Reinhard Jirgl

Die Stille

Roman
Cover: Die Stille
Carl Hanser Verlag, München 2009
ISBN 9783446232662
Gebunden, 533 Seiten, 24,90 EUR

Klappentext

Einhundert Jahre aus der Geschichte zweier Familien und aus der Geschichte eines Landes: Reinhard Jirgls "Die Stille" ist das Epos vom langen 20. Jahrhundert in Deutschland. Am Anfang steht ein Fotoalbum, die ältesten Bilder sind über achtzig Jahre alt: einhundert Fotografien zweier Familien, die eine aus Ostpreußen stammend, die andere aus der Niederlausitz. Zwei Weltkriege, Inflation, Flucht und Vertreibung haben diese beiden Familien über fünf politische Systeme hinweg, von der Kaiserzeit bis heute, überlebt. Den einhundert Fotografien folgend, erzählt Jirgl Geschichten von Verletzungen, Liebe und Verrat.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.04.2009

Roman Bucheli kann seine rhetorische Frage, ob es sich denn lohnt, wieder und wieder von den Schrecken des 20. Jahrhunderts mit seinen Kriegen, Ermordeten und Vertreibungen zu erzählen, mit Blick auf Reinhard Jirgls jüngsten Roman nur mit einem überzeugten Ja beantworten. Der Autor entfaltet darin die verschlungenen Geschichten von Georg Adam und seinem Sohn Henry, der das Ergebnis eines Inzests ist, lässt uns der Rezensent wissen. In den Geschichten um Schuld und Verstrickung spiegele sich die unselige Geschichte des 20. Jahrhunderts, und es werde deutlich, dass es keine Flucht aus der Geschichte gebe, erklärt Bucheli. Sowohl sprachlich wie auch formal macht es Jirgls Buch seinen Lesern nicht leicht, aber am Ende ergebe es eine Art "Ursuppe", in der die historischen Begebenheiten untrennbar miteinander verbunden seien, so der Rezensent fasziniert. Er attestiert der Sprache wie der Erzählweise des Autors große Eindringlichkeit und preist den Roman als beeindruckendes "Sprachkunstwerk", das zugleich Erkenntnisgewinn verspricht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.04.2009

Sichtlich beeindruckt ist Lothar Müller von Reinhard Jirgls Familienroman "Die Stille". Auch wenn das Werk über zwei Familien im 20. Jahrhundert ähnlich wie Günter Grass' Erinnerungsbuch "Die Box" an einem Fotoalbum entlanggeschrieben ist, hat es für Müller nichts von dessen Behaglichkeit. Ja, generell scheint ihm Jirgls Buch alles andere als betulich - im Unterschied zu vielen Familienromanen der Gegenwart. Vielmehr würdigt er das Werk als "sperriges Roman-Ungetüm", in dem zwei Familien in den "Mahlstrom der Geschichte" gerissen werden, in Inflations-, Krisen- und Kriegsjahre. Müller sieht den Autor in der Tradition von Alfred Döblin und der expressionistischen Literatur. Die orthographischen Eigenwilligkeiten und Wortzerlegungen des Autors sind für ihn zwar bisweilen "unergiebige Pointen und Verrätselungen". Aber sie ändern seines Erachtens nichts daran, dass der Autor hier einen "großen Sprachstrom" erschaffen hat.
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Rezensionsnotiz zu Die Zeit, 26.03.2009

Einen verwirrenden, aber großen Roman zeigt Rezensentin Martina Meister mit Reinhard Jirgls neuem Buch an, in dessen Sog sie voller Faszination geraten ist, auch wenn sie sich mitunter im "Labyrinth" der verhandelten Genealogie verirrte. Jirgl, den sie den "vielleicht wichtigsten Autor der Gegenwartsliteratur" nennt, übersetze das Fotoalbum einer Niederlausitzer Familie hier in die Geschichte einer Nation. Denn die höchst komplex miteinander verwobenen Biografien der darauf abgebildeten Menschen erzählten von zwei Weltkriegen, von Inflation, Flucht, der Shoah und dem Kommunismus. Sie handelten von Liebe und Inzest, von Vätern, die keine sein könnten, weil sie selbst vaterlos aufwuchsen. Und von der DDR, die die Menschen in jeder Beziehung enteignet habe und nicht nur den Besitz, sondern auch deren Leben verstaatlicht habe. Beeindruckt stellt sich die Rezensentin auch dem Anliegen dieses Autors: nämlich das undankbare Erbe der beschriebenen, grauen, staubigen und manchmal blutverschmierten Gestalten anzutreten.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 17.03.2009

Durchaus beeindruckt ist Katrin Hillgruber von Reinhard Jirgls mächtigem Familienroman "Die Stille", auch wenn ihr das Werk nicht immer leicht verdaulich scheint. Sie attestiert dem Autor, die "unzähligen Lebens- und Erzählfäden" zu einem "artifiziellen wie erdrückenden Teppich" zu verweben. Neben Schilderung von Interieurs und Landschaften findet sie viele Ahnungen und Vorausdeutungen auf die Jahrhundertkatastrophe des Nationalsozialismus und seiner Folgen. Dabei hält sie das Buch für einen "sehr patriotischen Roman", in dem eine "muffige Vakuumatmosphäre" vorherrsche. Nicht wirklich erwärmen kann sie sich für Jirgls eigenwillige Orthographie in der Tradition von Arno Schmidt wie etwa "Inn-!West-Tor", "Mutter Kuh-Rage". Auf sie wirkt diese Manie eher peinlich als instruktiv. Auch wirft sie dem Werk eine gewisse Pathetik vor. Andererseits würdigt sie die "höchst authentische Erzählweise" und die "einzigartige thematische Fülle" des Romans.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 12.03.2009

"Buddenbrooks, postkoital", schreibt der Rezensent. Deutlich angesteckt von dieser "Zumutung" von einem Roman, den Reinhard Jirgl vorlegt, aber glücklich. Für Oliver Jungen fallen die Qual der für diese Lektüre nötigen Konzentration, Jirgls "phonetischer Terrorismus" hinter die Begeisterung für ein Buch zurück, das seine Leser fordert und sie dafür mit einer Fülle von Ideen, mit erzählerischer Spannkraft und gleich mit einem ganzen Arsenal verschiedener Romansubgenres belohnt. Jungen folgt den hundert von Jirgl beschriebenen Familienporträts und den daraus sich entwickelnden ineinander verzahnten und multiperspektivisch sich entfaltenden Erzählungen. Nach und nach erschließt sich ihm über die zunächst schwindelerregend erscheinende Ausdrucksbreite des Autors ein "Subtext über das Verräterische" und ein Familienschicksal mit exemplarischer Bedeutung. Ein "Gesellschafts-, Jahrhundert- und Jetztroman", jubelt Jungen, pornografisch, philosophisch, realistisch und fantastisch, in jedem Fall feinste Avantgarde.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 12.03.2009

Gleichermaßen faszinierend wie zerstörend war die Wirkung von Reinhard Jirgls Roman auf Jan Süselbeck. Hinter dem programmatischen Titel verbirgt sich bei Jirgl der Tod, und auch seinem sehr deutschen Lebensthema, der Schilderung von Vertreibung, deutschem Opfertum und verlorener Heimat in Form eines Familienromans bleibt er sich treu, so der Rezensent, der betont, dass man Jirgl deshalb nicht vorwerfen könne, fürs Vaterland zu schreiben, denn für das Verfassen politischer, kompromissloser und daher negativer Romane gelte mit Jirgls Vorbild Arno Schmidt: "Kein Vaterland! / Keine Freunde! / Keine Religion!" In hundert kurzen Kapiteln, denen jeweils hundert nicht abgebildete, aber beschriebene Fotos von zum Teil für immer verschwundenen Personen vorangestellt sind, orchestriert der Autor sein Material, schafft "ein weites Netz aus Erinnerungen und Fiktionen" und steht mit seinen nicht unironischen "farbenprächtigen Visionen eines Weltuntergangs" ganz in der Tradition der deutschen Expressionisten, so Süselbeck.