Magazinrundschau - Archiv

New Left Review

3 Presseschau-Absätze

Magazinrundschau vom 28.09.2021 - New Left Review

Noch ein großer Rätselhafter: Francesco Pacifico erinnert sich an den Literaturwissenschaftler Roberto Calasso, der in diesem Sommer starb. "Von den ungreifbaren italienischen Gelehrten - Eco, Calvino, Pasolini - ist der Autor des internationalen Bestsellers 'Die Hochzeit von Kadmos und Harmonia' (1988), einer hybriden Meditation über die anhaltende Relevanz des griechischen Mythos, vielleicht der am schwersten zu durchschauende. 'Die Hochzeit' war der zweite Teil eines unscharfen, komplexen und verwirrenden Projekts - Calasso nannte es eine 'Oper' und hat es nie näher erläutert -, das man als einen anhaltenden Versuch beschreiben könnte, das mystische Potenzial der Literatur zu erschließen. Das Werk, das mit 'La tavoletta dei destini' (2020) auf elf Bände angewachsen ist, spannt einen Bogen über die Weltgeschichte und die Geografie und verbindet Kafka und Baudelaire, die Veden und die Bibel, Tiepolo und Talleyrand, die mesopotamische und griechische Mythologie. Über den ersten Band, 'Der Untergang von Kasch' (1983) - dessen schweifende, eklektisch zitierende Reflexionen über antike Rituale und das Wesen der Moderne sein Verfahren begründeten - schrieb Calasso, er wolle die Essayform meiden, da sie 'sklerotisiert' sei. 'Vom Aphorismus bis zum kurzen Gedicht, von der stichhaltigen Analyse eines bestimmten Themas bis zur erzählten Szene' - das Buch, das er geschrieben hatte, war vielmehr 'ein ganzes Heer von Formen...'."
Stichwörter: Calasso, Roberto

Magazinrundschau vom 18.08.2020 - New Left Review

Das Magazin bringt einen Essay des schwedischen Soziologen Göran Therborn über die globale Situation der Mittelschicht. Während sie im Süden wächst, schrumpft sie im Norden: "Laut Anthony Atkinson und Andrea Brandolini, die Ungleichheit erforschen,  ist von Mitte der achtziger bis Mitte 2000 eine Schrumpfung der Mittelschicht festzustellen. Laut einer Studie in 15 OECD-Ländern verloren die mittleren 60 Prozent in allen ausgewählten Ländern außer Dänemark Teile ihrer Einkünfte an das reichste Fünftel, in zehn der Länder schrumpfte die Mittelschicht ganz real. 2011 fragte sich Francis Fukuyama: 'Was, wenn die künftige technologische und Entwicklung und die Globalisierung der Mittelschicht den Boden entzieht und es nur noch einer Minderheit ermöglicht, den Status der Mittelschicht zu erreichen?' Fukuyama sorgte sich noch mehr: "Kann die liberale Demokratie einen solchen Schwund überleben?' … Die Abwärtsbewegung begann in den USA in den siebziger Jahren und wurde erst von einigen scharfsichtigen Forschern während der Achtziger entdeckt … Schon jetzt ist klar, dass die Pandemie die Ungleichheiten vergrößert, das Virus betreffend wie wirtschaftlich. Ebenso die Diskriminierung zwischen wie innerhalb der Klassen, Männern und Frauen, Generationen, ethnischen Gruppierungen. Für die Träume und Albträume der Mittelschicht bedeutet das eine beschleunigte Verschmelzung der Mittelschicht des Südens wie des Nordens auf dem finsteren Weg in die Ungleichheit. Die ihnen gemeinsame Preisgabe durch das digitale Großkapital, verkörpert durch Amazon und Microsoft, wird soeben enorm verstärkt. Die meisten mittelständischen Unternehmen und freiberuflichen Unternehmer im Norden sind die wirtschaftlichen Verlierer der Krise."

Magazinrundschau vom 08.04.2008 - New Left Review

Dushu ist das wichtigste und einflussreichste intellektuelle Magazin Chinas. Seit 1979 fand darin die Auseinandersetzung mit westlicher Theorie vom Strukturalismus bis Habermas und Derrida statt (mehr hier). Nun ist eine sechsbändige - chinesische - Ausgabe mit den wichtigsten Texten von 1996 bis 2005 erschienen, einer Zeit, in der die Autoren der Zeitschrift ihre Kritik am wirtschaftlichen Liberalisierungskurs der Kommunistischen Partei verstärkten. Zhang Yongle stellt die Bände vor und zeichnet in seinem Artikel "Keine verbotenen Bezirke für die Literatur?" sehr ausführlich die bewegte Geschichte des Magazins nach: In der Umorientierung von Dushu seit Mitte der Neunziger "spiegelte sich die dramatische ideologische Kluft wider, die seither die kritischen Intelligenz spaltet, als viele der Autoren der Zeitschrift begannen, die Entwicklung in China zu kritisieren. Das war ein höchst kontroverser Standpunkt, der bald als der einer 'neuen Linken' oder gar als 'postmodern' gebrandmarkt wurde. Beide Bezeichnungen waren stark negativ konnotiert: es war seit den Siebzigern beinahe ein Skandal, wenn ein Intellektueller als 'links' (im Gegensatz zu 'liberal') bezeichnet wurde, da die Mehrheit der Intelligentsia zum Opfer der ultralinken Politik der Kommunistischen Partei geworden war. Postmodern war aber noch seltsamer, denn wie konnte man als Intellektueller das Ideal westlicher Modernisierung in einer dem Fortschritt so sehr hinterherhinkenden Gesellschaft wie China kritisieren?"
Stichwörter: Derrida, Jacques