Perry Anderson

Das italienische Desaster

Cover: Das italienische Desaster
Suhrkamp Verlag, Berlin 2015
ISBN 9783518074404
Kartoniert, 80 Seiten, 7,99 EUR

Klappentext

Aus dem Englischen von Joachim Kalka. Auch im sechsten Jahr der großen Krise ist Italien noch nicht wieder auf die Beine gekommen. Die Kennzahlen sind alarmierend: 44 Prozent der Italiener unter 25 Jahren haben keine Arbeit; nach 2012 und 2013 schrumpft die italienische Wirtschaft 2014 erneut. Die ökonomische fällt mit einer fundamentalen Krise der staatlichen Institutionen zusammen. Das Vertrauen in Politik und Parteien ist auf einem historischen Tiefstand, die Protestbewegung des Kabarettisten Beppe Grillo wurde bei den Parlamentswahlen zur zweitstärksten Partei; Matteo Renzi, von den Medien als Hoffnungsträger gefeiert, kungelt mit seinem skandalumwitterten Vorgänger Berlusconi und feiert den ehemaligen englischen Premierminister Tony Blair als Vorbild, obwohl dieser in seiner Heimat längst zur persona non grata geworden ist. In seinem Essay präsentiert der Historiker Perry Anderson eine Chronologie des italienischen Desasters. Italien betrachtet er dabei nicht als 'Anomalie innerhalb Europas, sondern als eine Art Konzentrat' der Probleme eines Kontinents, der zunehmend von Entdemokratisierung, Korruption und Wachstumsschwäche gekennzeichnet ist.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 12.12.2015

Die Griechenlandkrise hat die sensiblen Interdependenzen innerhalb der EU ins Bewusstsein gerückt und vors Auge geführt, wie dringlich es in diesem Netzwerk heute ist, über seine Nachbarstaaten im Bilde zu sein, meint Rezensent Detlev Claussen. Die an verschiedenen Orten publizierten Analysen des britischen Historikers Perry Anderson stellen hierfür eine hervorragende Anlaufstelle dar, so der Kritiker weiter. Lesenswert sei nun auch diese Auseinandersetzung mit Italien geraten, die Claussen zufolge zwar detailliert, aber dennoch im Rahmen einer "short story" über die letzten rund 25 Jahre aufklärt. Am Fall Italiens und besonders am Aufstieg Berlusconis und dessen zweifelhafte Machenschaften zeige sich, wie die vorangetriebene "Entstaatlichung" einer Verfilzung von politischer und kommerzieller Sphäre zuarbeite. Damit stehe Italien exemplarisch für die "europäische chronique scandaleuse". Zudem werde bei der Lektüre begreifbar, auf welch schwankendem Grund Italien als eine zentrale Nation der EU stehe. Andersons Kritik am Neoliberalismus, der die Verhältnisse destabilisiere und dem Populismus Vorschub leiste, kann sich der Kritiker voll und ganz anschließen.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 02.12.2015

Perry Andersons Analyse der Lage in Italien versetzt den Rezensenten Gustav Seibt in Begeisterungsstürme: Eine solch gnadenlose und dabei kristallklare Diagnose hat Seibt lange nicht gelesen, ungefähr seit dem von Karl Marx beschriebenen "18. Brumaire des Louis Bonaparte". Von "geradezu furchterregender Brillanz" findet Seibt diesen Essay, der vor einem Jahr in der London Review of Books erschienen, und in dem der Altmarxist Anderson nicht nur die Verflechtung von Kapital und Politik in Italien offenlegt, sondern auch die korrupte Selbstversorgung und die gerontokratische Besitzstandswahrung. Zur politischen Soziologe kommen laut Seibt aber noch die von teils "liebevoller Verachtung" getragenen Charakterzeichnungen der beteiligten Politiker: Wie Anderson den Ministerpräsidenten Matteo Renzi als skrupellosen Narzissten und den Uraltpräsidenten Giorgio Napolitano als biederen Opportunisten entlarvt, ringt Seibt grenzenlose Bewunderung ab. Dass Anderson bei aller Kapitalismuskritik auch nicht weiß, wie dem Globalisierungsdruck zu begegnen ist, findet er eher nebensächlich. Schließlich sei Anderson Beobachter, kein Politiker.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.11.2015

Zugegeben, Perry Andersons Welterklärung ist schlicht, konzediert ein hin- und weggerrissener Jürgen Kaube zu Beginn seiner Kritik: Schuld an allem sind "Das Kapital und sein Ismus". Aber diese Gewissheit erlaubt Anderson eine geradezu enzyklopädische Zuständigkeit. Anderson weiß über alles Bescheid, die Türkei, Indien, Amerika (so die Themen einiger jüngerer Anderson-Bücher, die Kaube en passant erwähnt) und jetzt also auch Italien. Und Kaube resümiert munter, was Anderson dem Land alles ankreidet: Korruption, Gerontokratie, Unreformierbarkeit. Auch wenn Kaube ein paar Einschränkungen macht, teilt er Andersons Diagnose, dass Italien keineswegs eine Sonderfall, sondern ein Beispiel fürs Kommende sei. Denn ganz Europa sei in der Weise erkrankt, die Italien nur besonders tragikomisch vorführe.
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