Gerhard Roth

Das Alphabet der Zeit

Cover: Das Alphabet der Zeit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2007
ISBN 9783100660602
Gebunden, 818 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Die erste Erinnerung ist ein flackernder Schwarzweißfilm: Winter 1945, ein Fliegerangriff auf einen Zug, den das Kind überlebt. Zwanzig Jahre später ist aus dem Kind ein junger Medizinstudent geworden, der in der Anatomie der Grazer Universität Leichen seziert und heimlich ersten Schreibversuchen nachhängt. Dazwischen entfaltet sich ein Leben in unvergesslichen Geschichten und exemplarischen Szenen: meisterhaft und aus dem überwältigenden Reichtum der Erinnerung erzählt Gerhard Roth von den Bedrängnissen durch Elternhaus, Schule und Religion, aber auch von der Flucht in die Wunderwelten des Kinos und der Literatur und vom Glück, Menschen zu begegnen, die das eigene Leben für immer verändern.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 03.01.2008

Gerhard Roths voluminöse über 800 Seiten umfassende Autobiografie über seine ersten zwanzig Jahre in Kindheit und Jugend hat Rezensent Sven Hanuschek überaus beeindruckt, auch wenn er nicht immer mit allen Teilen ganz glücklich ist. Fasziniert hat ihn besonders der Prolog über die frühe Erinnerung an einen Fliegerangriff 1945 und mehr noch der Ausblick am Ende des Buchs über den Tod der drei Menschen, die ihm am nächsten standen. In den Erinnerungen dazwischen, gut 720 Seiten, findet er neben Höhepunkten immer wieder auch Längen. Zudem scheint ihm die Sprache, die Roth hier pflegt, bisweilen von allzu großer Nüchternheit. Dennoch hat ihn das Buch meistens gefesselt, zumal man hier gleichsam die Genese eines Schriftstellers verfolgen kann. Dabei attestiert Hanuschek dem Autor einen durchaus offenen und kritischen Umgang mit der eigenen Person. Von einigen Erinnerungen, die wohl nur wenige Menschen mit dem Autor teilen werden, scheint ihm Roth eine "keineswegs singuläre Kindheit unter autoritären Verhältnissen" zu beschreiben, mit Eltern, die stets um Anpassung und Unauffälligkeit bemüht waren.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 08.11.2007

Kein einfaches aber ein sehr intensives Leseerlebnis hat Rezensentin Bernadette Conrad mit dieser Lebensgeschichte auf 800 Seiten gehabt, die sie als "besondere Leistung" und "Fotografie inneren Lebens" allerwärmstens weiterempfiehlt. Denn hier fand sie nicht nur äußerst reflektiert und auf beeindruckendem sprachlichen Niveau ein Leben im 20. Jahrhundert geschildert. Am Ende fühlte sich die Rezensentin selbst eine "Denkschicht tiefer" in die eigene Biografie versetzt. Die erste Hälfte des Buchs behandelt Conrads Informationen zufolge die Kindheit des Autors am Rand von Graz im Schatten der Nazis und einer Mülldeponie. Teil zwei erzählt dann, wie "der Gechichtenerfinder Gerhard Roth wurde, was er ist" , ein Schriftsteller nämlich. Lediglich mit dem 35-seitigen Anhang und den darin befindlichen Daten und Informationen hadert die Rezensentin empfindlich und fragt: "Braucht es nach 779 Seiten sorgsamsten Erzählens" diese Informationen wirklich? Oder hatte Roth nur dort die Möglichkeit, die NSDAP-Mitgliedschaft seiner Eltern explizit zu benennen?

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 19.10.2007

Auf den 860 Seiten des sechsten Bandes des "Orkus"-Zyklus' hat Walter Hinck viel mehr entdeckt als Autobiografisches. Mit diesem Buch zeigt sich ihm der Autor einmal mehr als Meister der Verbindung von Erinnerung und Fantasie. Hinck folgt der persönlichen Entwicklung des Autors, liest Zeithistorisches und erkennt die von Gerhard Roth gesetzten Akzente, etwa sein "medizinisch-pathologisches Interesse" betreffend, um sodann in den "erzählerischen Hauptteil" des Buches überzugehen. Hier begegnet Hinck dem Leben als "Lebensroman", als beispiellose Verzahnung von Biografie und Werk. Ein Fest für Philologen, meint Hinck. Und ein fesselnder "Vaterroman", ein aus dem "Geschichtsinteresse" und dem Recherchedrang des Autors hervorgegangenes Generationen-Buch.
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Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 09.10.2007

Pünktlich zu seinem 65. Geburtstag hat Gerhard Roth eine Autobiografie über die ersten zwanzig Jahre seines Lebens geschrieben, bis zu dem Zeitpunkt, als er sich vom Vater lossagte, nicht Medizin studierte und Schriftsteller wurde. Das 800 Seiten starke Konvolut beeindruckt Karl-Markus Gauß alleine durch seine Materialfülle. Der "obsessive Sammler" Roth habe seine Erinnerungsfragmente aus dieser Zeit nicht zu einer durchgehenden Erzählung geformt, sondern sie zu einem beeindruckenden "puzzleartigen" Gebilde aufgeschüttet, dessen einzelne Partikel nur lose chronologisch angeordnet sind. Eine "schier überwältigende" Menge an Details aus den 40er, 50er und 60er Jahren hat der Rezensent hier bekommen. Ihm hat das offenbar gefallen, ganz besonders die Passagen mit den Erinnerungen an das Leben in der Grazer Vorortsiedlung nach dem Krieg, an die Großmutter aus Siebenbürgen oder an den Vater. Roth lasse dabei die Widersprüche nebeneinander bestehen, kausale Verknüpfungen gebe es nicht, Klarheit etwa in Bezug auf das Ausmaß der väterlichen Beteiligung am Nationalsozialismus ebenso wenig. Das nimmt der Rezensent Roth aber nicht krumm, auch so hat ihm die Lektüre eine Vielzahl an einzelnen Eindrücken beschert.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 28.08.2007

Einen leicht zwiespältigen Eindruck hat Gerhard Roths umfangreiche die Kindheit und Jugend des Autors im Graz der Nachkriegszeit umfassende Autobiografie bei Judith Leister hinterlassen. Sie schätzt den Autor als genauen Beobachter österreichischer Verhältnisse, die sich in der Geschichte seiner Familie prägnant spiegelt, und sieht in dem Buch auch ein Sittenbild der vierziger und fünfziger Jahre, das die Verdrängung der Nazi-Vergangenheit, die bigotte restriktive Moral und schwarze Pädagogik beschreibt. Nicht ganz ersichtlich ist für Leister, warum Roth der nicht sonderlich originellen These, Erinnerung sei unsicher, weil sie von späteren Erzählungen, Erlebnissen und Bildern überformt werde, so viel Raum gibt und sie durch das gesamte Buch mitschleppt, nur um dann doch relativ konventionell sein Leben zu erzählen. Sie hätte sich bisweilen ein weniger breites und ausführliches, mehr zuspitzendes Erzählen und damit auch deutlich weniger Seiten zu lesen gewünscht.
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