Bücherbrief

Frauen am Abgrund

11.05.2020. Tea Obreht peppt den alten Western erfrischend aus migrantischer und feministischer Perspektive auf, Nicole Flattery zündet surreale Feuerwerke mit kaputten Frauen, Shariar Mandanipur schickt einen alternden Playboy durch die Islamische Revolution und Paolo Giordano wagt einen ersten Versuch, die Coronakrise zu erklären. Dies alles und mehr in den besten Büchern des Monats Mai.
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Weitere Anregungen finden Sie in in Arno Widmanns "Vom Nachttisch geräumt", der Lyrikkolumne "Tagtigall", dem "Fotolot", in der Krimikolumne "Mord und Ratschlag", in unseren Büchern der Saison, den Notizen zu den jüngsten Literaturbeilagen und in den älteren Bücherbriefen.


Literatur

Tea Obreht
Herzland
Roman
Rowohlt Berlin 2020. 512 Seiten. 24 Euro

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Ein Western mit einer Frau und einem Muslim in den Hauptrollen? Funktioniert hervorragend, wenn man den KritikerInnen Glauben schenken mag, die Tea Obrehts Roman fast uneingeschränkt Hymnen widmen. In ihrem dritten Roman entführt uns die in Belgrad geborene und in Amerika lebende Autorin ins Arizona des Jahres 1893, an der Seite von Nora, einer darbenden Farmerin, deren Mann und Söhne verschwunden sind, und Lurie, Sohn eines Einwanderers aus dem Osmanischen Reich und verfolgter Outlaw. Am Beispiel dieser beiden erzählt Obreht mit historischen Fakten und Humor, mehrschichtig und mitunter wie in einem Brennglas von der Eroberung des Südwestens der USA im späten 19. Jahrhundert, lobt im Dlf Michael Schmidt, der hier auch erfährt, welche Konflikte im Einwandererland USA schwelten und welche Entbehrungen die Siedler in Arizona aushalten mussten. Welt-Kritiker Wieland Freund lässt sich vor allem von den "fantastischen" Landschaftsbildern gefangen nehmen und bewundert den "magischen Realismus", mit dem Obreht die alten Westerngeschichten aufpeppt: Ein spannendes und erfrischendes Kunstwerk, lobt er. Ein surreales und hochaktuelles Lesevergnügen, findet auch taz-Kritiker Thomas Winkler, der den migrantischen und zugleich feministischen Blick auf den amerikanischen Gründungsmythos überfällig findet. In der SZ fühlt sich Nicolas Freund während der Lektüre an Cormac McCarthy (die Brutalität) und Garcia Marquez (der "chronikartige Ton") erinnert. Nur Zeit-Kritikerin Sarah Pines winkt ab: Warum den alten "Cowboylappen" auswringen, fragt sie.

Shahriar Mandanipur
Augenstern
Roman
Unionsverlag 2020. 448 Seiten. 24 Euro

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Shahriar Mandanipur ist einer der bekanntesten iranischen Autoren. In seinem neuen Roman erzählt er uns anhand eines alternden Playboys von der Islamischen Revolution: Vor dem Sturz des Schah-Regimes genoss Mandanipurs Held Amir das Leben in Teheran in vollen Zügen: Alkohol, Musikclubs, Sex mit zahlreichen Frauen. Aus dem iranisch-irakischen Krieg kehrt er traumatisiert und mit einem abgerissenen Arm zurück. In wechselnden, chronologisch nicht geordneten Episoden lässt Mandanipur zwei Engel auf das Leben Amirs zurückblicken, auf die Zeit zum Beispiel, in der Amir in einem Heim für psychisch Gestörte lebt oder wenn er getrieben von Wahnvorstellungen auf der Suche nach einer verlorenen Liebe durch das von Krieg zerrüttete Teheran zieht. Atemlos und demütig liest im Dlf-Kultur Carsten Hueck diesen "großen" Roman, der ihm "kunstvoll lyrisch oder zotig, immer sinnlich" und zynisch in eindringlichen Bildern von Hoffnung, Schmerz und Leidenschaft erzählt. Eine beklemmende und "abgründige Reflexion" über den Iran, über Krieg, Gut, Böse und den Traum von Liebe verdankt Angela Schader in der NZZ dem Autor. Und mit seinen fein entworfenen starken Frauenfiguren rechnet Mandanipur ganz nebenbei mit den Männern ab, die das Leben im Iran bestimmen, lobt sie.

Nicole Flattery
Zeig ihnen, wie man Spaß hat
Storys
Carl Hanser Verlag 2020. 256 Seiten. 20 Euro

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Mit ihrem Debüt will uns die irische Autorin Nicole Flattery zeigen, wie man Spaß hat - dabei handeln ihre acht Stories ausschließlich von kaputten jungen Frauen, die in kuriosen Beziehungen zu Männern stecken. Liest sich aber trotzdem "geil", findet taz-Kritiker René Hamann - oder vielleicht auch deshalb: Vielleicht macht gerade die gepflegte Hoffnungslosigkeit der Frauen am Abgrund den Reiz der Erzählungen aus, vermutet er. Kombiniert mit der geschliffenen Sprache der Autorin entsteht für Hamann ein klares Bild vom weiblichen Leben im Neoliberalismus. In der Zeit rät Harald Jähner gleich zur mehrfachen Lektüre, um die finsteren Seelenlandschaften der Figuren zu erkunden: Einer Explosion nach der anderen wohnt er beim Lesen bei, lauter "funkelnden" Effekten, einer präzisen Konstruktion und jeder Menge "galligem" Witz, wenn Flattery ihre zwischen Rehabilitation und Bindungslosigkeit "irrlichternden" Frauen begleitet. Als "süchtig machende Mischung aus trockener Drollerei und Offenheit", beschreibt Anthony Cummins im Guardian den Band. Schon drei Jahrzehnte älter, aber nicht minder lesenswert sind Mary Gaitskills neu aufgelegte Skandalerzählungen "Bad Behavior" (Bestellen): Wie knapp, präzise und neutral Gaitskill  Masochismus, Unterwerfung und Dominanz analysiert, findet Marlen Hobrack in der taz nach wie vor beeindruckend.

Benjamin Quaderer
Für immer die Alpen
Roman
Luchterhand Literaturverlag 2020. 592 Seiten. 22 Euro

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Von Liechtenstein hört man meist nur, wenn es um Geldwäsche und Steuerhinterziehung geht. Und genau davon handelt natürlich der Debütroman des jungen Autors Benjamin Quaderer. In Österreich geboren, wuchs Quaderer in Liechtenstein auf, bringt also neben Sachkenntnis auch eine gehörige Portion Boshaftigkeit und Witz mit. Die KritikerInnen liegen ihm jedenfalls zu Füßen. Zum "Nationalepos des Staates Liechtenstein" erhebt Hubert Winkels in der SZ den Roman, der ihm die chaotische und postmodern verschachtelte Geschichte des Hochstaplers Johann Kaiser erzählt, der aus dem Zeugenschutzprogramm heraus auf sein Leben zurückblickt: auf Stationen im spanischen Kloster, seine Affäre mit Fürstin Gina und den Verdacht, er habe deutschen Behörden Informationen über Steuerhinterzieher verkauft. Amüsant, satirisch und literarisch höchst virtuos findet Winkels das und bewundert zudem, wie Quaderer mit Schwärzungen, Rötungen und allen möglichen pseudodokumentarischen Tricks das Thema des Buches reflektiert. Im Dlf liest auch Philipp Theisohn die Verwandlung eines mittellosen Heimkinds zum weltläufigen Großbürger und schließlich zum Steuerdatendieb als Allegorie auf den Staat Liechtenstein.

Ken Liu (Hg.)
Zerbrochene Sterne
Erzählungen
Heyne Verlag 2020. 672 Seiten. 16,99 Euro

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Keine einzige "Virus-Geschichte" bietet dieser von dem amerikanischen Autor Ken Liu herausgegebene Sammelband mit chinesischen Science-Fiction-Geschichten, warnt uns Dlf-Kultur-Kritiker Marten Hahn vor. Aber genügend andere Alpträume, etwa zur Klimakatastrophe, zu Schadstoffsoftware oder unter Wasser lebenden Wanderarbeitern, fährt der Kritiker fort, für den Liu ein Brückenbauer zwischen China und dem Westen ist. Nicht alle hier von namhaften chinesischen AutorInnen versammelten Storys mögen gleichermaßen brillant sein, wendet Hahn ein: Cixin Lius "Mondnacht" steche natürlich hervor, aber auch die anderen sechzehn Texte findet der Rezensent mindestens lesenswert: Sie befassen sich mit wichtigen Themen, sind "originell" und "bildstark", meint er und ergänzt: Netflix-verdächtig.


Sachbuch

Laure Adler
Charlotte Perriand
Die Jahrhundertdesignerin
Elisabeth Sandmann Verlag, München 2020, 192 Seiten, 44 Euro

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Die Architektin und Gestalterin Charlotte Perriand stand ihr Leben lang im Schatten von Le Corbusier, dabei verdanken wir ihr die unter Corbusiers Namen berühmt gewordene Liege, aber auch die Bar unterm Dach, die offene Küche und den Ethnochic. In Frankreich wird sie gerade mit Macht wiederentdeckt. Ausstellungen (mehr hier und hier), Comics und Filmdokumentationen widmen sich dem Leben der visionären Designerin, Feministin und abenteuerlichen Entdeckerin. Laure Adler, selbst eine Ikone des französische Kulturjournalismus, verbindet in ihrem Prachtband einen biografischen Essay mit vielen bisher unbekannten Bildern aus dem aufregenden Leben dieser schönen, sehr sportlichen und abenteuerlustigen Frau, und der Observateur überschlägt sich geradezu vor Begeisterung angesichts der Lebensfreude, Sinnlichkeit und Kreativität im Dienste der Menschen, die Adler beschwört. Im Deutschlandfunk empfiehlt Eva Hepper dringend diesen Band, als prächtige und kenntnisreiche Hommage an eine Avantgardistin. Im Monopol-Magazin rät Alexandra Wach zur Beschäftigung mit der umstürzlerischen Garçonne.

Paolo Giordano
In Zeiten der Ansteckung
Wie die Corona-Pandemie unser Leben verändert
Rowohlt Verlag 2020. 80 Seiten. 8 Euro

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Man könnte dieses Buch für einen Schnellschuss halten - wenn es sich bei dem Autor nicht um Paolo Giordano, den promovierten Physiker und Bestseller-Autor unter anderem von "Die Einsamkeit der Primzahlen" handeln würde. Bereits Anfang April erschienen, blickt der italienische Autor in seinem Essay nicht nur auf die Auswirkungen der Corona-Pandemie in Italien: Vielmehr sinniert Giordano über die Mathematik der Ansteckung, das neue Gefühl individueller Entmachtung oder die Globalisierung, verrät uns Marc Reichwein in der Welt. Was Corona mit uns macht und über uns verrät, vermittelt der Autor der SZ-Kritikerin Maike Albath als Gedankenkonvolut und ordnende Beobachtung samt Interpretation. Dass Giordano sowohl Wissenschaftler als auch Schriftsteller ist, kommt dem Buch zugute, findet Albath. Anschaulich und ruhig erklärt ihr Giordano in Tagebuchform den Ablauf der Ansteckung oder den Charakter von Exponentialrechnungen, streut Alltagsepisoden und kritische Überlegungen zur Globalisierung ein, lobt sie. Im Spiegel-Interview mit Felix Bayer spricht Giordano über die Coronakrise.

Ulrich Johannes Schneider
Der Finger im Buch
Die unterbrochene Lektüre im Bild
Piet Meyer Verlag 2020. 175 Seiten. 28,40 Euro

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In ein E-Book kann man keinen Finger stecken, um gedankenvoll in die Ferne zu blicken und über das Gelesene zu meditieren (und sich dabei vorteilhaft porträtieren zu lassen). Aber eine Reflexion über die "Sehnsuchtsfigur" Buch ist zugleich eine über den Medienwandel. Ulrich Johannes Schneider, Chef der Leipziger Universitätsbibliothek, hat diesen - nicht sehr häufigen - Topos der unterbrochenen Lektüre in der Kunstgeschichte entdeckt und knüpft daran eine Meditation über das Lesen, in der die Bilder womöglich mehr sagen als tausend Wörter. Lothar Müller widmete dem Essay in der SZ eine ganze Seite: Der Finger im Buch sagt für Müller auch etwas über die Vorstellung vom "Deep Reading" aus, das laut der allgegenwärtigen Kulturkritik im digitalen Zeitalter verloren zu gehen drohe. Je tiefer die Lektüre, so zeige es Schneiders Bildergalerie, durch die er als ein Cicerone führe, desto eher musste sie immer schon unterbrochen werden. Für Rose-Maria Gropp in der FAZ ist es das Moment der physischen Einverleibung der Lektüre, das sie an Schneiders Lektüre des Lesens so fasziniert. Auch für sie ist es also indirekt eine Frage nach der Zukunft des Lesens und des Buchs als Idee.

Volker Ullrich
Acht Tage im Mai
Die letzte Woche des Dritten Reiches
C.H. Beck Verlag  2020. 317 Seiten. 24 Euro

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Am 8. Mai jährte sich das Kriegsende zum 75. Mal, die taz widmete dem Tag der Befreiung ein ganzes Dossier. Der Journalist und Historiker Volker Ullrich nimmt in seinem neuen Buch noch einmal die letzten acht Tage des Dritten Reiches unter die Lupe und komponiert aus Zeitzeugnissen, historischen Quellen und Memoiren ein gelungenes "Tableau der Umbruchszeit", meint etwa taz-Kritiker Rudolf Walther. Kenntnis- und facettenreich vermittelt ihm Ullrich, welch unterschiedliche Bedeutungen diese Zeit für Flüchtlinge, Kriegsgefangene, Soldaten, Zwangsarbeiter, KZ-Häftlinge, Frauen und Kinder hatte. Auch SZ-Kritiker Dietmar Süß lobt nicht nur die  präzise "Nahoptik", mit der Ullrich politische Geschehen um die Regierung Dönitz, die Befreiung der Konzentrationslager und das Wirken des Widerstands schildert, sondern auch den Blick über Deutschland hinaus. Spannend fanden auch Welt-Kritiker Richard Kämmerlings und FR-Kritiker Wilhelm von Sternburg das Buch. Für die Nachgeborenen eine empfehlenswerte Gelegenheit nachzulesen, wohin politischer Wahn und Moralverfall führen können, meint Sternburg.

Dmitri Dergatchev (Hg.), Wladimir Velminski (Hg.)
Mode und Revolution
Deutsch - Russisch
ciconia ciconia edition 2020. 236 Seiten. 35 Euro

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Schade, dass solche Bücher so selten besprochen werden. Nur im Dlf-Kultur stellt Carsten Probst begeistert den von Dimitri Dergatchev und Wladimir Velinski herausgebenen Band vor, der das Zusammenspiel von Mode und Revolution erkundet. Eigentlich geht es weniger um Mode, stellt Probst klar, als um ein neues ästhetisches Programm, das Revolutionen mit sich bringen. Er liest in dem zweisprachigen Band, der Beiträge aus den Zwanzigern von historischen ZeitzeugInnen wie Varvara Stepanova, Ossip Brik, Malewitsch oder Pavel Pepperstein versammelt, wie Revolutionsästhetik die Avantgarde dem Alltag einschreiben wollte: Nicht die Verzierungen dürfen dem Anzug die Form geben, sondern allein der Schnitt, dekretierte etwa die Gestalterin Stepanova, während der Futurist Brik ganz auf industrielle Fertigung setzte: "Künstlerisches Handwerk? Nichts als Ideologie", zitiert Probst. Einfach toll findet der Rezensent den Band, nicht zuletzt auch, weil er so schön gestaltet und reich bebildert ist. Und die Zwischenteile, in denen heutige Künstlerinnen und Künstler, Designerinnen und Designer Revolutionäres und Modisches "witzig und manchmal überaus zitierfreudig aus heutiger Sicht aufeinanderprallen lassen" machen Probst vollkommen glücklich.