Rahel Jaeggi

Fortschritt und Regression

Cover: Fortschritt und Regression
Suhrkamp Verlag, Berlin 2023
ISBN 9783518587140
Gebunden, 252 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Die Abschaffung der Sklaverei, die Einführung sozialer Sicherungssysteme, die Sanktionierung von Vergewaltigung in der Ehe gelten gemeinhin als gesellschaftlicher Fortschritt - als ein Wandel zum Besseren. Dennoch hat die Idee einer generellen Fortschrittsbewegung ihren alten Glanz verloren, ja, sie ruft sogar Skepsis hervor. In aller Munde ist hingegen die Diagnose der Regression. Sie wird diversen Zeiterscheinungen gestellt, vom rechtsautoritären Populismus bis zur Demokratiemüdigkeit. Rahel Jaeggi verteidigt in ihrem Buch das Begriffspaar Fortschritt und Regression als unverzichtbares sozialphilosophisches Werkzeug für die Kritik unserer Zeit. Als fortschrittlich oder regressiv versteht sie nicht nur das Resultat, sondern vor allem die Gestalt gesellschaftlicher Transformationen selbst. Indem sie nach den Erfahrungsblockaden fragt, die regressiven Tendenzen Vorschub leisten, entwickelt sie einen Begriff des Fortschritts, der eurozentrische Verzerrungen ebenso vermeidet wie die Vorstellung einer zwangsläufigen Entwicklungstendenz. Fortschritt, so zeigt sie, ist nicht der Vorlauf zu einem bereits bekannten Ziel, sondern der nie abgeschlossene Prozess der Emanzipation.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 14.03.2024

Hm, da scheint Rahel Jaeggi einen dritten Weg zwischen Universalismus und Werterelativismus gefunden zu haben, aber die Rezensentin Julia Werthmann ist nicht hundertprozentig zufrieden. Einen wichtigen Beitrag zur Debatte leistet Jaeggi aber dennoch, wenn man Werthmann richtig liest. Jaeggi rettet demnach den Begriff des Fortschritts, spannt ihn neu ein in das Begriffsduo "Fortschritt" und Regression", aber sie begreift Fortschritt nicht mehr als vorgezeichneten Weg des Menschen in eine (wenn auch vielleicht innerweltliche) Transzendenz, sondern als einen Problemlösungsprozess, der immer neu auf "gestörte Passungsverhältnisse" reagieren muss. Was Werthmann daran ein wenig zu stören scheint, ist die von der trockenen Metaphorik schon induzierte Nüchternheit der Angelegenheit: Werthmann freut sich zwar über Jaeggis klugen Vorschlag, den Begriff des Fortschritts neu zu fassen, aber die Sache scheint ihr zugleich etwas körperlos und abstrakt: Was sie vermisst, sind die realen und oft blutigen Konflikte in der Wirklichkeit, von denen diese Prozesse nicht zu trennen sind.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.2024

Für den Rezensenten Moritz Rudolph verkörpert Rahel Jaeggi den Berliner Drive in der Kritischen Theorie. Was Fortschritt bedeutet, setzt ihm die Philosophin gekonnt auseinander, indem sie ihn gegen alle Regressionsphänomene etabliert, ja die Regression als ein Teil von ihm begreift, über den es hinauszugelangen gilt. Fortschritt als sich ständig erweiternde und korrigierende Problemlösungskompetenz, das gefällt Rudolph, auch wenn das Miteinander von Regression und Fortschritt bei Jaeggi ihm mitunter Schwindel verursacht.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 26.01.2024

Die hier rezensierende Philosophin Olivia Mitscherlich-Schönherr liest das Buch ihrer Kollegin Rahel Jaeggi mit Spannung. Wenn Jaeggi antritt, in der Tradition der Frankfurter Schule, mit Mitteln des Pragmatismus das soziale Miteinander zu verbessern, ist sie erwartungsfroh. Wann sind soziale Veränderungen fortschrittlich, wann nicht? Der Frage geht die Autorin laut Rezensentin lesbar und doch auf komplexe Weise nach, indem sie für den sozialen Fortschritt plädiert, aber die Nachtseiten der Menschheit nicht ausblendet. Diese "selbstkritische Geschichtsphilosophie" ist für die Rezensentin bereichernd und anregend, allerdings scheint es ihr angebracht, die Frage nach der Tragfähigkeit des Konzepts immer wieder neu am Einzelfall zu stellen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 23.01.2024

Bis zu einem gewissen Punkt folgt Rezensent Oliver Weber der Argumentation, die Rahel Jaeggis Buch ausbreitet, gern. Die Philosophin beschäftigt sich, lernen wir, mit der Frage, inwiefern der wertende Begriff Fortschritt noch eine sinnvolle Kategorie für die Geschichtsbetrachtung ist, da er doch durch den Verlauf des 20. Jahrhunderts diskreditiert erscheint. Jaeggi möchte ihn, fasst Weber zusammen, retten, indem sie ihn von den teleologischen Modellen der älteren Geschichtsphilosophie löst und auf die Problemlösekompetenz von Gesellschaft abstellt: Wenn Probleme erkannt und retrospektiv als gelöst betrachtet werden, findet, so lautet laut Rezensent das Argument, Fortschritt statt. So weit so gut, meint Weber, aber was sind die Kriterien, die einen solchen Fortschritt anzeigen? Hier flüchtet sich die Autorin für seinen Geschmack in zu allgemeine Begrifflichkeiten, und auch eine Konkretisierung der Probleme, die sich der Gesellschaft stellen, bleibt sie schuldig. Insgesamt dennoch ein wichtiges Buch in Bezug auf geschichtstheoretische Fragen, schließt Weber, für unsere Gegenwart liest er hingegen wenig Hilfreiches.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 11.01.2024

Früher wussten wir, was Fortschritt ist, meint Rezensent Leander Scholz, heute sind wir uns da angesichts zahlreicher humanitärer und ökologischer Probleme nicht mehr sicher. Die Philosophin Rahel Jaeggi entwickelt nun in ihrem Buch einen neuen Fortschrittsbegriff, einen, der sich von linearen Modellen löst und davon ausgeht, dass es gesellschaftlich vor allem darum geht, Probleme zu lösen, und Fortschritt ist eben, wenn dies gelingt, fasst Scholz zusammen. Der Gegenbegriff ist, lernt der Rezensent von Jaeggi, Regression, also ein aus der Psychologie entstammender Begriff. Die Gesellschaft wird von der Autorin in Lernwillige und Lernunwillige geteilt und im Sinne der Organisationspsychologie wie ein Unternehmen beschrieben, was dem Rezensenten nicht politisch genug gedacht ist. Dennoch ein wichtiger Debattenbeitrag, so sein Fazit.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 23.12.2023

"Ideen aus der Philosophiegeschichte retten", das ist Rahel Jaeggis Programm, hält Kritikerin Paula Keller fest, die noch nicht ganz sicher zu sein scheint, was sie von dem neuen Buch der Philosophieprofessorin halten soll. Es geht hier um den Gedanken des Fortschritts, erklärt sie, darum, dass Gesellschaften in dem Sinne fortschrittsorientiert sind, dass sie stetig versuchen, Probleme zu lösen und sich weiterzuentwickeln. Als Beispiele werden sowohl Napoleon als Eroberer als auch Günther Schabowski als gewissermaßen Auflöser der DDR herangezogen, dadurch lernt die Rezensentin, dass Fortschritt bei Jaeggi als Prozess zu begreifen ist, der sich Normen und Werten bedient, die stetigen Wandlungsprozessen unterliegen und damit auch immer relativ ist. Keller scheint diese "entzauberte" Version das nicht zu überzeugen, sie hat ihren Fortschritt - wie den Weihnachtsmann - lieber ganz oder gar nicht.