Yade Yasemin Önder

Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron

Roman
Cover: Wir wissen, wir könnten, und fallen synchron
Kiepenheuer und Witsch Verlag, Köln 2022
ISBN 9783462001563
Gebunden, 256 Seiten, 20,00 EUR

Klappentext

Im Jahr nach Tschernobyl wird die Ich-Erzählerin geboren, irgendwo in der Westdeutschen Provinz, als "Mischling aus meiner Mutter und meinem Vater", wie es heißt. Doch die intakte Kernfamilie währt nicht lange: Der türkische Vater (so übergewichtig, dass man "fast nichts mit ihm machen kann, was mit Schwerkraft zu tun hat") stirbt. Alleingelassen ergeben Tochter und Mutter eine toxische Mischung. Der Roman erzählt, wie ein Mädchen hinausfindet aus einer beschädigten Familienaufstellung hinein in eine düster-funkelnde BRD. Er erzählt von einem Großvater mit Loch im Hals, von Sommern in Istanbul, die nach zu heißen Elektrogeräten riechen und nach Anis; von Dingen und Menschen, die auf Nimmerwiedersehen aus dem Fenster fliegen. Es ist die Geschichte einer jungen Frau, die sich immer wieder verliert und wiederfindet, auseinanderfällt und neu zusammensetzt. Bei alldem bleibt der Vater ein Wiedergänger, der deutlich macht: Auch jemand, der fehlt, kann zu viel sein. Önders Debüt ist ein Roman über den Körper, über Fremdheit und Ankommen, über Identität und Differenz.

Rezensionsnotiz zu Die Tageszeitung, 18.05.2022

Rezensent Carsten Otte wird schlicht umgehauen von Yade Yasemin Önders Debütroman. Vom Aufwachsen mit Migrationshintergrund in der alten Bundesrepublik hat der Kritiker schon öfter gelesen, aber definitiv nicht so. In einem temporeichen, geradezu "surreal" sarkastischen Mix aus Familiendrama und Coming-of-Age-Story erzählt ihm Önder von einer bulimischen Teenagerin, deren übergriffiger deutscher Mutter und dem fettsüchtigen kurdischen Vater, der sich versehentlich mit der Säge umbringt. Allein die Schilderung der Beerdigung, bei der die Kulturen zu "Torte und Frikadellen" aufeinandertreffen und die Deutschen die "orientalische" Familie wie im Zoo betrachten, verschlägt dem Rezensenten die Sprache. Die Sexszenen des promiskuitiven Teenagers, die mitunter auch gewaltsam ausfallen, stehen dem in nichts nach, fährt Otte fort. Vor allem aber ist es Önders Sprache, tastend, oft "rotzig", witzig und laut, gelegentlich still, die bei dem Rezensenten lange nachhallt: Sätze wie "expressionistische Gedichtzeilen" liest er hier.

Rezensionsnotiz zu Süddeutsche Zeitung, 13.05.2022

Da soll nochmal einer sagen, die deutsche Nachwuchsliteratur sei "müde und erschöpft", meint Rezensentin Miryam Schellbach. In Yade Yasemin Önders Debütroman sägt sich ein 400-Kilo-Vater in den Körper und stirbt weitere Tode, die dreißigjährige Tochter hat Bulimie - oder auch nicht - überhaupt zündet die Autorin das ein oder andere "Leuchtfeuer im Konjunktiv", klärt uns die Kritikerin auf. Dazu ist der Text noch verblüffend lustig, rhythmisch, immer auch ein bisschen "morbide" - und am Puls der Zeit, fährt Schellbach fort: Önder betrachtet die zwiespältige Aneignung des weiblichen Körpers, erzählt von Gewalt, MeToo, aber auch Selbstoptimierung und Zweifeln - mal bleibt das Erzählte rätselhaft, mal schmerzt es, stets weckt es auf, staunt Schellbach. Nicht zuletzt schafft Önder, auch tätig als Drehbuchautorin, derart verdichtete Szenen, dass die Kritikerin an Raymond Queneau denken muss.
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Rezensionsnotiz zu Frankfurter Rundschau, 12.05.2022

Rezensentin Cornelia Geißler begeistert sich vor allem für die experimentelle Sprache in Yade Yasemin Önders Romandebüt. Die Autorin, die ein Fragment des Buches bereits 2018 im Rahmen des Berliner Literaturwettbewerbs Open Mike vorstellte und damit gewann, lässt eine unzuverlässige, aber durchaus überzeugende Ich-Erzählerin von dem Aufwachsen in einer deutsch-türkischen Familie, dem frühen Verlust des Vaters, der Pubertät und dem Leben mit einer Essstörung erzählen, erklärt Geißler. Für die Rezensentin zeichnet sich das hier zu erlebende "Sprachabenteuer" vor allem durch den fragmentalen Aufbau, Rhythmus und Poesie aus. Geißler freut sich schon darauf, mehr von dieser "kühnen Stilistin" zu lesen.