Deniz Ohde

Streulicht

Roman
Cover: Streulicht
Suhrkamp Verlag, Berlin 2020
ISBN 9783518429631
Gebunden, 284 Seiten, 22,00 EUR

Klappentext

Industrieschnee markiert die Grenzen des Orts, eine feine Säure liegt in der Luft, und hinter der Werksbrücke rauschen die Fertigungshallen, wo der Vater tagein, tagaus Aluminiumbleche beizt. Hier ist die Ich-Erzählerin aufgewachsen, hierher kommt sie zurück, als ihre Kindheitsfreunde heiraten. Und während sie die alten Wege geht, erinnert sie sich: an den Vater und den erblindeten Großvater, die kaum sprachen, die keine Veränderungen wollten und nichts wegwerfen konnten, bis nicht nur der Hausrat, sondern auch die verdrängten Erinnerungen hervorquollen. An die Mutter, deren Freiheitsdrang in der Enge einer westdeutschen Arbeiterwohnung erstickte, bis sie in einem kurzen Aufbegehren die Koffer packte und die Tochter beim trinkenden Vater ließ. An den frühen Schulabbruch und die Anstrengung, im zweiten Anlauf Versäumtes nachzuholen, an die Scham und die Angst - zuerst davor, nicht zu bestehen, dann davor, als Aufsteigerin auf ihren Platz zurückverwiesen zu werden. Deniz Ohde erkundet in ihrem Debütroman die feinen Unterschiede in unserer Gesellschaft. Satz für Satz spürt sie den Sollbruchstellen im Leben der Erzählerin nach, den Zuschreibungen und Erwartungen an sie als Arbeiterkind, der Kluft zwischen Bildungsversprechen und erfahrener Ungleichheit, der verinnerlichten Abwertung und dem Versuch, sich davon zu befreien.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 26.11.2020

Rezensentin Sinem Kilic liest Deniz Ohdes Geschichte nicht als Betroffenheits- oder Bildungsroman, der die Herkunft der Protagonistin denunziert, auch wenn die Enge und Aussichtslosigkeit einer bildungsfernen, von Rassismen geprägten Kindheit und Jugend am Rand eines westdeutschen Industrieparks in den späten 90ern für Kilic in den Erinnerungen der Figur spürbar wird. Wie der Heldin schließlich über eine eigene Sprache der Ausbruch aus dem Milieu gelingt, zeigt die Autorin laut Kilic in überzeugenden "Nahaufnahmen". Für Kilic ein empfehlenswertes deutsches Gegenstück zu Eribon oder Ernaux.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 26.09.2020

Rezensentin Judith von Sternburg ist angetan von der "starken, unvertrauten" Stimme von Deniz Ohde, der "trotzigen Schiefheit" der Bilder im Buch und der spröden Ruppigkeit, mit der die Erzählerin, ein Mädchen aus dem Frankfurter Westen mit Migrationshintergrund, ihre Situation fasst, den latenten Rassismus, dem sie täglich begegnet, das kaputte Elternhaus und den Industriepark, der seine Emissionen auf die Bewohner niederregnen lässt. Wenn Sternburg der Text momentweise plaktiv erscheint, erinnert sie sich daran, dass die Verhältnisse selbst plakativ sind.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 19.09.2020

Richard Kämmerlings hat einen schweren Weg hinter sich bis zum letzten, hoffnungsvollen Satz des autobiografischen Romans von Deniz Ohde. Die Atmosphäre im Text ist trist und finster, schreibt Kämmerlings, und auch der Ton. Bitter und schmerzhaft ehrlich erscheinen ihm Ohdes Schilderungen einer Kindheit und Jugend in Frankfurt-Sindlingen, zwischen Diskriminierung von außen und dem "Sumpf" eines von verinnerlichter Scham geprägten Elternhauses. Schockierend für Kämmerlings der in "harten und klaren" Sätzen veranschaulichte Mangel an Empathie einer ganzen Gesellschaft. Sogar am späten Triumph des Abiturs haftet für Kämmerlings hier etwas Hässliches.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.09.2020

Fridtjof Küchemann liest gebannt die Geschichte einer Ausgrenzung, die Deniz Ohde in ihrem Debüt aufschreibt. Auch wenn das Imaginieren all der Nadelstiche verbaler, psychischer und physischer Gewalt im Text und ihrer Folgen Angst und Sprachlosigkeit dem Rezensenten merklich zusetzt, kann er nicht lassen von Ohdes Vordringen in die Erlebnis- und Gefühlswelt der Erzählerin. Für Küchemann ein grausames Spannungsfeld vor der Kulisse des Indiustrieparks Höchst in Frankfurt-Sindlingen, der "bestürzende" Bildungsroman einer jungen Frau mit türkischen Elternteil.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 07.09.2020

Rezensentin Maike Albath freut sich über ein Buch über die Klassengesellschaft, dass auf jeglichen triumphalen Gestus verzichtet. Deniz Ohdes in Rückblenden erzählte prekäre Familiengeschichte über häusliche Gewalt, Ausgrenzung, aufgeräumte Hobbykeller und einen starken Bildungsgedanken kommt laut Albath nicht als emanzipatorische Entwicklungsgeschichte daher, sondern erfasst in genauer, zupackender Sprache, ohne die Figuren zu denunzieren, zwischenmenschliche Beziehungen, Schauplätze und Mechanismen von Rassismus und Anpassung.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 24.08.2020

Hubert Winkels scheint begeistert von Deniz Ohdes Roman, der ihn in die Hölle des migrantischen Industrieproletariats führt, in eine "beschreibungsmanische Düsternis", die Winkels zwar nur schwer erträgt ob all der Gewalt und Sprachlosigkeit, die ihm die Ich-Erzählerin "hyperrealistisch", aber aus einer gewissen Distanz heraus schildert und die sogar "anrührende Momente" hat. Dass die im Buch zu begutachtende stilistische Distanzierung die einzige Erlösung ist vom "Joch der Herkunft" - Winkels ahnt es schon.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 19.08.2020

Ingo Eisenbeiß vergleicht den Debütroman von Deniz Ohde über eine unterprivilegierte Kindheit in Deutschland mit den Romanen von Edouard Louis. Was die Autorin anhand ihrer jungen Ich-Erzählerin über den "Identitäts-Abgrund" der Tochter eines deutschen Industriearbeiters und einer türkischen Einwanderin erzählt, wirkt auf Eisenbeiß berührend bis schmerzhaft. Das Ausgeschlossensein des "abgehängten Prekariats", symbolisiert immer wieder in Momenten der Sprachlosigkeit, zeigt die Autorin laut Eisenbeiß auf einfühlsame, überzeugende, nie kitschige Weise.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 15.08.2020

Rezensent Dirk Knipphals hält diesen Roman gerade für sehr wichtig, weil er schnörkellos, ohne literarische "Tricks" das Versprechen, Aufstieg sei durch Bildung möglich, hinterfragt. Er glaubt, dass viele Bildungswillige mit Migrations- und/oder Arbeiterhintergrund ähnlich frustrierende Erfahrungen gemacht haben wie die Protagonistin: Trotz gelungenem Aufstieg fühlt sie sich weiterhin fremd und unverstanden in einem Umfeld, in dem sie ihre Herkunft aus der Arbeiterklasse ebenso zur Außenseiterin macht wie ihr Aufstiegswille. Diese Perspektive gibt Anlass zu sehr genauen Figurenporträts, so der deutlich beeindruckte Knipphals, darunter der Mutter, die der Enge der türkischen Provinz entflohen war, nur um in der "Arbeiterklassenenge der alten Bundesrepublik zu landen" oder des Vaters, eines Alkoholikers und Messis, oder eines Lehrers, dem das "Aussieben" in der Schule selbstverständlich ist. Ein Thesenroman ist es nicht geworden, versichert Knipphals, sondern einer, der ganz genau hinschaut.