Magazinrundschau - Archiv

Lecturas Dominicales

1 Presseschau-Absatz

Magazinrundschau vom 13.04.2004 - Lecturas Dominicales

Eine wahrlich erschütternde Reportage veröffentlicht Lecturas Dominicales, die Kulturbeilage der kolumbianischen Tageszeitung El Tiempo. Es geht um Leidy Tabares, jenes Straßenkind, das 1998 als Rosenverkäuferin in dem gleichnamigem Film von Victor Gaviria über den roten Teppich in Cannes schwebte. Aufgeschrieben hat ihre Geschichte John Carlin, Reporter der spanischen Tageszeitung El Pais. Der ist schon auf allerlei Kriegsschauplätzen gewesen, aber eine derartige Tragödie war ihm noch nicht untergekommen: "Ich hatte das Gefühl, ich könnte ihr nichts erzählen, was sie überraschen könnte. In Sachen Gewalt und städtischer Verzweiflung wird die Welt, in der sie lebt, immer das letzte Wort behalten, eine Million Kilometer entfernt von den Sorgen um Cholesterin oder Handy-Klingeltöne, die unsere bequemen westeuropäischen Existenzen erschüttern". Leidy Tabares ist in der kolumbianischen Großstadt Medellin aufgewachsen, wo sich Jugendbanden, Polizei, Drogenhändler, Armee, Guerilla und Paramilitärs schon seit mehr als zwei Jahrzehnten gegenseitig niedermetzeln. Cannes verhalf der damals 14-Jährigen, zu einem gewissen Ruhm, und doch musste sie sich bald wieder als Rosenverkäuferin durchschlagen. Sie verliebte sich in einen jungen Pistolero, Ferney, und bekam ein Kind von ihm. Ferney aber wurde erschossen, und wenig später nahm auch sie an einem Überfall teil, bei dem ein Taxifahrer ermordet wurde. Kurz nachdem Carlin mit der mittlerweile 21-jährigen sprach, musste sie ihre Haftstrafe antreten. Sie ist wegen Mordes zu 26 Jahren verurteilt worden.

Weiterhin bringt Lecturas Dominicales einen Vorabdruck aus "Delirio", dem neuen Roman der Kolumbianerin Laura Restrepo. "Ich merkte, das etwas für immer zerbrochen war, als mir ein Mann die Tür jenes Hotelzimmers öffnete und ich im Hintergrund meine Frau sitzen sah, die auf eine sehr merkwürdige Art und Weise aus dem Fenster schaute", heißt es dort. Erzählt wird die Geschichte von Aguilar, einem Literaturdozenten, und seiner Frau Agustina, die aus anfangs unerfindlichen Gründen wahnsinnig geworden ist. Schauplatz ist auch hier das heutige Kolumbien. "Delirio" ist in Spanien mit dem diesjährigen Alfaguara-Preis des gleichnamigen Verlagshauses bedacht worden (also 175.000 US-Dollar, hier das Pressedossier). Auf Deutsch sind von Laura Restrepo bislang die gleichfalls empfehlenswerten "Der Engel an meiner Seite", "Die dunkle Braut" und "Der Leopard in der Sonne" erschienen.

Außerdem in dieser Beilage und dieser Zeitung: ein Interview mit dem kürzlich verstorbenen kolumbianischen Maler Enrique Grau sowie eine ausführliche Berichterstattung über das am Sonntag zu Ende gegangene internationale Theaterfestival, das alle zwei Jahre die Hauptstadt Bogota in Aufruhr versetzt. Viel Applaus ernteten dort auch die deutschen Inszenierungen der "Emilia Galotti" vom Deutschen Theater sowie "Bernarda Albas Haus" vom Thalia Theater.