Michail Ryklin

Leben, ins Feuer geworfen

Die Generation des Großen Oktobers
Cover: Leben, ins Feuer geworfen
Suhrkamp Verlag, Berlin 2019
ISBN 9783518427736
Gebunden, 336 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

"Himmelsstürmer" hießen die jungen Leute, die 1917 für die Oktoberrevolution brannten und sich dem radikalen Umbau der Gesellschaft verschrieben. Viele endeten tragisch: im Lager an der Kolyma oder in den Kellern der Lubjanka, des berüchtigten Moskauer Geheimdienstgefängnisses. Es waren die Schüler und Gefährten Lenins, die den Gewaltexzessen seines Nachfolgers Stalin zum Opfer fielen. Für Michail Ryklin ist dieses Drama persönliche Geschichte. Die Söhne des Urgroßvaters, eines Geistlichen in Smolensk, gehörten zur bolschewistischen Elite. Nikolaj Tschaplin stieg in der Jugendorganisation Komsomol bis zur Führungsebene auf, Sergej, ein paar Jahre jünger, arbeitete schon mit fünfzehn als Kurier und war später für den Auslandsgeheimdienst in Finnland und Estland tätig. Der eine wirkte von innen für die Revolution, der andere wollte sie in die Welt tragen - bis beide in die Mühlen des Terrors gerieten. Gestützt auf Archivmaterial und Erinnerungen von Zeitzeugen rekonstruiert Ryklin das Leben und den gewaltsamen Tod seiner Verwandten, die Teil des sowjetischen Herrschaftssystems waren.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 02.07.2019

Das Gulag-System hat in Russland nie eine Aufarbeitung erfahren, die der hiesigen Auseinandersetzung mit dem Holocaust entspricht. Und das rächt sich, schreibt Andreas Breitenstein mit Blick auf Michail Ryklins Buch. Der Utopismus, der dem kommunistischen Aufbruch trotz allem anhaftete, sei unter Putin "dem Machiavellismus des reinen Machterhalts gewichen". Breitenstein nimmt Ryklins Buch zum Anlass für einen breiteren Essay über die mangelnde russische Vergangenheitsbewältigung, gegen die Ryklin aus radikal persönlicher Sicht für Breitenstein einen wichtigen Akzent setzt. Die Aufarbeitung ist komplizierter, so Breitenstein, weil nicht, wie im Holocaust, ein stigmatisierter Bevölkerungsteil zum Opfer wurde. Eigentlich waren alle ins Gulag-System verwickelt, auch als Täter, auch jene, die ihm letztlich zum Opfer fielen. Besonders wichtig ist Breitenstein darum an Ryklins Buch, dass er diesen moralischen Zwiespalt benennt: "Warum für Menschen Empathie empfinden, die anderen Menschen brutal ihre Empathie versagten?" Aber die Antwort gibt Ryklin laut Breitenstein auch: Weil das Verbrechen sonst untergründig weiterlebt und weiterwirkt.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.06.2019

Mit großem Interesse hat Rezensentin Kerstin Holm diesen essayistischen Text des russischen Philosophen Michail Ryklin gelesen, der das Panorama der Stalinzeit mittels zweier Zeitzeugen heranzoomt. Die Kritikerin folgt dem Großvater und Großonkel des Autors, Nikolai und Sergej Tschaplin, zwei "bolschewistischen Fanatikern", die bald von den Tschekisten verhaftet und durch Folter zu falschen Geständnissen gezwungen wurden. Mitunter muss die Rezensentin während der Lektüre an Andrej Platonows "Tschewengur" denken, vor allem aber bewundert sie, wie Ryklin Zeitzeugnisse einflicht und Zeitzeugen wie den Erzähler Warlam Schalamow oder den Schauspieler Georgi Shshonow, einen Mithäftling Sergejs, der den Stalinismus im Alter als "kommunistischen Faschismus" beschrieb, zu Wort kommen lässt. Wenn Ryklin seine Erzählung schließlich auf das Regime Wladimir Putins zulaufen lässt, den er den "zynischen Vollender des sowjetischen Unrechtssystems" nennt, erkennt Holm nicht zuletzt die Aktualität dieses Buches.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk Kultur, 23.05.2019

"Lesenswert" findet Rezensentin Sabine Adler dieses Buch des russischen Philosophen Michail Ryklin, der am Beispiel seines Großvaters und dessen Bruders von der russischen Revolution und ihren Auswirkungen bis heute erzählt. Die beiden Brüder waren jung, als Lenin zur Revolution aufrief, und begeisterte Kommunisten, erzählt Adler. Und sie rückten schnell auf: Der eine gehörte dem Auslandsgeheimdienst an, der andere gründete die Jugendorganisation Komsomol. Beide achteten strikt auf Parteilinie und ließen sich auch von den Mordtaten ihrer Genossen nicht beirren, so Adler weiter. Zum Verhängnis wurde ihnen ihre Treue zu Lenin, die Stalin nicht duldete. Beide wurden erschossen. So weit, so eindrucksvoll. Was Adler aber vor allem beeindruckt, ist, wie stark die Verehrung für die Henker der Kommunistischen Partei immer noch ist: Auch das hat ihr Ryklin vor Augen geführt.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 16.05.2019

In Veröffentlichungen zur frühen Sowjetunion geht es zunehmend um eine "Märtyrologie" und den "religiösen Glutkern" als Treibkraft des Handelns früher russischer Kommunisten, schreibt Rezensent Stephan Wackwitz. So sei es auch in diesem Buch von Ryklin über seinen Großvater und zweier seiner Brüder. Das Leben der drei ist auf unterschiedliche aber typische Weise zerstört worden. Als Täter, Verräter und Opfer sind sie in der historischen Maschinerie zermahlen worden, die durch eine unheilige Allianz von Geheimdienst und messianischem Erlösungsglauben angetrieben wurde. "Das russische Volk" so zitiert Wackwitz den Autor, sei "deshalb revolutionär, weil es christlich ist". Und so wusste Stalin, ursprünglich zum Priester ausgebildet, genau, auf welche Knöpfe er drücken musste, um die Beichte in Form der Selbstbezichtigung auszulösen. Denn typischerweise lag nicht im straflosen Abknallen der Triumph dieses Regimes, erklärt Wackwitz, sondern im Geständnis der für schuldig Befundenen. Da aber der der nie aufgelöste Geheimdienst sich inzwischen mit der "orthodoxen Religionshierarchie" zusammengeschlossen hat, darauf verweise Ryklin, ist in Russland die Gefahr solcher "Höllenfahrten", wie sie Ryklins Verwandte durchleben mussten, nicht vorüber, warnt der alarmierte Rezensent.
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Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 14.05.2019

Sabine Adler schätzt den russischen Philosophen Michail Ryklin sehr, auch wenn er ihr die Lektüre nicht immer leicht macht. In seinem neuen Buch über die Himmelstürmer der Oktoberrevolution erzählt Ryklin auch die tragische Geschichte seines Großvaters, der als glühender Bolschewist gegen Popen und für die Frauen kämpfte, die Landbevölkerung alphabetisierte und die kommunistische Jugendorganisation Komsomol gründete. Wie die Rezensentin berichtet, betrieb er als Parteikader aber auch die geistige Gleichschaltung des Landes und ebnete damit jener Sowjetdiktatur des Weg, deren Opfer er später selbst wurde: Als Lenin-Bewunderer ließ ihn Stalin 1938 in der Lubjanka erschießen, wie auch seinen Bruder, den Chef des Auslandsgeheimdienstes. Ryklin macht es sich nicht leicht mit der Geschichte seiner Familie, betont die beeindruckte Adler, er beschreibt ihre Tragik, entlässt sie aber nicht aus der Verantwortung.