Bücher der Saison

Politische Bücher

Eine Auswahl der interessantesten, umstrittensten und meist besprochenen Bücher der Saison.
12.04.2021. Anne Applebaum fragt, warum intelligente Menschen nach rechts abrutschen. Emily Roig schreibt über Ausgrenzung und Versöhnung. Und einige Lektürevorschläge zum Superwahljahr.
Was wäre die politische Reflexion ohne Anne Applebaum? Kein politisches Buch hat in diesem beginnenden Wahljahr 2021 mehr Besprechungen erhalten als Applebaums doch eher globale Erwägungen zur Frage, warum intelligente Menschen nach rechts abrutschen: "Die Verlockung des Autoritären" (bestellen). Sie habe sich nicht mit den "Abgehängten", sondern mit den Eliten auseinandersetzen wollen, die für den Populismus die Verantwortung tragen, erklärte sie im Gespräch mit der taz (unser Resümee): "Alle Leute, die für diese Bewegungen arbeiten, sind hochgebildet, bestens vernetzt und kommen oft von Elite-Universitäten." Was Rezensenten an ihr schätzen, ist die Verschränkung von persönlichen Erfahrungen, historischem Weitblick und theoretischer Analyse. Viele der Akteure kennt Applebaum persönlich - bestürzend findet Julia Encke in der FAS ihre Einsichten über bestens gebildete Spindoktoren, die die Demokratien in Richtung Abgrund bugsieren. Marko Martin liest das Buch im Dlf Kultur mit Bauchschmerzen, weil Applebaum das Milieu der intellektuellen Spindoctors hinter Trump oder Viktor Orban so genau kennt. FAZ-Kritiker Günter Nonnenmacher hätte sich allerdings gewünscht, dass sie auch mal auf die Wähler blickt und nicht nur auf die Strippenzieher, die alle aus Applebaums Milieu kommen.

Dies ist wie gesagt das Superwahljahr, aber bisher kann man kaum behaupten, dass die deutsche Publizistik und Politikwissenschaft ähnlich einsichtsvolle Bücher zum Zustand der Demokratie in Deutschland produziert. Dabei hat die Coronakrise mit dem scheinbar unaufhaltsamen Aufstieg der Grünen und einer nicht erwarteten Schwäche der CDU ja durchaus interessante Bruchstellen aufgezeigt. Vom Föderalismus ganz zu schweigen. Aber ein Buch wie Michael Koß' "Demokratie ohne Mehrheit?" (bestellen) hat bisher nur zu einer vage wohlwollenden Kritik geführt. Koß selbst will übrigens in der Coronakrise keine Krise des Föderalismus erblicken. Sein Problem ist eher ein allseits hyperkorrektes Einhalten von Prozeduren, wie er im Interview mit Zeit online darlegt: "Sehen Sie, in Deutschland ist der Rechtsstaat älter als die Demokratie. Das heißt, die Verwaltung ist daran gewöhnt, nicht in erster Linie politisch zu handeln, sondern vor allem darauf zu schauen, ob das, was sie tut, rechtlich sauber ist."

Zu den Grünen, die ja demnächst höchstwahrscheinlich eine entscheidende Kraft in der Bundesregierung stellen, sind zwei Bücher zu nennen. Ulrich Schultes "Die grüne Macht" (bestellen) und "Von hier an anders - Eine politische Skizze" (bestellen) von Robert Habeck. Schulte ist tazler, kennt die Grünen gut und steht ihnen natürlich nahe. Jenseits von grün sei eigentlich gar nicht denkbar, resümiert Peter Jungblut im Bayerischen Rundfunk die Einstellung der Grünen, aber wohl auch Schultes selbst - der Klimawandel ist dafür das beste Argument, obwohl die Grünen für eine sehr kritische Einstellung zur Atomkraft stehen, was die Bekämpfung des Klimawandels nicht einfacher macht. Vielleicht sollte man als ergänzende Lektüre zu Bill Gates' "Wie wir die Klimakatastrophe verhindern" (bestellen) greifen, denn Gates verbindet die Diagnose des Problems mit einem typisch amerikanischen Techno-Optimismus, der den evangelisch und anthroposophisch geprägten Grünen so fremd ist. Gates' Buch stieß übrigens auch bei den Journalisten, die es in großer Zahl besprachen, eher auf schlechte Laune. Atomenergie, nein danke! Habecks Buch sollte man lesen, um Jagoda Marinics rhetorische Fage in der taz neulich nachzuvollziehen: Was wäre, "wenn zum jetzigen Zeitpunkt die größere Innovation für Deutschland, die größere Zumutung, als von einer jungen Frau regiert zu werden, darin läge, von einem Politiker geführt zu werden, der sich auch als Intellektueller und Philosoph versteht", (unser Resümee) . Auch Robert Probst lobt Habecks Buch in der SZ als eine  bisweilen philosophische, dann wieder persönliche Analyse von Politik und Gesellschaft.

Wer dann des Fast Food des Tagespolitischen überdrüssig ist und sich für tiefere Reflexion interessiert, lese anschließend Adam Przeworskis Essay "Krisen der Demokratie" (bestellen), der an Applebaums Fragen anschließt. Der Band wurde nachdrücklich empfohlen. Wie der Autor sich der viel beschworenen Krise der Demokratie zuwendet, skeptisch, fragend, nachvollziehbar argumentierend, macht Jens Balzer in Dlf Kultur Lust, sich mit den historischen Beispielen im Buch, Weimar und Chile, zu befassen, um den Umschlag von demokratischer in autoritäre Staatsform zu studieren.

Trotz des heraufziehenden Superwahljahrs wurde in den Zeitungen eher über Fragen der Kultur, etwa der Raubkunst (siehe Bénédicte Savoy in den Sachbüchern), über Identitätspolitik (siehe Caroline Fourest, Bernd Stegemann und Sahra Wagenknecht allein in dieser Übersicht) oder über Postkolonialismus versus Erinnerung an den Holocaust debattiert. Letztere Debatte hat sich über das ganze letzte Jahr gezogen und ist bis heute nicht ausgestanden. Auch der Perlentaucher hat hier, hier und hier dazu beigetragen. An die Debatte um Achille Mbembe schloss sich die um BDS an. Die Chefs der größten deutschen Kulturinsitute bestanden in einem dramatischen Aufruf darauf, Israelboykotteure einzuladen. In einer pompös daherkommenden neuen Antisemitismusdefinition ("Jerusalem Declaration") bemühen sich diese Fraktion, die Israelboykottbewegung BDS als "nicht per se" antisemitisch zu rehabilitieren. Das wichtigste Buch auf der postkolonialen Seite der Debatte ist Michael Rothbergs "Multidirektionale Erinnerung" (bestellen), das sich als ein Manifest des auch von Aleida Assmann verfochtenen "Sowohl als auch" lesen lässt. Der Holocaust  wäre demnach sowohl singulär als auch nicht, die Erinnerung an den Holocaust soll die Erinnerung an andere Verbrechen befruchten, und alles steht in der Linie ein und der selben Unheilsgeschichte. Das Buch hat Rothberg in den USA bereits vor zwölf Jahren publiziert und wurde erst jetzt übersetzt. Rezensent Michael Brumlik stimmt in der FR zu. Die beste kritische Besprechung war die von Tania Martini in der taz: Rothberg inszeniere sich mit seinem sperrigen Begriff der "multidirektionalen Erinnerung" zwar als ein Vermittler zwischen Holocaustforschung und postkolonialer Theorie, aber letztlich unter Preisgebung eines Begriffs der Beispiellosigkeit des Holocaust - also eben doch im Sinne einer postkolonialen Theorie, die aus Opferkonkurrenz argumentiere.

En passant noch einige Titel, die das geistige Klima der Zeit widerspiegeln: "Why We Matter" (bestellen) heißt das Buch der Black Lives Matter-Aktivistin Emilia Roig, die als Schwarze, Jüdin, Queere (ganz wird es im Klappentext nicht klar) über die Erfahrung von Ausgrenzung und den Traum von Versöhnung schreibt - die Rezensentinnen sind betroffen. Pierre Rosanvallon erzählt bewährt und gediegen und nicht als erster "Das Jahrhundert des Populismus" (bestellen). Die Rezensenten sind eingenommen, aber nicht unbedingt aus dem Häuschen. Joseph Vogl identifiziert in  "Kapital und Ressentiment - Eine kurze Theorie der Gegenwart" (bestellen) den üblichen Verdächtigen heutiger Kulturkritik - die sozialen Medien - als Quell alles Bösen. Die Rezensenten äußern sich teilweise recht skeptisch zu den vielleicht etwas steilen Thesen des Philosophen. Caroline Fourests "Generation Beleidigt - Von der Sprachpolizei zur Gedankenpolizei" (bestellen) hatte eine riesige Konjunktur in den hitzigen Debatten der letzten Monate über linke Identitätspolitik. Es ist vielleicht nicht ihr bestes Buch - aber endlich mal wieder eines, das ins Deutsche übersetzt wurde. Die Rezensionen sind sehr positiv. Schließlich setzt sich der Dramaturg und Miterfinder der linkspopulistischen "Aufstehen"-Bewegung (die auch schon wieder vergessen ist) Bernd Stegemann in "Die Öffentlichkeit und ihre Feinde" (bestellen) mit dem selben Thema auseinander und zeigt, dass es auch in Deutschland klassische Linke gibt, die die Diskurse der heute dominierenden alternativen Fraktion in der Linken ablehnen. Aber ist es nicht ein bisschen zu einfach, den "weißen Mann" als Verkörperung des universalen Bösen einfach durch einen alternativen Punching Ball namens "Neoliberalismus" zu ersetzen? Auch dieses Buch wurde intensiv und kontrovers rezensiert.

Und dann ist da noch, ganz aktuell, Sahra Wagenknecht, die es so wunderbar versteht zu polarisieren. Ihr neues Buch "Die Selbstgerechten" (bestellen) zirkulierte dummerweise schon, bevor sie zur Bundestagskandidatin in NRW gekürt werden sollte und hat in ihrer eigenen Partei scharfe Empörung ausgelöst. Auch sie kritisiert, wie Bernd Stegemann oder Caroline Fourest, die neue kulturalistische Linke von links - im Namen der  guten alten Arbeiterschaft, die ihre Anwälte verloren habe. Dabei attackiert sie laut taz (unser Resümee) auch recht heftig einige Co-Granden ihrer Partei - und geht so weit Richtung linkem Beton, das sie fast schon wieder rechts steht und Gelbwesten und Corona-Skeptiker verteidigt. Stefan Reinecke war in einer ersten Kritik in der taz nicht recht zufrieden: "Der Linksliberalismus, dessen toxische Wirkungen hier mannigfach besungen werden, bleibt dabei eine vage Erscheinung. Mal wird er mit radikaler Identitätspolitik gleichgesetzt, mal mit urbanen Milieus, mal mit allen Mitte-links-Parteien. So werden alle Katzen grau."