Walter Sperling

Vor den Ruinen von Grosny

Leben und Überleben im multiethnischen Kaukasus
Cover: Vor den Ruinen von Grosny
Matthes und Seitz Berlin, Berlin 2023
ISBN 9783957572356
Gebunden, 675 Seiten, 38,00 EUR

Klappentext

"Was war der Vielvölkerstaat Sowjetunion, der immerhin sieben Jahrzehnte lang das Leben von über zweihundert Millionen Menschen bestimmte? Wie funktionierte das Miteinander der multiethnischen Gemeinschaften, die in einer Vielzahl von sowjetischen Städten über Jahrzehnte bestanden? Anders gefragt, wie gelang es den Menschen, nach den Exzessen der Gewalt - Revolution, Bürgerkrieg, Terror, Zweiter Weltkrieg - einander wieder in die Augen zu schauen und neues Vertrauen zu fassen? Oder waren die gemeinsam verlebten Jahrzehnte nach Stalins Tod nichts weiter als ein Ausharren, ein Warten auf das 'Ende der Geschichte'?" Die Suche nach Antworten auf diese Fragen führte Walter Sperling in dieser Alltagsgeschichte an den Rand der ehemaligen Sowjetunion, nach Grosny. Dort bündelt sich wie in einem Brennglas das Kräftespiel von Widerstand und Integration, im Ringen des russischen Imperiums und der Peripherie, der Kolonisatoren und Kolonisierten. Erst Garnisonsort, dann Boomtown des Erdöls, nach der Oktoberrevolution Baustelle des Sozialismus, wenig später Frontstadt im Visier der deutschen Wehrmacht. Nach der Deportation der Tschetschenen und Inguschen 1944 und deren Rückkehr 1957 hörte man lange nichts mehr von dem beschaulichen Städtchen im Kaukasus, das beharrlich um seinen sozialen Frieden rang. Bis zum ersten russischen Tschetschenienkrieg, als Grosny erneut in Ruinen endete. Die Eskalation und die Radikalisierung zeichnet Walter Sperling nach. Vor allem aber macht er die Bemühungen sichtbar, Brücken zu schlagen und zu vermitteln, weil die Eliten der multiethnischen und multireligiösen Peripherie wussten, was der Preis von Entfesselung ist.

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 08.12.2023

Rezensent Ulrich Schmid ist gerührt angesichts von Walter Sperlings Geschichte der Stadt Grosny. Wie der Autor die wechselvollen Entwicklungen von der Stadtgründung 1818 über die Tschetschenienkriege bis heute nachzeichnet, mittels eigener Erfahrungen als Spross einer russlanddeutschen Familie, historischer Quellen und mündlicher Interviews, scheint Schmid lesenswert. Nur Sperlings Nostalgie in Sachen sowjetischer Völkerfreundschaft findet Schmid etwas zu blauäugig. Wenn der Autor sowjetische Kultiviertheit preist, geht er einer "stalinistischen Disziplinierungstechnik" auf den Leim, glaubt der Rezensent.
Lesen Sie die Rezension bei buecher.de

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 09.11.2023

Die Zerstörung der Stadt Grosny in den Tschetschenien-Kriegen der Postsowjetzeit ist der Endpunkt dieser interessanten Rekonstruktion der Geschichte der Stadt Grosny, die der Autor im 19. Jahrhundert beginnen lässt, so Rezensent Stefan May. Geprägt war diese Geschichte zunächst von Islamisierung und einem Erdölboom, erfahren wir, die Oktoberrevolution trieb die Bewohner dann in die Arme der Bolschewiken und in der Folge in die Sowjetunion. May zeichnet nach, wie die Tschetschenen unter Stalin in Ungnade fielen und während des zweiten Weltkriegs teilweise deportiert wurden, und auch, wie sie in den Neunzigern kurzfristig die Unabhängigkeit erkämpften, was dann in den brutalen Kriegen endete. Besonders gut gefällt dem Rezensent, dass das Buch nicht nur historische Rekonstruktion ist, sondern Grosny auch soziologisch erschließt.