Sergej Lebedew

Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit

Erzählungen
Cover: Titan oder Die Gespenster der Vergangenheit
S. Fischer Verlag, Frankfurt am Main 2023
ISBN 9783103975222
Gebunden, 304 Seiten, 25,00 EUR

Klappentext

Aus dem Russischen von Franziska Zwerg. Wenn man sich den Verbrechen der Vergangenheit nicht stellt, kehren sie in Gestalt von Gespenstern wieder. Auch die sowjetische und postsowjetische Zeit gebiert mit ihren verdrängten Verbrechen fortwährend neue Ungeheuer. Sergej Lebedew folgt in seinen Erzählungen dem vergifteten Erbe der Sowjetunion und seinen unheimlichen Spuren in der Gegenwart: von Tschetschenien bis zur Ukraine, von Katyn bis Berlin. Ein leeres Gebäude oder Gelände, ein Rauschen in der Telefonleitung können dabei zu Auslösern der Erinnerung werden. Obwohl Lebedews Geschichten jeweils für sich stehen, verbindet sie ein gemeinsames Thema, ein gemeinsamer, poetischer Raum. In diesem Raum ziehen die Schatten der Vergangenheit ruhelos umher, und die Toten rufen fortwährend nach Gerechtigkeit.

Rezensionsnotiz zu Neue Zürcher Zeitung, 02.04.2024

Rezensentin Ilma Rakusa schätzt Sergei Lebedew für seinen gnadenlosen Blick auf die russische Vergangenheit, die vom Regime verfälscht und gewaltvoll unterdrückt wird. In den aktuellen Erzählungen beleuchtet der russische Schriftsteller die späte Sowjetzeit, in der für ihn typischen Mischung aus Mystischem, Gespenster- und Agentengeschichten, erklärt die Kritikerin, die beklommen etwa von einem Jungen liest, der in einer Scheune auf die Geister der jüdischen Opfer eines von den Deutschen verübten Pogroms trifft. In anderen Erzählungen trifft Rakusa auf die Toten aus den Straflagern der Taiga, während der Wind heult, Ikonen zu weinen beginnen und Flugzeuge vom Himmel stürzen. Die Kritikerin lobt nicht nur Franziska Zwergs Übersetzung und den Aktualitätsbezug der Erzählungen, sondern hofft auch auf deren "umstürzlerische Kraft".

Rezensionsnotiz zu Frankfurter Allgemeine Zeitung, 24.01.2024

Schwer beeindruckt ist Rezensentin Sabine Berking von diesen elf Erzählungen des im Exil lebenden russischen Autors Sergej Lebedew. Von der fehlenden Aufarbeitung der stalinistischen Diktatur in Russland und deren Folgen hat die Rezensentin noch nie so eindrücklich gelesen. Die gesellschaftlichen Psychosen, die sich aus dieser "politischen Amnesie" ergeben, liegen Berking hier in noch konzentrierterer Form vor als in seinen Romanen. Gleichzeitig ist Lebedew ein Meister des "nature writings", wie es der Kritikerin sonst nur etwa beim Nobelpreisträger Iwan Bunin untergekommen ist. Sie spürt geradezu fröstelnd den Wind, der "über Stalins Datscha" aufkommt und "in die Vergangenheit bläst" - und empfiehlt den Band ohne Einschränkungen.
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Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 25.11.2023

Vergangenheitsbewältigung ist das große Thema von Sergej Lebedew, weiß Rezensent Jens Uthoff, das gilt auch für die elf Erzählungen, die er mit diesem Band jetzt vorlegt. Um die nicht aufgearbeiteten Tschetschenienkriege geht es dabei ebenso wie um das Massaker von Katyn, das von der russischen Justiz perfide verdreht wird, schildert der Kritiker. Auch Machtdemonstrationen Putins, der sich wirkmächtig in Stalins Datscha inszeniert, kommen in der für Lebedew typischen Schreibweise zur Sprache, die die große Geschichte unter einem persönlichen Blickwinkel betrachtet, so Uthoff. Auch das tatenlose Zusehen großer Teile der russischen Intellektuellen bemängelt der Autor hier, der Rezensent kann dessen Drang, die Vergangenheit durchs Schreiben aufzuarbeiten, so besser nachvollziehen, wie er schließt.

Rezensionsnotiz zu Deutschlandfunk, 25.11.2023

Rezensent Cornelius Wüllenkemper ist beeindruckt von der Mischung aus "Heimsuchung, Heuchelei und Korruption", die Sergej Lebedews Erzählungen ausmachen. Sie erzählen etwa von einem Richter, der sich im Prozess um ein Massaker, das der russische Geheimdienst 1940 an 4000 polnischen Militärs verübte, für das karriereförderliche regierungsfreundliche Urteil entscheidet, oder von einem Leutnant, dem eines Nachts der Geist Stalins erscheint, mit einem so großen Schnurrbart, "dass er eine Straße hätte blockieren können", wie Wüllenkemper den Autor zitiert. Dabei gehe es in den oft "übersinnlichen Grotesken" immer um die Macht einer unterdrückten Vergangenheit, die die Menschen der Gegenwart dadurch nur umso fester im Griff hat, analysiert der Kritiker. Auch die Machenschaften des KGB, den Stalin-Kult oder die Kollaboration im Zweiten Weltkrieg thematisiert Lebedew klar. Trotzdem handle es sich aber nicht um "plakative politische Prosa", sondern um "allegorische Märchen", betont der Kritiker, der vom düsteren Sog der Geschichte eingenommen ist.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 23.11.2023

Eine Art Metaroman über die große russische Literatur des 20. Jahrhunderts findet Rezensentin Sonja Zekri bei Sergej Lebedew vor: Der titelgebende "Titan" ist ein Schriftsteller, nach dessen Hauptwerk alle suchen, nur um dann letztlich zu erkennen, dass er nach seinen Lagererfahrungen verstummt ist. Allerdings, das verrät Zekri, besteht die Möglichkeit, dass sein größtes Werk vielleicht auch darin besteht, den Schrecken des 20. Jahrhunderts in Archivmaterialen und Verhörprotokollen zu sammeln. Die Sedimentierungsarbeit kennt die Kritikerin auch vom wirklichen Autor Lebedew, der früher mal Geologe war und hier nun auch einen wichtigen Teil russischer Geschichte aufarbeitet. Bisweilen übersteigere er die Geschehnisse seines Buches ins Fantastische, etwa wenn untote Geheimdienstler auftauchen. Das ist manchmal anstrengend, befindet Zekri, die am Ende der Lektüre "verblüffend ungerührt" zurückbleibt.
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