Thomas Raab

Verhalten

Roman
Cover: Verhalten
Tropen Verlag, Köln 2002
ISBN 9783932170546
Gebunden, 184 Seiten, 17,80 EUR

Klappentext

Ausgehend von einem historischen Fall, in dem die Ehefrau eines anerkannten Psychiaters ihre beiden Kinder aus dem Fenster warf und sich anschließend selbst hinterherstürzte, entwickelt Thomas Raab seinen Entwurf über eine gesellschaftliche Außenseiterin, die als psychiatrische Patientin die Welt als Kafkas Schloß erfährt und im gemeinsamen Freitod mit ihren Kindern den einzigen Ausweg sieht.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 18.02.2003

Ausgangspunkt dieser "literarischen Versuchsanordnung mit verblüffenden formalen Ergebnissen", erklärt Jutta Person, sei ein authentischer Vorfall in Wien: die getrennt lebende Ehefrau eines Psychiaters warf ihre beiden Kinder aus dem vierten Stock. Der 1968 geborene Autor, im Hauptberuf Kognitionsforscher, verwandelt nun seine Protagonisten, das Ehepaar A. und O., in Prototypen, so Person, die in bühnenreifen Dialogen die Rituale einer gescheiterten Ehe exerzierten. Wie ein Legokasten voller Zitatbausteine kommt Person dieser erste Teil des Romans vor, der im zweiten brachial die Tonlage wechselt und scheinbar auf die Innenperspektive der Frau umschwenkt und ein beinahe lyrisches Ich freisetze. Allerdings ist dieser zweite Teil mit einer Herausgeberfiktion versehen, berichtet Person, die den Psychiater zum Autor dieser intimen Zeilen erklärt. Geschickt laviere der Autor damit an der Grenze zwischen Wahnsinn, Psychiatrie und Literatur; wer gerade spricht, wer aufrichtig spricht, darauf gebe es keine Antwort und könne es in der Logik dieser Versuchsanordnung auch keine geben, bescheidet die Rezensentin.
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Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 21.11.2002

Rezensent Bruno Steiger bezeichnet Thomas Raabs Romandebüt vorsichtig als "wohl postexperimentell" und "nicht uninteressant". Die Unsicherheit, das Buch zu bewerten, charakterisiert die gesamte Rezension. Es schließe, so stellt Steiger fest, an österreichische Versuche eines "wissenschaftlichen Erzählens" an. Das Buch erinnere an Gerhard Roths Schizophrenie-Studie "Der Wille zur Krankheit" oder Helmut Eisendlers "Walder oder die stilisierte Entwicklung einer Neurose" und halte sich explizit an Oswald Wiener und dessen "Konzept einer nichtpsychologisierenden, auf 'harte' ? verhaltenspsychologische Empirie setzenden Literatur", weiß Steiger. Der Rezensent konnte jedoch nicht herausfinden, ob Raabs Roman "als Satire und damit als Kritik am genannten Konzept" zu lesen sei. Steiger sieht das Buch in zwei "Hauptstücke" unterteilt, und auch wenn er die Schwächen gerade des zweiten Teils darlegt, gibt er Beispiele von dort zu lesenden "aufregenden Sätzen" und ist gespannt auf die weitere Entwicklung dieses Autors.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 09.10.2002

Oliver Koerner von Gustorf hat gemischte Gefühle bei diesen Versuch des Wiener Autors Thomas Raab, eine 1995 in der Boulevardpresse dokumentierte Tat mit Leben und Hintergrund zu füllen. Die Tat bestand darin, dass eine Mutter erst ihre Kinder, dann sich selbst aus dem Fenster stürzt, und zunächst überlebt, sich später aber endgültig umbringt. Raabs Bearbeitung der Thematik ist "keine faktenbezogene Recherche einer Familientragödie geworden", sondern eine Versuch, "wissenschaftliche und lyrische Sprache" zusammenzuführen. Zudem versucht er , "den Verlust autonomer Wahrnehmung" zu beschreiben, und zwar als "Phänomen, das nicht nur den persönlichen, sondern auch den gesellschaftlichen Körper betrifft". Dabei bewegt sich Raab nach Koerner von Gustorfs Meinung in der Tradition anderer österreichischer Autoren wie "Bachmann, Jelinek, Jandl und Handke", der er noch einige Versatzstücke zeitgenössischer Popkultur beimischt. Allerdings mag Koerner von Gustorf darin nicht mehr sehen als eine durchaus "ambitionierte Stilübung eines Allroundtalents", das sich etablieren will. Dem Rezensenten fehlt bei Raabs Projekt ganz eindeutig das Herzblut: Das Experiment des Autors ist letzten Endes eher absehbar und damit nicht wirklich spannend, so das Fazit des Rezensenten.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 18.09.2002

Zwei geographische Koordinaten nennt Richard Kämmerlings, die im Leben des - man höre und staune - Kognitionsforschers, Übersetzers und angehenden Schriftstellers Raab eine Rolle spielen und zugleich für seine neue literarische Beschäftigung einstehen: Graz als Wiege des Autors wie der experimentellen österreichischen Literatur; Wien als Wohnort des Autors sowie als Geburtsstätte der modernen Psychologie. Eine kleine Zeitungsmeldung gab Anlass für diesen Roman, der Psychiatrie und Wahnwelten, klinische Beobachtung und höchst subjektive, verzerrte Innenperspektiven miteinander verbindet. Der Fall: Nach der Trennung von ihrem Mann bringt eine Frau zunächst ihre Kinder und dann sich selber um. Der erste, nüchterne Berichtsteil liest sich Kämmerlings zufolge fast wie eine Parodie auf die Verhaltensforschung; der zweite sehr poetisierende, sprachverspielte Teil berichtet aus der Sicht der Selbst-Mörderin. Im Verlauf des zweiten Teils beschlich Kämmerlings leichtes Unbehagen: die Reflektionsschrauben, wie er es nennt, würden immer kräftiger angezogen, moniert er, bis das Gewinde, die Gesamtkonstruktion dann irgendwann breche. Dass die Aufzeichnungen der Wahnsinnigen dem Ex-Mann mit einer obskuren Herausgeberfiktion untergeschoben werden, mag Kämmerlings nicht mehr nachvollziehen. Dennoch, so meint er, insgesamt ein Stück experimentelle Literatur mit gutem Laborergebnis.
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