Bücher der Saison

Krimis

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
11.11.2023. Helen Macdonald und Sin Blaché schicken einen jüdischen Elitesoldaten und einen indischen Agent Sunil Rao auf die Suche nach der geheimnisvollen Droge "Prophet". Monika Geier legt ihren achten Bettina-Boll-Krimi vor. Jacob Ross' karibischer Krimi "Shadowman" dringt tief vor ins dschungelartige machistische System des fiktiven Staates Camaho. Abo Iaschaghaschwili entführt uns zu einer Leiche im Tiflis des 19. Jahrhunderts.
Die Philosophin und Historikerin Helen Macdonald ist vor allem bekannt für ihr Memoir "H wie Habicht", in dem sie erzählt, wie sie sich nach dem Tod ihres geliebten Vaters in dessen Falknerei gewagt und einen Habicht gezähmt hat - Trauerbuch, Nature Writing und ein spezielles Buch über eine Reise in die innere Wildnis, lobten damals die Kritiker. "Prophet" (bestellen), das sie jetzt mit der amerikanischen Autorin Sin Blaché schrieb, ist etwas ganz anderes: Zwei sehr verschiedene Ermittler, der jüdische Elitesoldat Adam Rubenstein und der indische Agent Sunil Rao, sollen der geheimnisvollen Droge "Prophet" auf den Grund gehen, die ihre Konsumenten befähigt, Sehnsuchtsobjekte aus ihrer Erinnerung in der Realität erscheinen zu lassen. Obwohl, so anders als "H wie Habicht" ist es gar nicht, meint im Guardian Adam Roberts: "Ohne das Tempo zu vernachlässigen, gelingen Macdonald und Blaché eindringliche Reflexionen über Verlust und Trauma. Die Balance zwischen der tödlichen Aktualisierung glücklicher Erinnerungen bei den Opfern und der Art und Weise, wie die beiden Hauptfiguren ihre unglücklichen Erinnerungen verarbeiten, hebt diesen Roman von der üblichen Techno-Thriller-Kost ab." Manchmal etwas langatmig, aber insgesamt ein "intrigenreiches, spannendes" Buch, lobt Thomas Wörtche im Dlf Kultur. Eigentlich ist dieser Roman perfekt, staunt in der FR Sylvia Staude.

Sechs Jahre hat es gedauert, bis Monika Geier mit "Antoniusfeuer" (bestellen) ihren achten Bettina-Boll-Krimi vorlegt. Diesmal muss die Kommissarin den Tod eines afghanischen Gefängnisinsassen aufklären und Dämonen jagen, was sie in Kontakt mit Exorzisten der Katholischen Kirche und modernen Esoterikern bringt. Dazu wird noch Modernes aus Wokeness und Diversity gereicht - es ist, man muss es so sagen, alles drin. In der Zeit ist Berit Dießelkämpfer glücklich: Auch dieser Roman glänzt wieder mit seiner hierzulande eher seltenen Mischung aus Aktualität und Ironie. Helene Floods norwegischer Psychothriller "Die Affäre" (bestellen) bringt Mord in eine Familie. Die Ehefrau hatte eine Affäre mit dem Opfer, war der Ehemann der Täter? Ihr Hang zur Küchenpsychologie gereicht der Autorin, die auch studierte Psychologin ist, nicht zum Nachteil, findet Rezensent Stephan Opitz in der FAZ und lobt das hohe Niveau von Floods Genre-Erzählkunst.

Auf "Shadowman" (bestellen) hat Tobias Gohlis (Dlf Kultur) nur gewartet: Die Fortsetzung von Jacob Ross' grandiosem Krimi "Knochenleser" mit Gohlis' neuem Lieblings-Ermittlungs-Duo. Michael "Digger" Digson, ein begnadeter junger Forensiker, muss seiner Kollegin und Seelenfreundin Miss Stanislaus beistehen, die einen Mann erschossen hat, der sie einst vergewaltigte. Sowohl an Spannung, als auch an Witz und erzählerischer Dichte übersteigt "Shadowman" nicht nur die Erwartungen, sondern auch seinen Vorgänger-Roman, lobt der begeisterte Rezensent. Zudem ist er genau wie der erste Teil "karibisch" im allerbesten Sinne - Gohlis steigt mit den beiden Hauptfiguren tief ein in das "dschungelartige" machistische System des fiktiven Staates Camaho, welcher jedoch leicht als Grenada - Geburtsort von Jacob Ross zu identifizieren ist. Ein Kriminalroman von Weltrang, versichert Gohlis, in der FR gefällt Sylvia Staude vor allem der "lässige Erzählton" von Ross. Rijula Das' "Die Frauen von Shonagachi" (bestellen) beginnt in medias res, als der unglückliche junge Trilokeshwar (Tilu) Shau aus dem Zimmer seiner Lieblingsprostituierten Lalee geworfen wird. Einer von Lalees Kollegen ist nebenan auf besonders grausame Weise ermordet worden - mit einer Flasche Säure, erzählt Kritikerin Aditya Mani Jha in India Today. Von diesem Moment an "reiht Autorin Das eine Charakterstudie an die andere und lässt die Handlung nie erlahmen. ... In mehr als einer Hinsicht hat Das gut recherchiert" und ein "superbes Debüt" abgeliefert, applaudiert Jha. Ein Roman, der trotz seines schwierigen Themas sehr poetisch ist und nahe am Menschlichen bleibt, sekundiert Maria Wiesner in der FAZ. Hingewiesen sei auch noch auf "Kongotopia" (bestellen), mit dem Autor und Juraprofessor Christoph Nix seine Afrikatrilogie abschließt. Nix zeigt in seiner "nachtdunklen" Geschichte über Korruption und Gewalt in Burundi und den Mord an drei Ordensschwestern Herz für und Kenntnis über den afrikanischen Kontinent, lobt Sylvia Staude in der FR. In der NZZ empfiehlt Konrad Hummler den Roman.

James Lee Burke zeigt in seinem letzten Robicheaux-Krimi "Verschwinden ist keine Lösung" (bestellen) noch einmal, wie erstklassiges Genre geht. Schade, bedauert in Dlf Kultur Tobias Gohlis, dem Robicheaux und sein Partner Clete Purcel, Alkoholiker der eine, der Gewalt zugeneigt der andere, ans Herz gewachsen sind. Wie in den anderen Romanen der Reihe spielt auch bei dieser Romeo-und-Julia-Geschichte im Mafiamilieu die paradiesische Landschaft von Louisiana eine Hauptrolle, schwärmt Gohlis. Gut besprochen wurde auch William Boyles "Shoot The Moonlight Out" (bestellen), eine Rachegeschichte aus Brooklyn, die Boyle aber mit großer Behutsamkeit und Gewissenhaftigkeit erzählt, so Thomas Wörtche in Dlf Kultur. Spannungsliteratur im engeren Sinne sollte man laut Hannes Hintermeier (FAZ) nicht erwarten, eher eine Poesie der Hoffnungslosigkeit. Das wird man von Stephen Kings "Holly" (bestellen) wohl nicht sagen können, der seine Privatermittlerin auf der Suche nach einem verschwundenen Mädchen durch das Amerika der Trump-Jahre inklusive Kannibalen führt. Ist vielleicht nicht sein bester Roman, aber immer noch spannend genug, urteilen die Rezensenten. Der Zeit ist er allerdings zu woke. 

Und schließlich seien noch vier historische Krimis vorgestellt: Abo Iaschaghaschwili entführt uns mit "Ein Tiger im Keller" (bestellen) ins Tiflis des 19. Jahrhunderts, wo ein georgischer Kommissar, ein Franzose und ein Ire einen mysteriösen Leichenfund aufklären: "knorzig, eskapistisch oder einfach detektivisch verschwiegen" sind die drei, freut sich in der FAZ Sabine Berking. Junichiro Tanizaki ist vor allem bekannt durch seinen wunderbaren, 1933 erschienenen Essay "Lob des Schattens". Im Roman "Das Geständnis" (bestellen), der fünf Jahre früher erschien, geht es um einen Schriftsteller namens Mizuno, der aus Versehen einen realen Bekannten in eine Mordgeschichte hineinschreibt und anschließend befürchtet, selbst verdächtigt zu werden, falls diesem im echten Leben etwas zustößt. Ein nervöses Wrack ist dieser Mizuno, der ein unstetes Leben zwischen japanischer Tradition und den Verlockungen der westlichen Moderne führt: Im Dlf empfiehlt Katharina Borchert die Lektüre dieses selbstreflexiven Kriminalromans. In Andrej Kurkows "Samson und das gestohlene Herz" (bestellen), dem zweiten Fall des jungen sowjetischen Polizisten Samson, geht es um ein illegal geschlachtetes Schwein. Klingt nicht sehr aufregend, doch im Kiew des Jahres 1919 reicht das für drastische Strafen. Ständig wechseln die Machthaber, andauernd werden neue Gesetze erlassen, niemand hat mehr einen Überblick, dann wird auch noch Samsons Verlobte gekidnappt, erzählt im Dlf Kultur eine hingerissene Katrin Doerksen, die diesen Krimi für seine "Leichtfüßigkeit" lobt. Und schließlich sei noch auf Robert Bracks "Schwarzer Oktober" (bestellen) hingewiesen, der in Hamburg zur Zeit der Hyperinflation 1923/24 spielt. Mitreißend und atmosphärisch anregend findet Sylvia Staude (FR), wie ihr der Roman das schwere Leben der kleinen Leute in den vermeintlich Goldenen Zwanzigern nahe bringt.