9punkt - Die Debattenrundschau - Archiv

Europa

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9punkt - Die Debattenrundschau vom 01.04.2023 - Europa

Ein zutiefst pessimistischer Victor Martinowitsch blickt im taz-Interview mit Jens Uthoff auf die Situation in Belarus, in dem die wenigen noch nicht verhafteten Oppositionellen in Einsamkeit und Isolation versinken. Doch einmal blitzt auch der Humor des Schriftstellers in ihm auf: "Neulich stand ich an einer Straßenkreuzung, neben mir eine Frau in blauer Uniform mit der Aufschrift 'Investigative Committee'. Eine Beamtin der Untersuchungsbehörden also, ich wusste, es könnte ernst werden. Ich überquerte die Straße mit wackligen Knien, sie hinter mir. Irgendwann überholte sie mich und sagte: 'Hallo. Folgen Sie mir.' Sie sagte es in diesem offiziellen Ton. Ich bin ihr also gefolgt und dachte, ich wäre verhaftet worden. Nach zweihundert Metern Fußmarsch fragte ich sie: 'Warum verhaften Sie mich?' Und sie sagte: 'Bist du Sergei?' - Ich: 'Nein.' - Sie: 'Ich habe auf Sergei gewartet. Warum sind Sie mir gefolgt?' Sie ließ mich also gehen. Ich habe einfach getan, was sie gesagt hat, ohne irgendwelche Fragen zu stellen. Diese absurde Szene erzählt wohl sehr viel über die heutige Zeit in Belarus."

Ob Frankreich eine Zeitbombe sei, die sich die Präsidenten weiterreichen, bis sie explodiert? Die SZ scheint diese Frage an Sylvain Prudhomme gerichtet zu haben, der Schriftsteller antwortet mit einem Text, der Emmanuel Macron vorwirft, das Land mit seiner Brillanz, seinem Hochmut und seiner Politik für die reichsten gegen sich aufgebracht zu haben: "Unter Macron, mehr noch als unter seinen Vorgängen, hat das Land sich zweigeteilt, durch einen Schnitt, der zu einem Abgrund geworden ist und sich nicht so schnell wieder schließen lassen wird: Auf der einen Seite steht ein selbstbewusstes Frankreich, modern, wettbewerbsfähig, integriert, urban, vernetzt, diplomiert, mobil, polyglott, gewohnt, von Stadtzentrum zu Stadtzentrum zu wechseln, zu reisen, Wochenendtrips zu machen. Auf der anderen Seite, die immer größer werdende Masse derer, die das Gefühl haben, nicht mehr repräsentiert zu sein, nicht mehr verteidigt, gehört, verstanden zu werden."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 31.03.2023 - Europa

Bereits kurz nach Beginn des Kriegs gegen die Ukraine wurden der SZ geleakte Dokumente der Moskauer Software-Firma "NTC Vulkan" zugespielt, elf internationale Medien werten derzeit die "Vulkan Files" aus, die Einblicke in die russische Cyberstrategie und die engen Verbindungen zwischen Privatfirmen und staatlichen Hackern geben. Ein Reporterteam der SZ gibt erste Antworten: "Vulkan hat ein System entwickelt, um automatisch Schwachstellen in Netzwerken aufspüren und in einer geheimen Datenbank speichern zu können. Staatliche Hacker könnten diese dann für Cyberangriffe nutzen. Ein anderes Produkt wurde als eine Art 'digitale Allzweckwaffe' entworfen. Es soll offenbar ganze Regionen vom freien Internet abschneiden und isolieren. Stattdessen soll ein lokales Netz eingerichtet werden, das eine umfassende Überwachung ermöglicht. Andere Elemente des Programms haben zum Ziel, soziale Medien zu überwachen oder mit Propaganda zu fluten. In einem Trainingsmodul geht es zudem auch darum, Hacker zu lehren, wie sie Kontrollsysteme des Eisenbahnverkehrs oder von Kraftwerken lahmlegen können." Mehr unter anderem hier.

In der taz kritisiert der Politikwissenschaftler Alexander Rhotert scharf den Hohen Repräsentanten der internationalen Gemeinschaft für Bosnien, den ehemaligen deutschen Landwirtschaftsminister Christian Schmidt, der immer wieder die Kriegsverbrechen in den Jugoslawienkriegen verharmlose. Am 9. März bezeichnete Schmidt nun "auf einem Balkan-Forum in Budapest laut Anwesenden den Völkermord von Srebrenica als eine 'genocide-style situation'. Wirklich? Eine 'völkermordartige Situation' oder eine 'Situation im Stile eines Genozids' kennt das internationale Recht nicht. Für solche rhetorischen Entgleisungen sollten die Opfer eine umgehende Entschuldigung erwarten können, die erwartungsgemäß ausblieb. Warum? Weil Bosnien in Deutschland wenige interessiert, die Entscheidungen treffen.  ... Schmidt hat sämtliche Hoffnungen enttäuscht, strikter gegen serbische und kroatische Nationalisten vorzugehen, denen die Existenz des multiethnischen Bosniens ein Dorn im Auge ist. Obwohl Schmidt Macht und Mittel hat, gegen sie vorzugehen, tut er dies nicht. Im Gegenteil: Er stellt selbst den destruktiv agierenden Machthabern Serbiens und Kroatiens regelmäßig eine Carte blanche aus, indem er ihnen attestiert, einen mäßigenden Einfluss auf Bosnien zu haben."

Laut "Reporter ohne Grenzen" steht Russland auf Platz 150 von 180, was Presse- und Meinungsfreiheit betrifft. Mit dieser Information hat man daher nicht gerechnet: ein Bericht der staatlichen russischen Nachrichtenagentur Ria Nowosti berichtet über ausbleibende staatliche Entschädigungen an verwundete russische Soldaten, meldet Stephanie Munk in der FR: "Bis zu drei Millionen Rubel (umgerechnet rund 36.000 Euro) sollen kriegsverwundete Soldaten vom Staat erhalten, versprach Putin (...) Doch schon wenige Wochen später veröffentlichte das russische Verteidigungsministerium laut dem Bericht eine Liste mit bestimmten Verletzungen, bei denen eine staatliche Entschädigung gewährt werde. Schon damals hätten russische Menschenrechtsaktivisten Alarm geschlagen: Die Liste widerspreche dem Erlass von Putin. Und an dieser Liste des Verteidigungsministeriums scheitern die Entschädigungszahlungen wohl auch teilweise - zumindest schilderten dies mehrere enttäuschte und verzweifelte russische Soldaten im Interview mit Ria Nowosti. Um eine Entschädigung zu erhalten, müssen die Soldaten offenbar eine Bescheinigung mit ärztlicher Diagnose vorlegen. Daran scheint es bei einigen Betroffenen zu hapern: Ria Nowosti schildert mehrere Fälle, bei denen keine Entschädigung gewährt wird, weil die Soldaten angeblich nicht aufgrund des Ukraine-Kriegs gesundheitlich beeinträchtigt sind, sondern wegen allgemeiner Krankheiten."

Während die polnische Regierung Deutschland immer wieder scharf kritisiert, nicht genug für die Ukraine zu tun, hat in Polen der Bauernführer Michał Kołodziejczak mit einigen Anhängern nach einem gescheiterten Gespräch mit Polens Landwirtschaftsminister Henryk Kowalczyk das Ministerium besetzt, um die zollfreie Einfuhr von ukrainischem Getreide rückgängig zu machen, berichtet die FAZ. "Am Donnerstag sagte Regierungssprecher Piotr Müller, Polen fordere gemeinsam mit anderen ostmitteleuropäischen Ländern die EU-Kommission auf, Mechanismen für den Weitertransport von ukrainischem Getreide zu schaffen. 'Wir können den Transport in afrikanische Länder unterstützen, aber wir müssen die Situation in Polen im Auge behalten', sagte Müller. Der Streit in Warschau macht deutlich, wie sehr die Regierung den 34 Jahre alten Kołodziejczak fürchtet."

Außerdem: Tilman Spreckelsen hat für die FAZ im Germanischen Nationalmuseum in Nürnberg eine Ausstellung zur Geschichte und Zukunft der Migration besucht, deren "kluge Auswahl" und Präsentation von Einzelfällen er lobt.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 30.03.2023 - Europa

Nicht alle Linken sind für Russland oder gegen Waffenlieferungen an die Ukraine, auch hier gibt es Gruppen, die das Verteidigungsrecht der Ukraine unterstützen, erinnert Anastasia Tikhomirova in der taz und ruft zur Soldarität auf: "Die Berliner Gruppe Right to Resist UA, die ins Leben gerufen wurde, weil die Aktivisten die mangelnde Solidarität von Linken in Deutschland mit Ukrainern entsetzlich fanden, gehört dazu. Sie orientiert sich an den Positionen der ukrainischen Sozialisten Socialny Ruch, bei denen sich der Historiker Taras Bilous engagiert. Er kritisiert seit Beginn der russischen Komplettinvasion regelmäßig die Ignoranz der westlichen Linken gegenüber Russlands imperialen Ansprüchen. Anstatt die Welt nur in geopolitischen Lagern zu sehen, müssten sozialistische Internationalisten jeden Konflikt auf der Grundlage der Interessen der arbeitenden Menschen und ihres Kampfes für Freiheit und Gleichheit bewerten, findet Bilous. Er kämpft zudem an der Front und plädiert für Waffenlieferungen. 'Auch wir stellen uns gegen das kapitalistische System, in dem mit Krieg Profit gemacht wird', betont Aktivist Ian von Right to Resist. Man trete nicht generell für Waffenlieferung ein. 'Unsere Forderungen dürfen aber nicht realitätsfern werden.'"

Am Dienstagnachmittag beschloss der Labour-Parteivorstand auf Antrag Keir Starmers, dass dessen Vorgänger Jeremy Corbyn bei der nächsten Wahl 2024 in seinem Wahlkreis in Nord Islington, London, nicht mehr für Labour kandidieren darf, berichtet Daniel Zylbersztajn-Lewandowski auf einer zweiseitigen Reportage in der taz. Das hat vor allem mit Corbyns Antisemitismus zu tun. Viele Labour-Mitglieder sind darüber nicht glücklich, denn Starmer ist ihnen nicht links genug: "In Islington müssen die Labour-Aktivisten jetzt erst mal die Nachricht verdauen, dass ihr geliebter Abgeordneter Jeremy Corbyn nun außerhalb der Partei steht. 'Er ist beeindruckend gut, er sorgt sich sehr um die Wahlgemeinde und ist ansprechbar', so beschreibt Jasmin Walker ihren Abgeordneten. Selbst für kleine Treffen habe er sich Zeit genommen, berichtet die 28-jährige, die ein Online-Geschäft führt. Sie weiß, dass Corbyns Verbannung etwas mit Antisemitismus zu tun hat, aber genau versteht sie das nicht. 'Die Maßnahmen gegen Corbyn finde ich scheinheilig. Boris Johnson hat klar rassistische Sachen von sich gegeben und ihm ist so etwas nicht passiert.'" Ist Johnson jetzt bei Labour?

Auch der Irak-Krieg von 2003 war illegitim und gehört sicherlich zu den Faktoren, die heute Putins Krieg gegen die Ukraine möglich machten, dennoch gab es einen Unterschied, notiert Michael Thumann in der Zeit: "Einer der größten Schandflecke der jüngsten amerikanischen Geschichte ist das Foltergefängnis von Abu Ghraib im Irak. Die Verbrechen amerikanischer Uniformierter wurden allerdings in den USA verfolgt. Einige Täter und Komplizen wurden verurteilt und degradiert, wenn auch leider nicht die politisch Verantwortlichen. Wladimir Putin aber ließ die Täter der Massaker in den Vororten von Kiew mit Orden überhäufen. Das russische Regime ist ernsthaft stolz auf solche Verbrechen."

Im Tagesspiegel glaubt Christian Mölling, Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung, an eine weitere Welle der Mobilisierung in Russland: "Viele Soldaten der ersten Welle sind bereits gestorben oder verwundet. Es gibt vereinzelte Berichte, dass sich reguläre Armeetruppen weigern zu kämpfen. Mobilisierung ist auch eher ein Euphemismus, teilweise wird ja richtiggehend zwangsrekrutiert. Und die Rekruten müssen auch noch ausgebildet werden. Inzwischen werden sie teils ohne große Vorbereitung direkt an die Front geschickt."

In der SZ hat Raphael Geiger nicht wenig Hoffnung, dass Recep Tayyip Erdogan die kommenden Wahlen verlieren wird und die TürkInnen der Welt zeigen, wie man eine Demokratie verteidigt: "Die Türkei ist nie das fromme, dem Präsidenten hörige Land geworden - weil die Türkinnen und Türken jahrelang nicht nachgelassen haben. Erdoğans Gegner haben den Gegendruck aufrechterhalten. Sie gingen am Frauentag demonstrieren und auch an vielen anderen Tagen. Sie ließen sich gewisse Dinge nicht nehmen, Twitter etwa, also den Zugang zu Information. Die Opposition gewann zwar jahrelang nicht, blieb aber bestehen und vereinte sich zuletzt. Journalisten gründeten ihre geschlossenen Zeitungen neu, als Onlineportale. Selbst am Kiosk liegen noch immer die Cumhuriyet oder die Sözcü aus, die täglich schreiben, was Erdoğan falsch macht."
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9punkt - Die Debattenrundschau vom 29.03.2023 - Europa

Der Ansatz "Wandel durch Handel" war falsch, "denn die Wirtschaft treibt nicht die Politik. Es ist umgekehrt", sagt der ehemalige französische Ministerpräsident François Hollande im großen FR-Gespräch über Putins Lügen, Frankreichs Rechte, die Gefahr durch China und die Bedeutung der deutsch-französischen Beziehung: "Die Qualität der deutsch-französischen Beziehungen ist ausschlaggebend für den Fortschritt der Europäischen Union, heute mehr denn je. ... Das Wichtigste ist, gemeinsam ein 'Europa der Verteidigung' aufzubauen, das es uns ermöglicht, im Rahmen der Nato auf alle heutigen Bedrohungen reagieren zu können. Dies gilt auch für militärischen Ausrüstungsprojekte, für Investitionen in die Cyberverteidigung und die technologisch fortschrittlichsten Waffen."

Wie gut wäre die Regierung in Berlin eigentlich auf einen Atomangriff vorbereitet, fragt im Frankfurter Allgemeine Quarterly Lorenz Hemicker anlässlich der Drohungen Putins und lernt: "Vernünftige Möglichkeiten, sich im Falle eines drohenden gezielten nuklearen Angriffs auf das Berliner Regierungsviertel in Sicherheit zu bringen, gebe es so gut wie keine, heißt es aus Parlamentskreisen. Während der Zeit des Kalten Kriegs verfügte Deutschland im Krisen- und Verteidigungsfall über einen gehärteten Ausweichsitz in der Eifel für alle Verfassungsorgane des Bundes. In der Bunkeranlage, rund eine halbe Autostunde südlich von Bonn, hätte die Bundesregierung ihre Regierungsgeschäfte weiterführen sollen. Ende der 90er-Jahre wurde sie aus Kostengründen stillgelegt. Heute ist noch nicht einmal verbrieft, ob es für den Bundeskanzler und seinen engsten Stab in Berlin eine Möglichkeit gibt, sich rasch in Sicherheit zu bringen." Auch für die Bevölkerung gibt es kaum sichere Schutzräume in Deutschland.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 28.03.2023 - Europa

"Russland ist lange nichts passiert, was zerstörerischer und entmenschlichender wäre als der Krieg gegen die Ukraine. Da die russische Regierung nicht in der Lage ist, die Ukrainer zu entmenschlichen, entmenschlicht sie die eigenen Bürger", sagt der im Exil lebende russische Schriftsteller Dmitry Glukhovsky, der wegen seiner Äußerungen über den Krieg gegen die Ukraine wegen "Verbreitung bewusst falscher Informationen über die russische Armee" angeklagt ist, in der heute von der Berliner Zeitung übersetzten Rede, die er für das Moskauer Gericht schrieb: "Warum hat Russland die 'Verbreitung vorsätzlich falscher Informationen über den Einsatz der russischen Streitkräfte' zur strafbaren Handlung erklärt? Um den Menschen zu verbieten, die Wahrheit über die Morde und Gräueltaten zu sagen, die unsere Soldaten auf ukrainischem Boden verüben. Über Folter, Vergewaltigung, außergerichtliche Hinrichtungen. Die Fälle von Folter und Vergewaltigung sind dokumentiert. Die Leichen - die Hände auf dem Rücken gefesselt mit weißen Bändern, die russische Soldaten ukrainischen Zivilisten zu tragen befahlen - wurden exhumiert. Dies sind Fakten. Dies ist bereits geschehen. Die Wahrheit lässt sich nicht verbieten. Man kann nur versuchen, sie zu verbergen, um ungestraft weiter morden, foltern und vergewaltigen zu können."

"Der Vorwurf, Russland habe zwar die Ukraine überfallen, der Westen jedoch trage eine erhebliche Mitschuld, ist völlig berechtigt", meint Arno Widmann in der FR: "Allerdings nicht, weil der Westen Russland über den Tisch gezogen hat, sondern weil er es nicht getan hat." Und nun sind wir im Krieg, fährt er fort: "Je länger eine energische Antwort des Westens auf die russische Aggression auf sich warten lässt, desto mehr werden die ermutigt, die in Asien, Afrika oder Lateinamerika Ländergrenzen korrigieren wollen. Europa scheint die Ukraine zwar nicht mehr als Pufferzone zu betrachten. Aber jedes Mal, wenn sie sagen, Ukrainerinnen und Ukrainer opferten ihre Leben für die europäischen Werte, sagen sie: Ihr seid unser Kanonenfutter. Wir werfen euch den Russen zum Fraß vor, damit wir noch eine Weile unsere Ruhe haben. Das ist ganz sicher unmoralisch. Aber vielleicht ist es klug? Vielleicht gelingt es so, weder die Ukraine noch Russland den Krieg verlieren zu lassen? Ich glaube das nicht. Das zieht den Krieg nur in die Länge. Es wird über kurz oder lang kein Weg daran vorbeiführen, den ukrainischen Luftraum zu sichern."

Im Guardian schlägt der Ukrainer Vladyslav Vlasiuk vor, die Sanktionen gegen Russland auch auf die Kunstwelt auszuweiten, wo immer noch viel Geld gemacht und gehortet werde: "Westliche Verbündete der Ukraine, die versuchen, den Kreml wegen der Kriegsverbrechen in der Ukraine unter Druck zu setzen, könnten sanktionierte Russen von ihren prestigeträchtigen Kunstmärkten, einschließlich Auktionshäusern, ausschließen. Es könnten strengere Vorschriften über das wirtschaftliche Eigentum eingeführt werden, was dazu beitragen würde, den Immobilienmarkt und die Kunstwelt zu säubern. Eine internationale Taskforce sollte eingerichtet werden, um unbezahlbare Kunstwerke zurückzuholen, die von den russischen Besatzern aus ukrainischen Galerien und Museen geraubt wurden. Und die westlichen Behörden sollten Kunstwerke konfiszieren, die von sanktionierten Personen und deren Bevollmächtigten gekauft wurden. Das Geld sollte für den Wiederaufbau der Ukraine verwendet werden."

Man kann die Schweiz für vieles lieben, aber man sollte besser nicht fragen, womit sie ihr Geld verdienen, schreibt Jan Fleischhauer im Focus: Letztlich ist die Neutralität "nur ein anderes Wort für die Fortsetzung des Geschäftsbetriebs unter veränderten Bedingungen. So wie sie in der Schweiz Neutralität verstehen, ist es ein Freibrief, es sich unter keinen Umständen mit jemandem verderben zu lassen, auch nicht mit den übelsten Halsabschneidern und Blutsäufern. Vor ein paar Wochen mussten die Schweizer entscheiden, ob sie der Ukraine gegen die russischen Invasionstruppen helfen sollen. Die Hürde war denkbar niedrig. Sie hätten noch nicht einmal selbst helfen müssen. Sie hätten nur erlauben müssen, dass Deutschland die Panzermunition, die man in der Schweiz für den Gepard gekauft hat, an Kiew weitergeben darf. (…) Auch in der Schweiz ist man selbstverständlich für das Selbstverteidigungsrecht eines Volkes. Man will halt nur nicht dabei erwischt werden, dass man etwas dafür tut, dass sich jemand auch verteidigen kann. Nicht auszudenken, was Wladimir Putin denken würde, wenn er erfährt, dass die Schweiz dabei geholfen hat, Kinder vor dem sicheren Bombentod zu retten!"

Ähnlich argumentiert der Schriftsteller Daniel de Roulet, der in der SZ alle drei Schweizer Pfeiler - das Rote Kreuz, die Neutralität und die Banken - zusammenbrechen sieht. Er erinnert:  Nach dem Mauerfall wäre die Schweiz "fast Teil der Europäischen Gemeinschaft geworden, sie schloss sich der UN an und während sie das Bankgeheimnis auf sehr spezielle Weise der Zeit anpasste, wurde sie zum Hauptsitz des weltweiten Rohstoffhandels, dank günstiger Steuerkonditionen und der Neutralität. Und natürlich wurde sie immer noch reicher und die Bewohner profitierten von diesem ungerechtfertigten Reichtum. Die Schweiz hat also die aufgezwungene Neutralität durch opportunistische Neutralität ersetzt. In der Sprache helvetischer Diplomaten klingt das so: Wir sind von der militärischen Neutralität in die aktive Neutralität gewechselt, die Ihnen gern ihre Dienste anbietet. Die Verbindung von Neutralität und wachsendem Reichtum ist eine historische Koinzidenz, die zum Mythos stilisiert wurde. Dieser zweite Pfeiler Helvetiens bricht in dem Moment weg, in dem Europa von der Schweiz verlangt, wenigstens die Vermögen russischer Oligarchen aufzuspüren, wenn sie schon keine Waffen liefert."

Und was machen die Franzosen? Nikolaus Blome blickt bei Spon fassungslos auf das Land, das sich gerade selbst zerlegt: "In Frankreich wird seit Wochen der letzte demokratische Staatspräsident kaputt gestreikt. Nicht etwa aus materieller Not oder demokratischem Widerstand gegen eine unmenschliche Wirtschaftsreform, nein. Die Linken und die Grünen wollen sich im Aufstand ein letztes Mal selbst fühlen und zahlen jeden Preis dafür: Sie machen sich zur fünften Kolonne des Kreml und werfen ihr Land dem Rassemblement National in den Rachen. Bingo."

Die französische Anthropologin Florence Bergeaud-Blackler hat im Januar ihr Buch "Le frérisme et ses réseaux" über islamische Parallelgesellschaften in Frankreich und Belgien veröffentlicht, seitdem erhält sie Todesdrohungen. Im NZZ-Interview mit Lucien Scherrer spricht sie über die Strategien der "Freres", - gemäßigte Muslimbrüder - durch die sie auch die EU einlullen: "Sie tragen Anzüge und bunte Hijabs und geben der angeblich islamophoben Gesellschaft in Europa die Schuld am Terrorismus. Aus ihrer Sicht haben sich die Europäer an ihre Auslegung des Islam anzupassen und nicht umgekehrt. Die Bevölkerung soll sich an ihre fundamentalistischen Normen gewöhnen, von Ess- und Beziehungsvorschriften bis zum Kopftuch. (…)  Da sie zu wenig stark sind, um die Scharia durchzusetzen, versuchen sie, die Gesellschaft Scharia-kompatibel zu machen: Sie soll die Geschlechtertrennung, die Unsichtbarmachung der Frauen und die religiöse, auf Separation ausgerichtete Erziehung von Kindern akzeptieren. Dazu infiltrieren sie Organisationen, sie versuchen, sich überall einzubringen und den Diskurs über den Islam zu bestimmen, in der Bildung, in Stiftungen, in der Polizei, in der Justiz, auch in den Parteien. Keine Brüsseler Partei kann Wahlen ohne Muslime gewinnen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 27.03.2023 - Europa

In der FAZ hat Viktor Jerofejew mit westlichen Pazifisten angeblich nichts am Hut, plädiert jedoch für eine Einfrierung des Krieges gegen die Ukraine, was Forderungen deutscher Pazifisten sehr ähnlich ist: "Ich rede gar nicht davon, dass die Krim auf militärischem Weg nicht zurückgeholt werden kann. Putin würde uns da eher einen Atomkrieg bescheren. Selbst der Donbass dürfte, wie es heute scheint, in der Form zweier marionettenartiger Anhängsel von Russland bestehen bleiben. Wozu sich Russland angesichts einer festgefahrenen Pattsituation durchringen kann, ist bislang nicht klar, aber das Ausbleiben von Siegen ermüdet zweifellos die Generäle wie das Heer. Ein eingefrorener Konflikt bedeutet eine graue Zukunft, die niemanden erfreut." Russland werde sich hoffentlich eines Tages von den Illusionen Putins befreien, und Europa müsse noch lernen, dass Pazifismus nur gut ist, "wenn er die Demokratie stärkt und nicht schwächt. Der schreckliche Krieg könnte ein Europa, das sich in friedlich komfortablen Verhältnissen mit ihren Krisen eingerichtet hat, auf die Probleme der Zukunft vorbereiten. Ein blutiger Fleck aber wird für immer auf der Landkarte bleiben." Richtig, man sollte aber nicht vergessen, dass russische Soldaten dieses Blut vergossen haben.

Im Interview mit der SZ sieht der britische Wirtschaftshistoriker Adam Tooze nicht nur schwarz für die Ukraine, sondern auch für Europa und gleich die ganze Welt - einen Krieg der USA mit China hält er für ausgemacht. Und die Ukraine? Wird irgendwann "Frieden" schließen müssen, aber es wird ein Desaster: "Denn nach einem Friedensschluss lebt auch die nun ruhende Innenpolitik wieder auf. Ein Deal mit Putin wäre ein gefundenes Fressen für die Opposition: Sie wird Selenski kaputtmachen. Und das kann - schauen wir in die Geschichte - durchaus im Wortsinne passieren. Beim Vertrag von Versailles, bei der Trennung Irlands, in Israel bei den Oslo-Verträgen: Politiker, die Verantwortung übernehmen und ein Abkommen mit dem Gegner eingehen, befestigen eine Zielscheibe auf ihrer Brust."

Ganz anders sieht das der ETH-Militärökonom Marcus Keupp, der im Interview mit der NZZ (und anderswo) behauptet, Russland werde den Krieg im Oktober verloren haben und stützt sich dabei auf Zahlen: "Sie können diese Zahlen verifizieren. Es gibt eine große Open-Source-Intelligence-Community, der ich angehöre und die sich zum Beispiel Satellitenbilder besorgt oder andere Leute fragt, was vor Ort beobachtet wurde. Wir verfügen über Bilder aus der Bevölkerung und Daten von Fachexperten. Die Kriegsanalytik hat sich radikal verändert. Bisher hatten wir Militärexperten, die etwas behauptet haben. Oder wir hatten Formeln oder theoretische Modelle, mit denen etwas berechnet worden ist. Heute sehen Sie fast in Echtzeit, was an der Front passiert. Dieser Krieg ist der am besten dokumentierte Krieg der ganzen Menschheitsgeschichte, nicht zuletzt aufgrund der sozialen Netzwerke."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 25.03.2023 - Europa

Ähnlich wie neulich Marcel Gauchet (unser Resümee) schildert Daniel Cohn-Bendit im Gespräch mit Jan Feddersen in der taz die Rente als französische Ersatz-Utopie. Es gehe "um eine inzwischen kollektive Wunschvorstellung: Wir wollen so schnell wie möglich frei sein, und frei sein ist die Rente. Der Sozialismus ist kein Projekt mehr, und der christliche Glaube, nach dem das eigentliche Leben nach dem Tode anfängt, ist auch perdu. So ist die Rente ein Freiheitsversprechen."

Der große Fehler Emmanuel Macrons war es, nicht mit den Sozialpartnern zu verhandeln, sagt Ex-Präsident François Hollande im Gespräch Michaela Wiegel und Niklas Záboji in der FAZ. "Das ist das, was Sie in Deutschland tun: eine Vereinbarung aushandeln, bevor Sie vor das Parlament treten. Genau das wurde hier nicht erreicht, obwohl sich die französische Gewerkschaftslandschaft in den vergangenen Jahren verändert hat. Die wichtigste Gewerkschaft, die heute die Bewegung anführt, ist die CFDT mit Laurent Berger. Das ist ein Partner, der diesen Willen hat, Kompromisse suchen zu wollen, auch wenn er seine roten Linien hat."

Russland agiert aus einer Art wahnhaften Liebe zur Ukraine, sagt der Russland-Kenner Olaf Kühl, der gerade das Buch "Z - Kurze Geschichte Russlands von seinem Ende her gesehen" vorlegt, im Gespräch mit Jens Uthoff  von der taz: "Mich erinnert das an sogenannte Femizide, Morde an Frauen, die ihren Mann verlassen haben. Russland hat die Ukraine und die Krim geliebt. Die Aufsässigkeit seit der Orangen Revolution 2004 in der Ukraine hat eine Wut ausgelöst, die vergleichbar ist mit der des verlassenen Liebhabers. Die enttäuschte Liebe kann man auch vorher schon an den späten Gedichten Joseph Brodskys ablesen."

In Moskau streiten sich Fraktionen der Opposition, namentlich die Gruppe um Alexei Nawalny und seinen Statthalter Leonid Wolkow und die Gruppe um Alexei Wenediktow, ehemals Chef des Senders Echo Moskwy, schreibt Nikolai Klimeniouk in der FAS. Die Fraktionen werfen sich gegenseitig nicht ohne Belege Korruption und Heuchelei vor: "Der Streit zwischen dem Nawalny-Lager und Wenediktow stellt die russische Opposition, besonders ihre alte Garde, vor eine schwere Zerreißprobe. Bisher waren es immer wieder dieselben Leute, die Wenediktow gegen den Vorwurf der Kollaboration verteidigten und Nawalny gegen Kritik an seinem Nationalismus. Das jeweilige Vorgehen, hieß es aus dem Mund der Apologeten, sei taktisch klug und aus übergeordneten Gründen notwendig gewesen. Wer das beanstande, spiele nur dem Kreml in die Hände. Doch jetzt appellieren dieselben Leute mit denselben Argumenten flehentlich an die Streitparteien, sich rasch zu versöhnen."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 24.03.2023 - Europa

Daniel Rohers Dokumentarfilm über Alexei Nawalny wurde mit einem Oscar ausgezeichnet. Die Begeisterung darüber wird in der Ukraine allerdings nicht geteilt, wie Ulrich M. Schmid in der NZZ berichtet. Dort steht man dem Putin-Gegner kritisch gegenüber, der The Kyiv Independent bezeichnete in gar als "Imperialisten". Das liegt zum einen an Nawalnys nationalistischen Positionen in der Vergangenheit, so Schmid, und zum anderen an seiner ambivalenten Haltung zum Ukrainekrieg: "Schon die russische Annexion der Krim hatte Nawalny in ein Dilemma gestürzt. Als russischer Patriot konnte er sich nicht direkt gegen das Vorgehen des Kremls aussprechen, als Putin-Gegner musste er es scharf verurteilen. In einem oft zitierten Radiointerview sagte Nawalny im Oktober 2014, dass die Krim zwar in eklatanter Verletzung des Völkerrechts annektiert worden sei, aber Teil Russlands bleiben werde. Die Krim sei kein Wurstbrot, das man hin und her reichen könne. Später relativierte er seine Position. 2017 kündigte er an, er werde als zukünftiger russischer Präsident ein gerechtes Referendum auf der Krim durchführen. Allerdings räumte er sogleich ein, dass die Ukraine ein solches Referendum wohl nicht anerkennen würde." Im September 2022 hatte Nawalny dann den Krieg gegen die Ukraine in der Washington Post scharf kritisiert, aber das konnte ihn in den Augen vieler Ukrainer wohl nicht mehr rehabilitieren.

"Es ist wichtig, Putin vor seinen Landsleuten als einen versagenden Führer erscheinen zu lassen, der nicht in der Lage ist, seinen Gesellschaftsvertrag zu erfüllen", schreibt der ehemalige ukrainische Präsident Petro Poroschenko in der Welt. Fünf Maßnahmen schlägt er vor, um den Kreml durch "innere Unruhen zu Fall zu bringen", darunter eine Senkung der Preisobergrenze für Erdöl und Erdölprodukte und eine Lieferquote für russische LNG-Produkte. "Drittens sollte der Suezkanal für Erdöl und Erdölraffinerieladungen russischer Herkunft geschlossen werden. Der Weg um Afrika herum ist länger, die Fracht ist teurer, die Zahl der Tanker ist höher, die Logistikkosten sind höher und die Gewinne sind geringer. Viertens soll der südliche Zweig der Druschba-Pipeline, der Russland immer noch um 4 Milliarden Dollar jährlich bereichert, eingestellt werden. Für Ungarn, die Tschechische Republik und die Slowakei könnten Alternativen entwickelt werden. (…) Fünftens: Wir schlagen vor, nicht nur Sanktionen gegen Russlands riesige Schattentankerflotte zu verhängen, sondern auch Sekundärsanktionen gegen diejenigen, die das von diesen Schiffen transportierte Öl kaufen."

Im Interview mit der taz erklärt der ehemalige georgische Minister Paata Zakareishvili, warum die Georgier gegen das von der Regierung geplante (und inzwischen gekippte) Agentengesetz aufbegehrten, mit dem  Medien und Nichtregierungsorganisationen, die Geld aus dem Ausland erhalten, als "ausländische Agenten" eingestuft werden sollten. "Man hat in unserer Gesellschaft begriffen, dass dieser Gesetzentwurf gegen die Europäische Union gerichtet war", sagt Zakareishvili, und bringt damit den Konflikt zwischen russlandfreundlicher Regierung und zur EU tendierender Bevölkerung auf den Punkt. "Insgesamt zwölf Punkte hat die EU-Kommission formuliert, an denen Georgien bis zum Ende des Jahres arbeiten müsse, um eine Empfehlung für den Status eines Beitrittskandidaten zu erhalten. So wie ihn die Ukraine und Moldau erhalten haben. Und darauf arbeitet die georgische Gesellschaft hin. Ich habe schon lange das Gefühl, dass unsere Machthaber gar nicht wollen, dass wir Beitrittskandidat werden. Und da passt es auch gut ins Bild, dass sie sich so eine Dummheit einfallen ließen, mit der man wohl erreichen wollte, dass uns der Beitrittskandidatenstatus verwehrt wird."

Letzte Woche wurde vor dem Bezirksgericht in Jefremow, vier Autostunden südlich von Moskau gelegenen Provinzstadt, neben einem Bagatelldiebstahl und einer Trunkenheitsfahrt ein Sorgerechtsfall verhandelt. Und der hatte es in sich, erzählt Eva Hartog bei Politico: "Der Fall betrifft Alexej Moskalyov und seine 12-jährige Tochter Masha, die die Aufmerksamkeit der Behörden auf sich zog, als sie im April letzten Jahres in der Schule ein pro-ukrainisches Bild malte. Fast ein Jahr später befindet sich Masha in staatlicher Obhut. Ihr Vater Alexej sieht sich mit zwei Gerichtsverfahren konfrontiert: eines zur Einschränkung seiner elterlichen Rechte und ein zweites wegen 'Diskreditierung der russischen Armee', was ihn ins Gefängnis bringen könnte. ... Es gab bereits mehrere andere Fälle, in denen Kinder und ihre Familien wegen Anti-Kriegs-Aktionen in rechtliche Schwierigkeiten geraten sind. Der Fall Moskalyov könnte jedoch einen wichtigen Präzedenzfall schaffen, der an die stalinistische Praxis erinnert, die Kinder von 'Staatsfeinden' von ihren Eltern zu trennen und sie zu zwingen, sich von ihnen loszusagen", sagt der Oppositionspolitiker Andrei Morev zu Hartog.

9punkt - Die Debattenrundschau vom 23.03.2023 - Europa

Der Krieg Russlands gegen die Ukraine ist "eine Schlacht um die Vergangenheit und ihre Umverteilung: Die Vergangenheit als Alibi und als Ressource", schreibt in der FAZ der bulgarische Schriftsteller Georgi Gospodinov. "Mit diesem Krieg sagt Putin: 'Lasst uns auf meinem Territorium, Verzeihung, in meiner Zeit kämpfen, in den Vierzigern'." Viele Bulgaren sind dazu tatsächlich bereit, so Gospodinov. "Dem Eurobarometer vom Mai 2022 zufolge stehen die Bulgaren unter allen EU-Staaten dem russischen Standpunkt zum Krieg am nächsten. ... Die bulgarische Gesellschaft scheint heute gespalten zu sein wie seit Jahrzehnten nicht mehr. Manchmal hat man das Gefühl, sich am Rande eines stillen Bürgerkriegs zu bewegen. Nach 1989 stand dieser Teil Europas nie mehr vorn auf der Bühne der Geschichte. Doch hörte er nie auf, auch in seiner Literatur davor zu warnen: Was passiert ist, kann sich jederzeit wiederholen. Hier konnte man erfahren, dass die Geschichte noch nicht vorbei ist, dass niemand, wie viele Kilometer westlich er sich auch befinden mag, beruhigt sein kann. Das Zentrum Europas ist nichts Statisches, fest verankert in Berlin oder Paris, sondern ein beweglicher Ort des Schmerzes. Es ist da, wo es wehtut und blutet, und heute befindet es sich im Osten, in der stolzen Ukraine."

Für die Seite 3 der SZ ist Cathrin Kahlweit quer durch die Republik Moldau gereist, hin zu Putin-Anhängern in Gaugasien, nach Transnistrien, wo fast alles noch aussieht wie zu Glanzzeiten der UdSSR und nach Orhei, wo eine Rentnerarmee, finanziert von dem Oligarchen Ilan Shor für dessen Pläne demonstriert, die moldauische Regierung durch eine pro-russische Führung zu ersetzen. Geheimdienste berichten außerdem, dass die russische Propaganda nochmal stark zugenommen habe: "Das Netz ist voller Warnungen vor Geheimdienstoperationen unter falscher Flagge, mit denen ein militärischer Konflikt vom Zaun gebrochen werden könnte. Regelmäßig überfliegen russische Raketen, abgeschossen im Schwarzen Meer, moldauisches Territorium. Gut trainierte Provokateure werden eingeschleust: Hunderte Rowdys und mutmaßliche Saboteure, sogar Mitglieder der Wagner-Gruppe, seien in den vergangenen Wochen an den Grenzen abgewiesen oder festgenommen worden, sagt Lilian Carp, Vorsitzender des Parlamentsausschusses für Sicherheit, bei einem Treffen in der Hauptstadt."

In der taz kritisiert der Linken-Abgeordnete Moheb Shafaqyar den Berliner Klimavolksentscheid: Er werde mit Nein stimmen, denn "im Gesetzesvorschlag selbst findet sich keine Vorstellung davon, wie das Ziel zu erreichen ist". Zudem "wird nicht der Gesetzgeber, also das Parlament, sondern der Senat, die Regierung, gesetzlich verpflichtet, Maßnahmen und Konzepte vorzulegen, wie Berlin innerhalb von 7 Jahren klimaneutral werden soll. Das ist eine gravierende und undemokratische Machtverschiebung."

9punkt - Die Debattenrundschau vom 22.03.2023 - Europa

"Frankreich gleicht dem Vereinigten Königreich vor dem Brexit und den USA vor der Wahl von Trump", schreibt Nils Minkmar in seinem SZ-Bericht zur desolaten Lage der französischen Nation. Paris versinkt in Müllbergen und immer mehr Städter setzen auf "regressive Revolution" - sie ziehen aufs Land: "Weg aus Paris, aus der digitalen Hölle und hin zu einem naturnahen und autonomen Leben in Handwerk und Landwirtschaft. Sie machen Käse, beleben alte Traditionen neu oder renovieren eine verlassene Dorfwirtschaft - so sehen die Heldinnen und Helden der französischen Gegenwart aus. (…) Allerdings begünstigen all diese kulturellen Trends - die Sehnsucht nach Ruhe und Stabilität, die Nostalgie nach einem undefinierten Früher und der Wunsch, sich vom Stress der internationalen Vergleiche in puncto Wachstum und Staatsschulden zu lösen - die extreme Rechte und deren Spitzenkandidatin Marine Le Pen. Sie muss nicht mehr agitieren, nicht mehr stören oder brüllen, sondern äußert sich nur noch in Zimmerlautstärke."

Der türkische Staatspräsident Erdogan tut alles, um die kommenden Wahlen zu gewinnen, fürchtet Bülent Mumay in der FAZ. Jetzt verbündet er sich sogar mit der HÜDA-PAR, dem politischen Arm der Terrororganisation Hizbullah, die für besonders brutale Morde in der Türkei verantwortlich ist. Freundschaftliche Beziehungen zu ihr pflegt Erdogan schon länger: "Mehr als hundert für brutale Morde verantwortliche Hizbullah-Mitglieder wurden 2011 freigelassen, weil die Verfahren angeblich zu lange dauerten. Dann wurde bekannt, dass vor den Kommunalwahlen 2019 auch die Terroristen, die mit 469 Patronen aus 16 Kalaschnikows den Polizeichef von Diyarbakır und seine fünf Bodyguards ermordet hatten, auf freien Fuß gesetzt worden waren. Erdoğan konnte nicht einmal stoppen, dass sogar die staatliche Religionsbehörde Diyanet zu bedenken gab: 'Die Hizbullah hat die Partei HÜDA-PAR gegründet, weil sie damit bessere Propagandamöglichkeiten hat. Die Partei verfügt über Gewaltpotential.' Um ein paar Tausend Stimmen mehr zu bekommen, hat Erdoğan die Partei der gewalttätigsten Organisation der türkischen Geschichte zu 'Freunden' erklärt."