9punkt - Die Debattenrundschau

Es ist kein Dada-Stück

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
01.12.2023. "Radikale Muslime und verbohrte Linke mobilisieren zum Druck auf europäische Regierungen - ein Paradebeispiel für Unterwanderung", warnt Ahmad Mansour in der taz. Auch die Regierungen tragen ihren Anteil am Freiraum der Extremisten, meint Boualem Sansal in der Welt. Ein Großteil der Palästinenser will gar nicht gegen die Hamas aufbegehren, schreibt Mirna Funk in der NZZ. Die Deutschen stehen auch den Palästinensern gegenüber in der Schuld, glaubt der Sinologe Heiner Roetz in der FR. Russlands Kampf gegen Homosexuelle wird immer schlimmer und grotesker, hält die taz fest.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 01.12.2023 finden Sie hier

Politik

Klarere Worte als im gestrigen Zeit-Interview (unser Resümee) findet Ahmad Mansour heute in der taz, wenn er mit Blick auf die Allianz zwischen Islamisten und der postkolonialen Linken von einer weiteren "Zeitenwende" spricht und sich fragt, ob Politik und Medien bewusst die Augen vor Antisemitismus in muslimischen Communitys verschließen: "Radikale Muslime und verbohrte Linke mobilisieren zum Druck auf europäische Regierungen - ein Paradebeispiel für Unterwanderung. Solche Taktiken beschreiben bereits die Schriften der Gründerväter der Muslimbruderschaft. Sie inspirieren ihre Anhänger, wie die Hamas, auch in der Gegenwart. Umso erschreckender, wenn diese Dynamik auch Einfluss auf Mainstream-Politik und akademische Milieus ausübt. Teils werden Islam-Fundamentalisten nicht nur toleriert, sondern sogar als Partner gesehen, mit öffentlichen Geldern unterstützt und vor Kritik auch aus der muslimischen Gemeinschaft geschützt. Die jüdische Gemeinschaft und Israel werden sich der veränderten Weltlage bewusst. Noch haben sie die Unterstützung der USA und anderer europäischer Länder. Der Westen muss sich aber enorm viel mehr Klarheit verschaffen über die Milieus, die vom demokratischen Weg abgekommen sind, in der Politik wie im Bildungssystem, in der Wissenschaft und in Thinktanks."

Noch einen Schritt geht der algerische Schriftsteller Boualem Sansal, der im Welt-Gespräch im Schweigen arabischer Intellektueller erkennt, "dass ein nicht zu unterschätzender Teil der westlichen Muslime antisemitisch und antiisraelisch ist. Die einen stehen dazu und rufen es laut aus, die anderen schweigen, weil sie fürchten, dass man ihnen Antisemitismus oder die Apologie des Terrors vorwirft. Diejenigen, die nicht antisemitisch sind oder auch nur Mitgefühl für die Juden Israels verspüren, sind wie paralysiert, weil sie eine brüderliche Pflicht gegenüber den Palästinensern zu haben glauben. Außerdem nehmen sie sehr aufmerksam zur Kenntnis, dass auch die Menschen des Okzidents aus denselben Gründen gespalten sind. Der Schaden ist da, die Angst hat sich im Gemeinwesen ausgebreitet und gibt nur Extremisten Freiraum, die ihn nutzen, um zu behaupten, dass die öffentliche Meinung auf ihrer Seite steht. Das ist die Falle derjenigen, die nichts sagen. Auch die Regierungen tragen ihren Anteil an Heuchelei, Feigheit und Verrat daran."

Warum begehren die Palästinenser nicht gegen die Hamas auf? Ganz einfach, meint Mirna Funk in der NZZ, weil sie es gar nicht wollen. Neue Statistiken des Arab World for Research and Development zeigen, so Funk, dass ein großer Teil die Hamas und ihre Ziele unterstützt: "Wenn in Gaza mehr als zwei Drittel der Bevölkerung die Hamas unterstützen und an keiner Zweistaatenlösung interessiert sind, erklärt das möglicherweise auch das fehlende Aufbegehren gegen die Hamas. Aber selbst die 20 beziehungsweise 22 Prozent, die sich in Gaza gegen das Massaker der Hamas oder für eine Zweistaatenlösung aussprechen, haben eine persönliche Verantwortung in der Diktatur. Sie sind wenige, aber sie sind nicht ohne Stimme. Sie sind die Opposition, die es braucht, die es in der Geschichte der Menschheit in jeder Diktatur immer gegeben hat. Ein aktuelles Beispiel ist Iran, wo unter Todesandrohungen seit Jahren mutige Männer und Frauen auf die Strasse gehen. Der Umstand, dass die Menschen in Gaza nun unter den Entscheidungen ihrer Regierung leiden, ändert nichts an der persönlichen Verantwortung, die jedes Individuum innehat. Auch in einer Diktatur. Besonders in einer Diktatur."

Für SZ-Kritiker Peter Münch gibt es nur eine Möglichkeit, den Krieg in Gaza zu beenden: "Die Hamas muss die Waffen niederlegen und die Macht über Gaza abgeben. Das mag nach einer naiven Forderung klingen, zumal bei einer Terrortruppe, die dem Märtyrerkult frönt. Doch unter drei Voraussetzungen könnten zumindest die Chancen dafür ausgelotet werden. Katar, Ägypten und andere arabische Staaten müssen maximalen Druck für eine solche Lösung auf die Hamas ausüben und gegebenenfalls Exil bieten. Israel muss vom Kriegsziel der kompletten Vernichtung abrücken und einen Rückzug erlauben - in der bitteren Gewissheit, dass die Hamas als Terrortruppe weiterkämpft, aber immerhin kein staatsähnliches Gebilde mehr kontrolliert. Die Weltgemeinschaft hat dann die Aufgabe, hinter dem Schlachtfeld einen politischen Horizont zu eröffnen: mit einem Plan, die Leerstelle in Gaza zu füllen; mit Verhandlungen zu einer Zweistaatenlösung."

"In der deutschen Diskussion, die Solidarität mit den Juden letztlich immer mit zwanghaftem Leisetreten gegenüber der israelischen Politik kurzschließt, sind die wohlgemerkt jüdischen Argumente gegen den Zionismus weitestgehend tabuisiert",  schreibt der Sinologe Heiner Roetz in der FR. Seit der Gründung Israels gehe es den Deutschen nur um eine "Entlastung von Schuld", so Roetz: "Wäre es um etwas anderes gegangen, nämlich um ein moralisches Anliegen, dann hätte man nicht billigend in Kauf genommen, sondern ein Problem damit gehabt, dass die arabischen Bewohner Palästinas mit ihrem Land den Großteil der deutschen Rechnung zahlten. Und man hätte möglicherweise auch erkannt, dass es eben zu Israels Sicherheit erforderlich sein könnte, die Stimme zu erheben, wenn seine Politik seine Existenzgrundlagen unterhöhlt. Dann wäre es nicht so weit gekommen, dass die sogenannten 'Freunde Israels', so schrieb Isaak Deutscher, 'ihm tatsächlich bei einem ruinösen Kurs beigestanden haben'. Es führt eine Linie des Antisemitismus direkt in die deutsche Staatsräson, und sie zeigt sich an ihrem Verhältnis zu den Palästinensern. Dass auch deren Los mit der deutschen Geschichte zu tun hat und damit auch ihnen gegenüber eine Schuld besteht, hat, soweit mir bekannt ist, nie Eingang in Deutschlands Überlegungen zu seinem Selbstverständnis gefunden."

Ja, man muss sich gerade bei Diskussionen um den Nahostkonflikt über die Definitionen von Begriffen klar sein, schreibt Ulrich Seidler in der Berliner Zeitung. Das Twitter-Statement von Amnesty-International macht ihn aber fassungslos: "Die NGO möchte im Zusammenhang mit dem 7. Oktober lieber nicht von 'Terrorismus' sprechen, wie sie kürzlich per X mitteilte. Es gebe für den Begriff keine rechtsgültige Definition. Die X-Community hat das widerlegt und verweist auf eine UN-Resolution (UNSCR 1566) von 2004 zur Terrorismusbekämpfung, die eine völkerrechtsverbindliche Terrorismus-Definition enthält. Aber auch ohne dies ist nicht verständlich, aus welchen Gründen sich jemand ziert, das Offensichtliche beim Namen zu nennen. Etwas nicht auszusprechen kann auch eine Form sein, sich in einer ideologisch umkämpften Debatte zu positionieren. Ein bisschen näher bei der Hamas-Propaganda eben."

"Der über Leichen ging" ist der Nachruf überschrieben, den Stefan Schaaf, USA-Korrespondent der taz, auf Henry Kissinger geschrieben hat und in dem er etwa an die Rolle erinnert, "die Kissinger in seinen Regierungsämtern zwischen 1969 und 1976 bei der Operation Condor, beim Putsch in Chile oder in der Endphase des Vietnamkrieges spielte, recht genau. 'Grob überschlagen, kommen da vielleicht drei bis vier Millionen Tote zusammen', schreibt der Kissinger-Biograph Greg Grandin. (…) Er steht wie kaum ein anderer in der Geschichte der Vereinigten Staaten seit dem Zweiten Weltkrieg für die Ausübung skrupelloser Macht - einer Macht, die sich sicher wähnte, von niemandem kontrolliert werden zu können." Schaaf erinnert auch an die Bänder mit Kissingers Telefonaten zwischen 1969 und 1977, die das National Security Archive in Washington nach einem langen Rechtsstreit zur Verfügung stellte: "Auf diesen Bändern fand sich 2010 auch Kissingers Reaktion auf die 1973 ausgesprochene Bitte der israelischen Ministerpräsidentin Golda Meir, Moskau zu drängen, mehr sowjetische Juden ausreisen zu lassen. Nach dem Besuch Meirs sagte er zu Nixon: 'Die Auswanderung von Juden aus der Sowjetunion ist kein Ziel der amerikanischen Außenpolitik. Auch wenn sie Juden in Gaskammern stecken, ist das keine amerikanische Angelegenheit. Vielleicht ist es eine humanitäre Angelegenheit.'"
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Europa

Das russische Justizministerium hat sich nun eine "internationale LGBT-Bewegung" ausgedacht und diese als "extremistisch" eingestuft, berichtet Inna Hartwich in der taz aus Moskau: "Die 'Bewegung' stachele zu religiösem und sozialem Hass auf." Konkreter wurde es nicht, dafür umso grotesker: "Alle, die sich für die Rechte sexueller Minderheiten einsetzen und bislang eingesetzt hatten, sind damit potenzielle 'Extremisten', denen ab jetzt jahrelange Haftstrafen drohen könnten. Es ist kein Dada-Stück, das an diesem Donnerstag mehr als fünf Stunden lang im Zentrum Moskaus aufgeführt wird. Es ist die Demonstration dessen, wie Russland die bloße Existenz einer ganzen Gruppe von Menschen für gesetzeswidrig erklärt. Was das neue Urteil für jeden Einzelnen bedeutet, lässt sich nicht sagen, es verändert aber die Atmosphäre im Land. Beratungsstellen werden wohl in den Untergrund gehen, manche Menschen dürften aufgrund ihrer 'nicht traditionellen sexuellen Orientierung', wie es im Russischen heißt, ihre Arbeit verlieren, andere auch ihre Freiheit. Die tägliche Erniedrigung von Queerpersonen ist nun Gesetz im Land."
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Stichwörter: Russland, Lgbtq, Homosexualität

Kulturpolitik

Nach den agressiven propalästinensischen Protesten an der UdK, bei der auch antisemitische Symbolik verwendet wurde, machen sich viele Sorgen um die Debattenkultur an der Universität: Peter Richter hat für die SZ mit Studierenden gesprochen. Sie beklagen, gibt Richter wieder, eine "Verrohung" des Tons und mangelnde Analysefähigkeiten bei ihren Kommillitonen: "Ein Student, der anonym bleiben möchte, beklagt eine hausgemachte Neigung zum Unterkomplexen, Parolenhaften und blind Nachgebeteten. Er erlebe bei seinen Kommilitonen, 'dass die analytischen Fähigkeiten gar nicht da sind. Die werden direkt diesem Diskurs ausgesetzt, ohne überhaupt die Werkzeuge zu haben, um zu erkennen, was ein richtiges Argument ist'."

Auf Artechock fasst Rüdiger Suchsland die Ereignisse an der UdK ziemlich entsetzt zusammen und endet mit einem Aufruf: "Wir haben alle viel zu viel Angst, wir sind auch zu bequem und manchmal müde; wir ziehen uns zurück. Wir sollten aber lauter werden und wacher und engagierter. Wir sollten den Extremisten der Rechten und Linken, die so tun, als hätten sie die Mehrheit, nicht die Öffentlichkeit überlassen."
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