Imre Kertesz

Der Betrachter

Aufzeichnungen 1991 - 2001
Cover: Der Betrachter
Rowohlt Verlag, Reinbek bei Hamburg 2016
ISBN 9783498035617
Gebunden, 256 Seiten, 19,95 EUR

Klappentext

Aus dem Ungarischen von Heike Flemming und Lacy Kornitzer. Wohl bei keinem anderen Schriftsteller bilden Werk und Tagebuch ein so enges Geflecht wie bei Imre Kertész. "Der Betrachter" mit Notaten aus den Jahren 1991 bis 2001 schließt nun die Lücke zwischen beiden Tagebüchern "Galeerentagebuch" (1961-1991) und "Letzte Einkehr" (2001-2009). Es sind die Jahre nach der europäischen Wende, Aufbruchsjahre, in denen Kertész eine späte, unverhoffte Anerkennung seines Schaffens erfährt, zunächst in Ungarn, vor allem jedoch in Deutschland, Westeuropa und schließlich, im Nobelpreis gipfelnd, weltweit. Zugleich sind es die Jahre, da er sich mit dem in Ungarn neu aufkeimenden Nationalismus und Antisemitismus konfrontiert sieht. Reflexionen über den Epochenwechsel, das Judentum, die "Fatalität Ungarn" und die ihm mit wachsendem Ruhm zufallende, ungeliebte Rolle einer "öffentlichen Existenz" durchziehen die Aufzeichnungen wie Motivstränge. Sehr berührende Passagen sind dem Abschied von der langjährigen Lebensgefährtin Albina gewidmet, die 1995 an Krebs starb. Mit "Der Betrachter" rundet sich die Reihe von Kertész' Tagebuchveröffentlichungen zu einer fünfzig Lebensjahre umspannenden Trilogie - einer monumentalen Entwicklungsgeschichte seines Denkens und Schreibens.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 26.01.2017

Für den Rezensenten Hubert Spiegel sind die nachgelassenen Betrachtungen des Literaturnobelpreisträgers Imre Kertesz ein literarisches und intellektuelles Ereignis. Aber die Aufzeichnungen über Auschwitz, Schuld und Tod und dem Glück, ein Mensch zu sein, rührt auch sein Herz und es fordert ihn, wenn Kertesz antritt, Zeugnis abzulegen, die negative Ästhetik fortzuschreiben und eine Form zu finden für das Unfassliche. Selbst wer von Nazis und Kommunisten, vom GULag und von Auschwitz nie gehört hätte, meint Spiegel, könne mit diesem Buch das 20. Jahrhundert erkennen. Die Texte aus den Jahren 1991-2001 bergen laut Spiegel Privates und Weltpolitik, Analysen der poltischen und gesellschaftlichen Verhältnisse in Ungarn und folgen dem Zusammenbruch der Sowjetunion, wie ihn der Autor in seiner Heimat erlebt. Traumprotokolle und Begegnungen mit Freunden wechseln einander ab, erklärt Spiegel, scharfe Kritik (etwa an Kunderas Erfolgsroman "Die unerträgliche Leichtigkeit des Seins") und Betrachtungen zum Judentum und zum Antisemitismus. Auch wenn ihn die Radikalität des Urteils in diesem Buch oft erschreckt, die Hellsichtigkeit des Autors frappiert den Rezensenten noch mehr.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 31.12.2016

Für Andreas Breitenstein schließt der "Betrachter" von Imre Kertesz in "profunder" Übersetzung die Lücke der Tagebücher zwischen 1991 und 2001. Als düstere Litanei, Ausweis ewigen Zweifelns und eines Gefühls von Vergeblichkeit begreift er die Einträge des Autors, zugleich Wehmut, Nostalgie, Todessehnsucht, Verdruss über die allgegenwärtige Dummheit und die Katharsis davon. Als Leser muss Breitenstein aufpassen, dass er nicht ins Bodenlose hineingezogen wird, in die Depression, in die Anklage und Selbstanklage bei Kertesz münden, wie der Rezensent erklärt. Drastisch findet er, wie der Autor politische Systeme, Religion, Kultur und Literatur als marode verwirft und den Mangel an Tiefe beklagt. Das Tagebuch erscheint dem Rezensenten hier als Bastion der Einsamkeit, als Existenzform, die die Lebenswunde der Shoah offenhält, aber auch als Summe eines Denkens und höchste Messlatte negativer Ästhetik.

Rezensionsnotiz zu Die Welt, 24.09.2016

Als "Bekenntnisroman" bezeichnet Claus-Ulrich Bielefeld tief beeindruckt die Tagebücher von Imre Kertész aus den Neunzigerjahren, jener Phase, in der der Autor internationale Bekanntheit erfuhr und aus der Isolation gerissen wurde, in der er sich während des ungarischen Kommunismus zurückgezogen hatte, "aufgestört aus dem Gleichmaß seines unglücklichen Lebens", wie sich Bielefeld ausdrückt. Die Zweischneidigkeit dieses Prozesses ergründet Kertész ebenso wie den Tod seiner ersten Frau Albina in strenger Selbstbefragung und schmerzhafter Selbstkritik, staunt der Rezensent, der die Lektüre des Bandes als ein "ein großes emotionales und intellektuelles Abenteuer" empfiehlt.