Jorge Semprun

Zwanzig Jahre und ein Tag

Roman
Cover: Zwanzig Jahre und ein Tag
Suhrkamp Verlag, Frankfurt am Main 2005
ISBN 9783518416808
Gebunden, 292 Seiten, 19,80 EUR

Klappentext

Aus dem Spanischen von Elke Wehr. Eine unterschwellige Atmosphäre von Gewalt, Auflehnung, ungehöriger Sinnlichkeit empfängt den amerikanischen Historiker Michael Leidson, als er im Juli 1956 zum Landgut der herrschaftlichen Familie Avendano in der Provinz Toledo kommt. Dort soll die jährliche Bußzeremonie stattfinden, mit der die Erschießung des jüngsten Bruders durch aufgebrachte Landarbeiter beim Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs "gesühnt" wird - ein merkwürdig atavistisches Ritual, dessen Bedeutung Leidson erhellen möchte. Der Politische Kommissar Roberto Sabuesa dagegen hofft dort den heimlichen Kopf der Studentenunruhen zu ermitteln, die Franco-Spanien im Frühjahr aufgestört haben. Sie werden Zeugen, wie an diesem Tag der gewaltsamen Beschwichtigung die kaum verhohlenen politischen wie erotischen Spannungen in der Familie Avendano aufbrechen. Nach und nach deckt der Erzähler, der selbst stärker involviert ist, als der Leser anfangs ahnt, die Fäden der Handlung auf und verfolgt sie bis in eine jüngste Gegenwart.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.07.2005

Die Rezensentin Katharina Granzin will es gewiss nicht an Respekt fehlen lassen gegenüber dem großen, inzwischen 80-jährigen Jorge Semprun. Sein neuestes Werk jedoch - noch dazu das erste, das der im französischen Exil Lebende in seiner Muttersprache Spanisch verfasst hat - hält sie für reichlich missglückt. Und zwar um so mehr, als es der ganzen Anlage nach für Granzin zunächst sehr vielversprechend aussah: Der Titel benennt nicht nur die gängige Strafe für Kommunisten im franquistischen Spanien, sondern auch die Zeitspanne, die die Erzählung umfasst. Im Kern der Geschichte steht eine Untat der Faschisten, die in einem "seltsamen Mysterienspiel" Jahr für Jahr wiederholt wird. Diesen Kern aber verschüttet Semprun, so Granzin, mit literarischen Verfremdungs- und Brechungsverfahren, deren Sinn ihr nicht einleuchten will. Semprun springe zwischen den Zeitebenen, verrätsele Strukturen und Zusammenhänge, unterbreche den Fluss mit selbstreferenziellen Bezügen. Das führt, bedauert die Rezensentin, rasch dazu, dass die "Dramatik verrieselt" und die Lektüre zu einer Anstrengung wird, die sich nicht lohne.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 29.06.2005

Semprun habe ausnahmsweise in Spanisch geschrieben, nicht in Französisch wie sonst, und dieses "Wagnis", mutmaßt Rezensent Anton Thuswaldner, leite sich möglicherweise her von der "denkerische Kühnheit" des Romans. Hier würden kaum Geschichten erzählt, als vielmehr auf fast allen 300 Seiten darüber reflektiert, wie Geschichten und Geschichte erzählt werden, oder überhaupt erzählbar sind. Da Semprun bekanntlich nicht gerne Geschichten erfinde, nähme er sie aus seinem romanhaften Leben oder aus der Geschichte. Aber immer würde sich die "Form" des Erzählens den "Stoff" zurechtbiegen, und persönliche Erfahrungen des Erzählers ein "Deutungsprogramm" aktivieren. Der Erzähler sei ein erkennbares Alter Ego von Semprun, meint der Rezensent, und so manche Stellen würden sich wie Selbstbekenntnisse des Autors lesen. Der Roman beginne im Sinne des Themas mit einem Historiker, der 1956 in Spanien an einer Gedenkfeier teilnimmt, die an die Ermordung dreier Gutsbesitzern erinnert. Über das Erzählen dieses jährlichen Rituals gerät der Historiker in eine wahrheitstheoretische Krise, deren Faden dann der Erzähler aufnehme. Das Motiv des Blutes sei die sichtbare geheime Verbindung, dank der Semprun auch bei anderen Geschichten im Roman "durch Zeiten und Räume" springe. So sei ein "ungeheuer reiches Buch über Gewalt in der Geschichte" entstanden und eines über die unmerklichen Gewaltanwendungen des Geschichte Erzählens.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 31.03.2005

Kersten Knipp ist vom neuen Roman des spanischen Autors Jorge Semprun sehr angetan und zeigt sich von dessen Vielschichtigkeit beeindruckt. Im Mittelpunkt des Buches steht der Mord an Gutsbesitzersohn Jose Maria, der von aufgebrachten Landarbeitern bei Ausbruch des Spanischen Bürgerkriegs erschossen wird, die eigentliche Handlung des Romans aber spielt in den 50er Jahren des Franco-Regimes, erklärt der Rezensent. In chronologischen Sprüngen wird über die Erinnerung an den Toten und die Kriegsjahre erzählt, wobei der Roman durch die Verschränkung von Vergangenheit und Gegenwart eine "Tiefendimension" erhält, die die eigentliche "Bedeutung" des Buches freilegt, so Knipp eingenommen. Das "Bewusstsein der Vergänglichkeit" liegt als Folie unter dem ganzen Geschehen und so wird neben dem "harten politischen Kern" eine "bezaubernd melancholische Atmosphäre" erzeugt, lobt der Rezensent. Indem der Autor zudem einen Erzähler in den 80er Jahren einen Roman schreiben lässt, der die historischen und persönlichen Ereignisse rekapituliert, entsteht ein "metafiktionales Spiel", das nicht eitel "erzählerische Artistik" demonstriert, sondern zeigt, wie ein Leben "am harten 20. Jahrhundert" nicht verzweifelt und trotz allem eine "gehörige Dosis" Lebensfreude entwickelt.

Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 17.03.2005

"Ein großer Roman über ein fast vergangenes Jahrhundert", befindet Martin Lüdke. Jorge Semprun erzählt zwar vor dem Hintergrund des eigenen Lebens, doch er selbst, der als Führer der Kommunistischen Partei in Spanien unter dem Decknamen Federico Sanchez lebte, bleibt zunächst im Hintergrund. Zentrum der Erzählung ist die Familie Avenando, die den zwanzigsten Todestag eines ihrer Familienmitglieder begeht. Aber "wie immer bei Semprun" löst sich der exakte Zeitpunkt in "verschiedene chronologische Schichten" auf. Nur diesmal schöpft Semprun nicht nur aus der Erinnerung, sondern benutzt auch andere Quellen. Dadurch wird die scheinbare Kausalität der Zeit aufgebrochen, beobachtet der Rezensent, "verschiedene Stränge werden sichtbar, aber die Kontingenz der Geschichte bleibt". Zudem bewundert er den "paradoxen Kunstgriff" Sempruns, die Erzählung in einem Augenblick beginnen zu lassen, in dem die Handlung aus der Perspektive der Rückschau bereits beendet ist. "Wir wissen alles." Skeptiker beruhigt Lüdke, dass Semprun hier beileibe kein "präpostmodernes Spiel" treibe, sondern mit aller Ernsthaftigkeit die historischen Schichten des Romans miteinander zu verknüpfen sucht. Erfolgreich, meint Lüdke.