Anselm Gerhard (Hg.)

Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin?

Die akademische Musikforschung zwischen Fortschrittsglauben und Modernitätsverweigerung
Cover: Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin?
J. B. Metzler Verlag, Stuttgart 2000
ISBN 9783476016676
Kartoniert, 409 Seiten, 32,72 EUR

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 28.10.2000

In einem sehr ausführlichen Essay kommt Eckhard John auf verschiedene Neuerscheinungen zum Thema der Musikwissenschaft im Nationalsozialismus zu sprechen - und dabei geht er äußerst streng mit dieser Disziplin ins Gericht, die sich seiner Darstellung nach noch später als andere Geisteswissenschaften mit ihrer Nazi-Vergangenheit befasst hat. Johns Argumentation legt nahe, dass es gerade daran lag, dass diese Disziplin besonders tief und besonders freiwillig in die Verbrechen verstrickt war. Erst 1996 hielten Musikwissenschaftler das erste Kolloquium zum Thema ab, und zwar in der Schweiz. Der von Anselm Gerhard herausgegebene Band "Musikwissenschaft - eine verspätete Disziplin?" (Metzler), den John in seiner Kritik nur erwähnt, versammelt die Akten dieses Kongresses.
1) Pamela M. Potter: "Die deutscheste aller Künste" (Klett-Cotta)
Besonders eingehend widmet sich John in seiner Kritik Pamela M. Potters Monografie, die eine Aufbereitung des gesamten Themenbereichs verspricht. Die Verdienste der Studie liegen nach John vor allem in der Archiv- und Quellenarbeit der Autorin, die zu einigen bedeutenden Personen der Zeit wichtiges neues Material gefunden zu haben scheint. Die historische Analyse dieses Materials hat John allerdings unbefriedigt zu lassen. Er mag etwa der These der Autorin, der Antisemitismus der Musikwissenschaftler sei vielfach nur "Lippenbekenntnis" gewesen, ganz und gar nicht zustimmen und argumentiert - unterstützt von Potters Material selbst - eher in Richtung einer großen Kontinuität mit der Weimarer Republik. Schon damals seien Deutschtümelei und Antisemitismus in der Musikwissenschaft stark verbreitet gewesen. Gegen Potters These spricht für ihn auch, dass sich die Musikwissenschaft nach 1933 mehr oder weniger von selbst gleichgeschaltet habe. Dennoch betont John nochmals die Bedeutung von Potters Arbeit, die er vor allem in den zahlreichen "fachgeschichtlichen und biografischen Details" erblickt.
2) Willem de Vries: "Sonderstab Musik" (Dittrich)
Kürzer, aber sehr beeindruckt berichtet John über diesen Band, der in Belgien, den Niederlanden und Frankreich die Plünderungspolitik der Nazis untersuchte. Er beweist für John die "direkte Beteiligung" von Musikwissenschaftlern an der Arisierungs- und Mordpolitik der Nazis. John belegt das vor allem mit dem Raub unschätzbarer Archive - wie etwa des Besitzes von Darius Milhaud -, die bis heute verloren sind.
3) Michael H. Kater: "Die missbrauchte Muse" (Europa)
Wenig Zustimmung findet bei John dagegen dieser Band. Ohne genauer auf einzelne Darlegungen Katers einzugehen, fühlt sich der Rezensent durch den "herablassenden Ton" gestört, mit dem Kater auf bisherige Forschungsergebnisse zurückblicke, und wirft ihm zugleich einen personalisierenden und allzu subjektiven Umgang mit seinem Gegenstand vor.
En passant erwähnt John auch weitere Studien zum Thema, etwa Eva Weißweilers Band "Ausgemerzt! Das Lexikon der Juden in der Musik und seine Folgen" (Dittrich) und den Sammelband "Die dunkle Last - Musik und Nationalsozialismus" (Bela-Verlag). Auch auf zwei englischsprachige Bücher geht er kurz ein, Michael H. Katers "Composers of the Nazi Era" (Oxford University Press) und den Sammelband "Driven into Paradise - The Musical Migration from Nazi Germany to the United States" (University of California Press).
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