Can Dündar

Die rissige Brücke über den Bosporus

Ein Jahrhundert Türkische Republik und der Westen
Cover: Die rissige Brücke über den Bosporus
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2023
ISBN 9783869712901
Gebunden, 240 Seiten, 23,00 EUR

Klappentext

Aus dem Türkischen von Sabine Adatepe. Can Dündar, in der Türkei als "Terrorist" gesucht und in Abwesenheit zu über 27 Jahren Haft verurteilt, erzählt mit Blick auf die letzten Jahrzehnte und die Ereignisse um die Schicksalswahl im Mai 2023 vom hundertjährigen Ringen der Türkischen Republik um eine freie Gesellschaft. Kaum ein Jahr ist für diesen wichtigen Partner Europas so existenziell wie dieses! 100 Jahre ist es her, da zerfiel das marode Osmanische Reich und die Türkische Republik wurde gegründet. Diese wollte ein radikal moderner Staat werden: mit Übernahme europäischer Rechtssysteme, europäischem Kalender, lateinischer Schrift, freien Wahlen, Gleichstellung der Geschlechter, Gewaltenteilung und und und - ein Programm, moderner und säkularer als fast überall sonst auf der Welt. Die Brücke nach Europa wurde geschlagen, und die Anstifter dieser Entwicklung waren nicht etwa fortschrittliche Parteien, sondern das Militär. 1952 wurde die Türkei Teil der Nato, aber ausgerechnet die Einführung eines Mehrparteiensystems gab den islamistisch-konservativen Kräften Auftrieb, zwischenzeitlich gab es Putsche, Parteienverbote, Kriegsrecht. Als Erdoğan 2013 Ministerpräsident wurde, wollte er das Land zwar in die EU führen, aber nachdem seine Partei mächtig geworden war, nahm der Staat unter ihm immer autokratischere Züge an. Die Opposition wurde in die Enge getrieben, jedes kritische Denken abgestraft. Erdoğans Regierung intensivierte die Unterdrückung der Kurden, führte Krieg in Syrien und im Irak. Sie änderte die Verfassung, nahm Wirtschaft und Justiz an die Leine, ließ Kritiker und Oppositionsparteien verbieten. Niemand ist vor Verhaftung gefeit, die Vorwände können noch so bizarr sein. Vor und nach der Wahl ist das Land zerrissen wie nie zuvor. Can Dündar erzählt davon, und von einem Jahrhundert dramatischer Ereignisse und des Ringens. Und er gibt einen Ausblick, wie es mit dem Land weitergehen könnte.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 18.11.2023

Einen aufschlussreichen Überblick über die Geschichte der türkischen Republik erhält Rezensent Ingo Arend bei Can Dündar, dem früheren Chefredakteur von "Cumhuriyet", seit 2016 im deutschen Exil, der ihm ein Land "zwischen Extremen" zeigt. Durchaus mit Bewunderung für den Staatsgründer Atatürk schreibt Dündar aber auch über dessen Versäumnisse, allen voran den Versuch einer Kulturrevolution von oben herab, der, so liest Arend, an der Gesellschaft vorbeigehen musste. So macht ihm der Autor klar, dass der islamische Konservatismus (etwa in der Gestalt Erdogans) praktisch immer wieder auftauchen muss - und dass der Westen eine Mitschuld hat, wenn er die Autokraten weiter unterstützt. Die Kulturgeschichte hat zwar leider keinen Eingang in das Buch gefunden, doch ist es für den Kritiker gerade auch durch seinen subjektiven Zuschnitt äußerst erkenntnisreich.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.10.2023

Ein lesenswertes Buch über die Geschichte der modernen Türkei hat Can Dündar geschrieben, so Rezensentin Karen Krüger. Der im Exil lebende Journalist setzt, lernen wir, mit einer Beschreibung der Wahlnacht im Mai 2023 an, die Recep Tayyip Erdoğan einen weiteren Sieg bescherte. Danach beginnt ein Durchgang durch die unterschiedlichen Stadien der Türkischen Republik. Die kompromisslosen Reformen des Staatsgründers Atatürk kommen zur Sprache, führt Krüger aus, und auch die wechselvolle spätere Geschichte, die insbesondere vom Eingreifen des Militärs in die Politik bestimmt war: insgesamt dreimal putschten die Generäle, so Krüger nach Dündar, weil sie die laizistischen Grundsätze Atatürks in Gefahr sahen, und das ist laut Autor vor allem deshalb fatal, weil den Menschen damit die versprochenen Freiheiten der Demokratie doch wieder entzogen wurden. Den Aufstieg Erdoğans wiederum nimmt eine Fotografie vorweg, die den heutigen Präsidenten als politisch aktiven Teenager zeigt und das von der Rezensentin beschrieben wird. Erdoğan hat die Türkei weitgehend gleichgeschaltet, heißt es außerdem, und trotzdem bröckelt seine Unterstützung. Wenn es darum geht, doch noch etwas zu ändern, hofft Dündar, wie Krüger ausführt, nicht länger auf politischen Druck von außen, sondern auf zivilgesellschaftliche Kooperationen zwischen Europa und der Türkei.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 14.10.2023

Rezensent Gokalp Babayigit kennt die Opfer, die der im Berliner Exil lebende Journalist Can Dündar für seine investigative Arbeit über den "tiefen Staat" unter Erdogan erbringen musste. Umso wertvoller erscheint Babayigit Dündars "konzise" Rekonstruktion der großen Zusammenhänge in der türkischen Geschichte von der Ära Atatürk bis heute. Dass sich die Anfänge heutiger Konflikte in der Zeit des Staatsgründers finden lassen und sich die Spaltung des Landes zwischen konservativ und reformistisch durch die Zeiten zieht, zeigt der Autor anhand von Großereignissen. Dass er dabei sein eigenes Schicksal nicht in den Vordergrund spielt, sondern seine Recherchen für sich sprechen lässt, gefällt Babayigit gut.
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Buch in der Debatte

9punkt 30.10.2023
Die Feierlichkeiten kommen einem nicht wie ein Fest vor, "sondern als harre man am Krankenbett der Republik aus", konstatiert Can Dündar auf Zeit online. Dabei geht er vor allem der Frage nach, wie die Republik in eine Autokratie unter Erdogan umschlagen konnte. "Dafür gibt es zahlreiche Gründe, die lange vor der Herrschaft Erdoğans angelegt waren: Die von oben - von Atatürk - befohlenen Reformen konnten nicht durch eine wirtschaftliche Transformation des Landes unterstützt werden; sie erreichten nicht im selben Tempo die Stadtbevölkerungen und die Provinz; die erzwungene Umsetzung der Reformen löste soziale Traumata aus; die Kampagne zur Türkisierung einer islamischen Gesellschaft führte zu Aufständen; die auf Atatürk folgenden Regierungen weichten die Reformen auf." Unser Resümee