Norbert Niemann (Hg.), Eberhard Rathgeb (Hg.)

Inventur

Deutsches Lesebuch 1945-2003
Cover: Inventur
Carl Hanser Verlag, München 2003
ISBN 9783446203549
Gebunden, 408 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Was ist geblieben von fünfzig Jahren deutschsprachiger Literatur? Norbert Niemann, Schriftsteller, und Eberhard Rathgeb, Kritiker, stellen zusammen, was heute noch Sprengkraft besitzt, und lassen weg, was nur noch museal wirkt. Mit ihrer Auswahl und ihren Kommentaren, mit berühmten und vergessenen Namen setzen sie neue Akzente. Die Kombination aus Originaltexten, Einführungen zu den Autoren und konzentrierter Epochendarstellung ergibt ein spannendes Lesebuch.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 24.02.2004

Einen etwas zwiespältigen Eindruck hinterlässt die von Norbert Niemann und Eberhard Rathgeb vorgelegte Anthologie zu sechzig Jahren deutscher Literatur bei Andreas Nentwich, dem die zu "Texthäppchen" zusammengeschrumpfte Auswahl zu knapp und zu sehr aus dem Zusammenhang gerissen erscheint. Gegen die Textwahl der Herausgeber hat Nentwich weniger einzuwenden als gegen die Form, die sich ausschließlich an der Chronologie der Entstehung beziehungsweise Erscheinung der Werke orientiert und somit, wie Nentwich erläutert, "ästhetische Ungleichzeitigkeiten" kommentarlos einfängt, indem Früh- und Spätwerke nebeneinander gesetzt werden. So kommt Heinrich Böll mit Thomas Mann zusammen, Peter Weiss steht neben Gisela Elsner: Ein ganz Lebenswerk habe bei dem Prinzip keine Chance, wendet Nentwich ein. Erfreut nimmt er allerdings zur Kenntnis, dass die Herausgeber auch theoretische und essayistische Texte in ihre Auswahl einbezogen haben. Auch die literarische Verortung der ausgewählten Autoren in Kurzporträts beziehungsweise den sechs übergreifenden Begleitkapiteln findet bei Nentwich höchste Anerkennung, so dass er das Lesebuch nicht um des Lesebuchs wegen empfiehlt, sondern als Nachschlagewerk und "konzise Geschichte der deutschsprachigen Literatur seit 1945". Für eine Neuauflage empfiehlt der Rezensent entweder eine Erweiterung des Umfangs bezüglich der Texte oder ihre konsequente Schrumpfung auf Briefmarkengröße.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 01.12.2003

Ijoma Mangold ist gespalten. Grundsätzlich weiß er nicht recht, "was man mit diesem Buch überhaupt anfangen soll". "Sympathisch" sei es vor allem im Verzicht auf Strenge in der Zusammenstellung, andererseits verhindere das "lautlose", nicht problematisierte Weglassen einiger Autoren, dass man sich zu dem Werk in irgend einer Weise leidenschaftlich verhalten kann, klagt der Rezensent. Das Buch sei weder Fisch noch Fleisch, weder Kanon noch Lesebuch, eher in "handliche Phiolen abgefüllte Gewässerproben" aus dem Meer der Literatur. Am "anregendsten" findet Mangold die Abschnitte mit Texten von Soziologen und Philosophen, weil deren Denkhaltung in der gebotenen Kürze prägnant dargestellt werden könne, was bei einem literarischen Werk nicht möglich sei. Die "glücklich getroffenen" Einleitungen der einzelnen Stücke könnten in ihrer "Lakonie" und ihrer Subjektivität durchaus eine "locker gestrickte" Einführung in die deutsche Literatur nach 1945 darstellen. Die literarischen Werke selbst aber, das werde hier deutlich, sperrten sich gegen eine Einteilung in Perioden und Epochen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 29.10.2003

Die Kanonisierung beziehungsweise Anthologisierung der Literatur läuft zwangsläufig auf Rechthaberei hinaus, behauptet Martin Krumbholz. Mit welchem Recht, fragt er spöttisch, entscheidet der Blickwinkel einer Generation darüber, "was bleibt"? Dennoch gesteht Krumbholz den Herausgeber ansonsten zu, solide und ziemlich eigensinnig vorgegangen zu sein und viele überraschende Textausschnitte zu präsentierten, die keineswegs zur sogenannt schönen Literatur zählen, aber Epoche machten. Auch die kleinen Grenzausflüge in die Soziologie oder Philosophie finden das Gefallen des Rezensenten. Auffällig sei allerdings, bemerkt Krumbholz, dass die Originalität der Auswahl abnimmt, je mehr sich die Anthologie der Gegenwart nähere. Auch die Popliteratur sei wenig vertreten, und die Schweiz sowieso schmerzhaft unterrepräsentiert. So mancher heutiger Schriftsteller wird sich hier nachhaltig vermissen, kündet Krumbholz an. Doch welcher von den (zu) vielen Autoren heute, fragt er resigniert, will denn noch etwas sprengen, und seien es nur die Lesererwartungen?

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 09.10.2003

Eine solche Anthologie hätte Paul Michael Lützeler gerne als Schüler gehabt. Sechs Jahrzehnte deutscher Literatur werden dort präsentiert, ordentlich kommentiert, in Appetithäppchen serviert. Womit aber auch schon ein Nachteil der Anthologie benannt wäre, der allerdings in der Natur der Sache liegt, wie Lützeler den eigenen Einwand entkräftet: die Texte werden nie vollständig wiedergegeben. Sie sollen Anregungen, Hinweise liefern, wo es weiterzulesen lohnt. Deshalb wurden auch nicht nur Erzählungen und Romane in die Anthologie aufgenommen, so Lützeler, sondern ebenso Dramen, Gedichte, Essays oder Briefe von Philosophen und anderen Nicht-Literaten. Jedes Jahrzehnt werde ausführlich eingeleitet und sozialgeschichtlich abgesteckt; die Anmerkungen wiederum enthielten das Wesentliche zur Werkgenese des Autors, dem außerdem eine Kurzbiografie gewidmet sei. Natürlich kann eine Anthologie nicht erschöpfend sein, weiß der Rezensent und vermisst dennoch Schweizer Autorennamen; trotzdem sei das Lesebuch ein schöner und lebendiger Beweis dafür, dass die deutschsprachige Gegenwartsliteratur ganz und gar nicht langweilig oder gar schlecht sei.
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