Christina Morina

Tausend Aufbrüche

Die Deutschen und ihre Demokratie seit den 1980er-Jahren
Cover: Tausend Aufbrüche
Siedler Verlag, München 2023
ISBN 9783827501325
Gebunden, 400 Seiten, 28,00 EUR

Klappentext

Die Ost-West-Debatte der Deutschen ist oft von gegenseitigem Unverständnis und Zuspitzungen geprägt. Christina Morina vermeidet die übliche Frontenbildung und rückt - anhand vieler bisher unerforschter Selbstzeugnisse wie Bürgerbriefe, Petitionen und Flugblätter - die Demokratievorstellungen und das Selbstverständnis ganz normaler Bürgerinnen und Bürger in Ost und West seit den 1980er Jahren in den Fokus. Indem die Autorin die Demokratiegeschichte der Bundesrepublik und die Demokratieanspruchsgeschichte der Deutschen Demokratischen Republik miteinander verzahnt, kann sie maßgebliche Unterschiede und wechselseitige Bezüge im Staats- und Politikverständnis herausarbeiten. Dabei entsteht ein differenziertes Bild: Viele Bewohner der DDR identifizierten sich mit ihrem Land und dessen "volksdemokratischen" Idealen, blieben dem Staat und seinen Institutionen gegenüber jedoch skeptisch. Diese Staatsferne gepaart mit einem oft provinziell-utopischen Bürgersinn, dessen Potentiale nach der Vereinigung weitgehend ungenutzt blieben, wirkt bis heute nach. Im Zusammenspiel mit einem wiedererstarkenden Nationalismus im Westen entstand so nicht zuletzt auch der Nährboden für den Aufstieg des Rechtspopulismus. Christina Morinas Buch offenbart die Grenzen der westdeutschen Liberalisierung ebenso wie die Vielfalt der ostdeutschen Demokratieaneignungsversuche - ein wichtiger Beitrag zum Verständnis der gegenwärtigen prekären Lage der Demokratie.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 19.12.2023

Bitten und Beschwerden von Bürgern der alten wie der neuen Bundesländer bis ins Jahr 1991 hat Christina Morina für ihr Buch ausgewertet, so Rezensent Wolf Lepenies. Im Zuge der Auswertung treten Unterschiede zutage, erfahren wir, unter anderem zeigt sich, dass der Demokratieidealismus im Osten ausgeprägter war als im Westen. Das entspricht, so Lepenies mit Morina, der Demokratie-Rhetorik der DDR-Führung, die in Verbund mit der faktischen Verweigerung demokratischer Mitbestimmung ein Defizit entstehen lies, das sich nach der Wende in Forderungen nach einer umfassenden demokratischen Neuordnung entlud. Im Westen hingegen, zeichnet der Rezensent die Argumentation nach, dominierte lange ein eher pragmatischer Demokratiediskurs, in den 1980ern allerdings erzielte die Staatsform ausgesprochen hohe Zustimmungswerte. Weiterhin zeichnet Lepenies mit Morina nach, wie nach 1989 in den neuen Bundesländern eine neue Verfassung mit mehr direktdemokratischen Elementen gefordert wurde, was sich allerdings nur auf Länderebene, nicht auf Bundesebene in Gesetzen niederschlug. Eben deshalb kann die AfD, resümiert Morina laut dem von der Argumentation überzeugten Rezensenten, mit ihrer Kritik an der Parteiendemokratie reüssieren. Die Politik sollte diesen Aspekt der jüngeren Demokratiegeschichte ernster nehmen als bisher, findet Lepenies nach der Lektüre.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 20.10.2023

Rezensent Stefan Locke hat Christina Morinas "Tausend Aufbrüche" mit Gewinn gelesen. Obwohl bereits das dritte DDR-Erklärungsbuch innerhalb eines Jahres, ist Morinas Untersuchung keinesfalls redundant oder überflüssig, betont Locke. Ganz im Gegenteil: Zwar sei es nicht ganz so eingängig geschrieben wie etwa Dirk Oschmanns "Der Osten - eine westdeutsche Erfindung", dafür widmet es sich der Geschichte von Ost und West aus einem ganz neuen Blickwinkel - und dies auf äußerst versierte und ausführliche Weise, lobt der Kritiker. Statt sich auf die DDR als Problemkind zu konzentrieren, nimmt Morina die gesamtdeutsche Geschichte in den Blick und untersucht, wie unetrschiedlich sich die Demokratie und das Demokratieverständnis während der Teilung in Ost und West entwickelt haben, lesen wir. Dass Programm und Propaganda der AfD anfangs vor allem im Osten verfingen, erklärt Morina laut Rezensent beispielsweise auch als Folge des besonderen Demokratieverständnisses Ostdeutscher sowie der Tatsache, dass die vielfältigen "ost-demokratischen Ideen" nach der Wende keinen Eingang gefunden hätten in die gesamtdeutsche Verfassung. Die AfD, so ein Fazit, ist also kein ostdeutsches Problem, sondern ein gesamtdeutsches Produkt, fasst der Rezensent eine Erkenntnis aus Christina Morinas (er-)kenntnisreichem Buch zusammen.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 15.10.2023

Das perfekte Gegengift gegen die überhitzte Debattenkultur der Gegewart ist Christina Morinas Buch über das demokratische Selbstverständnis der Deutschen für Rezensent Paul Ingendaay. Das auf ausgiebiger Archivrecherche basierende Buch entwirft, führt Ingendaay aus, eine "Demokratiegeschichte von unten", die sich aus der Präsentation und Analyse diverser Materialien, vor allem aber von Eingaben von Bürgern an die Politik, zusammensetzt. So zeigt sich Morina etwa laut Ingendaay etwa die wachsende Frustration der DDR-Bürger mit der SED-Führung auf, widmet sich aber auch den oft enttäuschten Hoffnungen der Nachwendejahre. Sichtbar werden dabei, heißt es außerdem, die vergessenen Wünsche der Menschen, sowie die unterschiedlichen Vorstellungen von Staatsbürgerschaft in Ost und West. Anders als im Westen geht es im Osten oft, erläutert Ingendaay, um Grundsätzliches, staatliche Herrschaft werde als etwas Fremdes beschrieben. Auch zieht der Band Linien von Richard von Weizsäckers "Wir sind das Volk!" bis hin zu Pegida, ohne freilich endgültige Urteile zu fällen. Insgesamt ein erhellendes, vielschichtiges Zeitbild, so das Fazit.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.10.2023

Mit Erstaunen liest der Publizist Norbert F. Pötzl, selbst Autor einer Honecker-Biografie und anderer Bücher über die DDR, die Ergebnisse von Christina Morinas Archiverkundungen. Sie habe Bürgerbriefe an die Autoritäten vor der Wende und nach der Wende gesichtet, und das in Ost und West. Daraus kann sie stark abweichende Mentalitäten rekonstruieren, so der Rezensent. Der vielfach gerade im Westen nicht wahrgenommene besondere Aspekt an der DDR sei gewesen, dass es sich um eine "partizipatorische Diktatur" handelte. Ihr Slogan war: "Plane mit, arbeite mit, regiere mit!" Auf Betriebszellen und hyperlokaler Ebene war Mitwirkung erwünscht, die sicher auch freiwillige Unterwerfung und gegenseitige Kontrolle mit einbezog. Hinzugekommen sei der verordnete Antifaschismus. Aus diesen beiden Elementen, lernt der Rezensent, entwickelte sich ein ganz DDR-spezifisches Bild von direkter Demokratie, das Liebe zum Land gestattete und gleichzeitig Misstrauen gegenüber dem Staat produzierte. Eine für Plötzl längst fällige Differenzierung, die für das Verständnis heutiger Abgründe zwischen Ost und West äußerst nützlich sei.
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