9punkt - Die Debattenrundschau

Kein Akt des Widerstands

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
25.10.2023. "Wie viel moralische und politische Blindheit ist möglich?", fragt Natan Sznaider in der SZ eine globale Linke, die "Palästina von deutscher Schuld befreien" will. Vielleicht sollten sich die Palästinenser erstmal von der Hamas und der Fatah befreien, ergänzt die FAZ. Ebenfalls in der FAZ denkt Dan Diner angesichts der Bedrohungen Israels über eine Zweistaatenlösung nach. Was muss noch passieren, dass führende westliche Intellektuelle begreifen, mit wem wir es hier zu tun haben, fragt der israelische Journalist Ben-Dror Yemini, der in der Welt klarstellt: Es ist offensichtlich, dass hier ein Völkermord geplant ist. Außerdem: Nach den Wahlen in Polen hofft Ivan Krastev, dass der Rechtsruck in Europa aufhaltsam ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 25.10.2023 finden Sie hier

Politik

Gestern kam es im UN-Sicherheitsrat zum Eklat, als der UN-Generalsekretär António Guterres die Israelis belehrte, dass die Pogrome der Hamas nicht in einem "Vakuum" stattfanden. Die Einordnung des Verbrechens in das Reiz-Reaktions-Schema der "Gewaltspirale" wird ihm allerdings nicht gerecht - denn die Hamas wollte durch die Massaker zeigen, dass sie bereit ist zur totalen Auslöschung der Israelis, schreibt Richard. C. Schneider bei Spiegel online: "Das Verbrennen von Babys bei lebendigem Leib war kein Akt des 'Widerstands', es ging darum, jüdische Zukunft zu vernichten. Die Enthauptung von Senioren war kein Akt des 'Widerstands', sondern bedeutete die Auslöschung jüdischer Erinnerung und Geschichte."

"Wie viel moralische und politische Blindheit ist möglich?", fragt Natan Sznaider in der SZ. Die Verharmlosung der Hamas durch die globale Linke zeige, dass sie "in Texten" und an der Wirklichkeit vorbei lebe: "Es geht hier weder um Mitgefühl noch um emotionale Solidarität, weil man früher Juden und Jüdinnen vernichtete, noch darum 'Palästina von deutscher Schuld zu befreien', wie es nun heißt. Was auf dem Spiel steht, ist ein auf Eigeninteresse beruhendes politisches Urteilsvermögen, das versteht, worum es bei diesem Krieg geht. Und dass dieser Kampf auch für diejenigen Deutschen geführt wird, die 'Free Palestine from German Guilt' skandieren, wohl der skandalöseste und fast schon nazistische Schlachtruf eines politischen Milieus, das den politischen Kompass verloren hat."

"Dummen biodeutschen Kindern", die auf Berliner Straßen "Free Palestine from German guilt" rufen, erklärt Claudius Seidl es in der FAZ gern nochmal: "Man kann natürlich versuchen, beide Parolen zu verteidigen: Dass nicht die Palästinenser zahlen sollten für das, was die Deutschen den Juden angetan haben, ist keine ganz falsche Forderung. Nur zahlen sie halt heute für den Terror der Hamas, die Korruption der Fatah, all die Selbstmordanschläge auf israelische Zivilisten, mit denen erst Schluss war, als Israel seine grimmigen Mauern errichtete. Dass Palästina frei sein werde, könnte ja heißen, dass Palästinenser sich in einem ersten Schritt von der Hamas und der Fatah befreien."

Bestellen Sie bei eichendorff21!
Nach der "genozidalen Botschaft" der Hamas muss erneut über eine Zweistaatenlösung nachgedacht werden, schreibt der Historiker Dan Diner, der vor zwei Jahren das Buch "Ein anderer Krieg. Das jüdische Palästina und der Zweite Weltkrieg" veröffentlichte und der heute in der FAZ mögliche Bedrohungen für Israel skizziert. Er hofft, dass sich Iran mit seinen Proxys von der Hisbollah zurückhält: "Weil ein offener, strategischer Eintritt der Hisbollah in die Kämpfe bei allen Israel dabei zugefügten Schäden und Verlusten zur militärischen Vernichtung der Schiitenmiliz führen dürfte, verlöre Iran mit der Hisbollah seinen wertvollen Levante-Degen. Dieser soll im Interesse Irans erst dann zum Einsatz kommen, wenn Israel allein oder mit amerikanischer Unterstützung sich entscheiden sollte, die iranischen Nuklearanlagen anzugreifen."

Gestern setzte Navid Kermani im FR-Gespräch seine Hoffnung mit Blick auf den Kampf gegen die Hamas auf die iranische Zivilgesellschaft (Unser Resümee). Wenn man liest, was Teseo La Marca heute in der taz schreibt, kommen allerdings Zweifel auf: Nach dem Tod der sechzehnjährigen Armita Garawand nach einem Vorfall mit der Sittenpolizei hält sich die iranische Zivilgesellschaft zurück: "Kein Aufstand, keine Straßenproteste, die das Regime in die Schranken weisen. Irans Hardliner setzen damit ein Zeichen: Sie können weitermachen wie bisher. Nach einem Jahr anhaltender Repression - über 500 Menschen kamen bei den Protesten ums Leben, Tausende wurden verhaftet und gefoltert - liegt das einerseits an der Zermürbung der Protestbewegung, andererseits spielt auch die Eskalation des Nahostkonflikts eine Rolle. Außenpolitisch stellen Israels Luftangriffe auf den Gazastreifen Irans Führung vor ein Dilemma. Während die eigenen Anhänger Unterstützung für die Palästinenser erwarten, könnte eine direkte Konfrontation mit Israel für die Islamische Republik zum Desaster werden. Solange es jedoch beim Säbelrasseln bleibt, ist das Blutvergießen in Gaza für Teheran ein Segen."

Seit den Anschlägen der Hamas sind in Frankreich mehr als dreihundert antisemitische Vorfälle gezählt worden, auch an Schulen, schreibt Lena Bopp und fragt in der FAZ bei Hugo Micheron, Autor eines Buches über Dschihadimus, nach, ob Frankreich eine neue Welle des islamistischen Terrors bevorsteht: "Er plädiert dafür, die jüngsten Attentate nicht als Einzelfälle zu betrachten oder gar abzutun. Vielmehr sieht er sie im Kontext einer Bewegung, die nicht (durch Einwanderung) importiert, sondern seit etwa zehn Jahren in Europa heimisch ist. Der Dschihadismus sei eine Ideologie, meint Micheron. Die Attentate und der Terrorismus seien seine Folgen. Folglich gebe es keinen Terrorismus 'zwischendurch', sondern ein stetiges Auf und Ab, einen Wechsel von Phasen großer und geringer Aktivität. Micheron sieht Europa seit zwei, drei Jahren in einer Phase geringer Aktivität, allerdings hat er 'Mutationen' beobachtet, die wieder einmal zeigen, wie politisch die Anhänger des Dschihadismus denken und sich auf das stürzen, was sie als Schwachstellen in den einzelnen europäischen Ländern identifiziert haben."

Die Debatte um Israel und die Hamas sollte auf einer komplexeren Ebene geführt werden als es im Moment passiert, legt Nils Markwardt in einem ZeitOnline-Essay dar. Dass die Hamas-Angriffe zu verurteilen sind, ist eindeutig, ab da wird es aber komplizierter, meint Markwardt. Zu einer Gesamtbewertung der Konfliktsituation darf man unter anderem die Rolle der israelischen Politik bei der Erstarkung der Hamas nicht unterschlagen: "Netanjahu, der innerhalb der letzten 14 Jahre zwölf Jahre Ministerpräsident war, ließ einerseits wiederholt Geld der Autonomiebehörde einfrieren und brach 2014 die Friedensverhandlungen ab, verlieh andererseits der Hamas, die 2006 nach einem Bürgerkrieg mit der Fatah die Kontrolle im Gazastreifen übernommen hatte, eine gewisse Form der Legitimität, als er 2011 mit ihr einen Deal für einen Gefangenenaustausch verhandelte. Der Vorteil für Netanjahu: Während die von der Fatah dominierte Autonomiebehörde grundsätzlich für Verhandlungen einer Zweistaatenlösung bereit ist, hatte man mit der Hamas einen Feind, mit dem man gar nicht verhandeln konnte - und dementsprechend auch die bei vielen israelischen Rechten verhasste Zweistaatenlösung auch gar nicht auf den Tisch bringen musste."

Der israelische Journalist Ben-Dror Yemini ruft in der Welt zum entschiedenen Kampf gegen "die vom Iran angeführte Achse des Bösen, die dschihadistische Bewegung und ihre Ableger von der Hamas bis zum Islamischen Staat, von der Hisbollah bis zu Boko Haram" auf. Was muss passieren, damit die westliche Welt, unter ihnen führende Intellektuelle wie Judith Butler oder Noam Chomsky begreifen mit wem wir es zu tun haben. Yemini zieht eine Parallele zum Aufstieg Hitlers: "Es gibt jedoch einen Unterschied zwischen der Vergangenheit und der Gegenwart. In den 1930er-Jahren war es noch nicht klar, dass Hitler Völkermord und Welteroberung plante. Heute ist es offenkundig und sichtbar. Der Islamische Staat ist nicht allein. Hamas-Führer haben in der Vergangenheit zur 'Eroberung Roms und von dort aus ... der beiden Amerikas und Osteuropas' aufgerufen, und laut offiziellem Fernsehen der Hamas ruft Allah dazu auf, Christen und Juden 'bis auf den Letzten' zu töten."

Edward Kanterian erinnert in der NZZ daran, dass Israel Waffen an Aserbaidschan liefert. Damit trägt es zur Unterdrückung der Armenier und zur Destabilisierung des Kaukasus bei: "Warum leistet sich Israel, immerhin (noch) eine Demokratie, diese unselige Allianz, welche die demokratische Entwicklung im Kaukasus zunichtemacht? Die Gründe sind bekannt: Öl, Geld und vor allem Geopolitik. Iran ist der gemeinsame Feind Israels und Aserbaidschans. Für Jerusalem ist Baku ein Vorposten gegen den Staat der Mullahs. Diesen will man möglichst schwächen. Dass Israel dafür fast jeder Preis recht ist, Diktatur in Aserbaidschan, die Leugnung des armenischen Völkermords, die erneute Bedrohung der Existenz Armeniens, ist unethisch und töricht."

An einen großen Krieg im Nahen Osten glaubt der Politikwissenschaftler Olivier Roy im FR-Interview mit Michael Hesse nicht. Dazu gibt es in den arabischen Staaten zu wenig Unterstützung für die Hamas. Die eigentlich Frage ist, wie Israel im Gaza-Streifen vorgehen soll, betont er: "Wie kann man die Hamas militärisch zerstören, ohne den Gazastreifen wieder besetzen zu müssen? Ich denke, dass sie nicht zögern werden, den Gazastreifen kurzfristig zu besetzen. Sie haben vom militärischen Gesichtspunkt aus gesehen gar keine andere Wahl. Es wird sehr schwierig werden, Gaza dauerhaft zu demilitarisieren, weil es bedeutet, dass es dann etwas geben muss, was das Vakuum füllt. Die UN scheiden aus. Sie würden im Zweifel nicht gegen die Hamas kämpfen. Auch die Ägypter nicht. Man müsste schon Palästinenser finden, die das übernehmen. Ich bin mir sicher, dass einige Palästinenser glücklich darüber wären, die Hamas in Gaza loszuwerden. "
Archiv: Politik

Europa

Der Kulturkrieg der polnischen PiS-Partei gegen den Liberalismus hat zu einer "dramatischen Liberalisierung" der polnischen Gesellschaft geführt, schreibt Ivan Krastev im Guardian: Die PiS "verfolgte eine Strategie der maximalen Polarisierung und verwandelte zunächst den sanften konservativen Kulturkonsens, der die polnische Politik vor 2015 definierte, in eine konservative Wahlmehrheit - allerdings um den Preis der Zerstörung dieses Konsenses. Infolgedessen hat die von der Kirche unterstützte Regierung einen dramatischen Rückgang des Kirchenbesuchs jüngerer Polen beobachtet, und die kirchenfeindliche Stimmung hat zu einer Mehrheit für die Wahlfreiheit geführt. Viele der älteren Wähler der Opposition, denen noch gestern die Vorstellung einer gleichberechtigten Ehe oder der von der EU favorisierten Politik zur reproduktiven Gesundheit unangenehm war, versöhnten sich plötzlich mit liberalen Kulturpolitiken und Werten. Viele fühlen sich wahrscheinlich immer noch unwohl angesichts der Richtung moderner liberaler Gesellschaften, haben sich aber zurückgehalten, weil die Ablehnung von LGBTQ+-Rechten und der Einwanderung nach Polen eine Unterstützung für die verhasste Regierungspartei implizierte." Der Rechtsruck in Europa scheint nun weniger unumkehrbar zu sein, hofft Krastev.

Die Gründung der neuen Wagenknecht-Partei könnte nicht nur die AfD noch weiter radikalisieren, befürchtet im FAZ-Gespräch mit Friederike Haupt der Parteienforscher Wolfgang Schroeder: "Es droht ein Überbietungswettbewerb. Verbunden mit einer weiteren Zunahme von Radikalität und Polarisierung innerhalb des Parteiensystems. Das würde nicht zur Lösung von Problemen unter den Bedingungen begrenzter Ressourcen beitragen und die Nervosität in der Mitte befeuern. Es könnte aber auch dazu führen, dass der Zuspruch zur AfD wächst, weil sie die Kunst der Zuspitzung und die Artikulation des Zorns besser beherrscht. Dann könnte sich die Verdrängung der Linken durch die AfD im Osten wiederholen. (…) Der Einstieg in die Pressekonferenz ließ nichts Gutes erwarten. Wagenknecht äußerte sich in einer Rhetorik, wie man sie von der AfD kennt. Sie nannte die Ampel die 'wohl schlechteste Regierung' in der Geschichte der Bundesrepublik: Diese handle 'planlos, kurzsichtig und in Teilen inkompetent'. Im Umgang mit Russland beklagte sie 'blinden Ökoaktivismus'."

Im taz-Gespräch mit Dinah Riese kritisiert die Fachanwältin für Migrationsrecht Gisela Seidler den Gesetzesentwurf für die Vereinfachung für Abschiebung, der heute im Bundeskabinett beschlossen werden soll: "Diese Vorhaben greifen tief in die Grundrechte Asylsuchender ein. Wir sind entsetzt, dass das im Schnellverfahren durchgepeitscht werden soll. Es ist unmöglich, in gerade mal zwei Tagen eine qualifizierte juristische Stellungnahme abzugeben. Die wäre aber nötig, denn der Entwurf ist nicht durchdacht. Er wird Abschiebungen nicht beschleunigen, sondern möglicherweise verlangsamen, und das auf Kosten zahlreicher grundlegender Rechte. Aber offensichtlich möchte der Gesetzgeber gar nicht hören, was wir zu sagen haben, sondern auf die Schnelle Handlungsfähigkeit demonstrieren."
Archiv: Europa