre der Klavierklang als solcher nicht so sensibel abschattiert, würde man keinen lebendigen Menschen mehr dahinter vermuten." Schon besser findet er "die drei Gondellieder mit ihrem sanft vernebelten Klang und der bleiernen Melancholie" sowie das Bonusstück "Chanson de la folle au bord de la mer" von Charles-Valentin Alkan: "Hier gibt Levit der Apathie eine gespenstische Ausdrucksqualität, wohingegen Mendelssohns übrige Lieder ohne Worte bei ihm keinerlei Spuren des Impulsiven, Spontanen oder der Hingabe an den lyrischen Moment zeigen. In seinem Geleitwort zur CD schreibt Levit, er habe die Wochen nach dem Anschlag 'in einer Mischung von Sprachlosigkeit und totaler Paralyse verbracht'. Aber Mendelssohns Kunst ist doch auf gar keinen Fall Kundgebung einer apathischen Seele?!"

Jack Antonoff hatte bei "fast der gesamten Neoklassik des mehrheitsfähigen Pop" der letzten Jahre seine Finger im Spiel, beziehungsweise auf den Reglern, schreibt Joachim Hentschel in seinem SZ-Porträt des Produzenten. "Der naheliegende Defätismus, Antonoff habe halt ein narrensicheres Rezept gemixt, ungefähr wie Phil Spector oder in den traurigen Mittachtzigern Dieter Bohlen, ist freilich Blödsinn. Seine Produktionen decken eine immense Farbskala ab, vom straff flippernden Jahrmarktspop bis zur jenseitigen Versenkung mit Klavier und unter Wasser brennenden Kerzen. Was Antonoff zu dem Charakter macht, an dem man in bewohnten Sphären derzeit nicht vorbeikommt, sind weniger die Ergebnisse. Es ist der Prozess. 'Für mich ist eine Aufnahme dann perfekt, wenn der Song sich wie ein Traum anfühlt', sagt Antonoff an einer Stelle, und so redet er eigentlich die ganze Zeit. 'Den Klang einer Band eins zu eins abzubilden wird ja oft als clevere Back-to-the-roots-Haltung verkauft, aber ich finde es sterbenslangweilig."

Besprochen werden ein Konzert in Wien des Swedish Radio Symphony Orchestras mit dem Sänger Christian Gerhaher (Standard), Ariana Grandes Album "Eternal Sunshine" (dessen "inflationär behauptete "'Selbstermächtigung'" laut Standard-Kritiker Karl Fluch "von einer Musik begleitet wird, deren Charakter sich in der Erfüllung der Form erschöpft, die angepasster und austauschbarer nicht sein könnte"), Asmik Grigorians Aufnahme von Strauss' "Vier letzten Liedern" (FAZ) und Norah Jones' Album "Visions", der es darauf laut FAZ-Kritiker Peter Kemper gelingt, "Alltagsphrasen in bedeutsame Kunst-Codes zu transformieren". Wir hören rein:

Archiv: Musik