9punkt - Die Debattenrundschau

Zwei Gedanken gleichzeitig

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
20.10.2023. Der Filmdienst fragt sich, wie man mit den Bildern umgehen soll, die die Hamas von ihrem Massaker publiziert: Man kann eigentlich nur davon erzählen, nicht sie zeigen. Die FAZ notiert, dass die Hamas die Bilder zwar selbst ins Netz stellt, gleichzeitig aber behauptet, nie israelische Zivilisten angegriffen zu haben. Diese Bilder haben einen Zweck, erklärt der Soziologe Stefan Malthaner auf Spon: Sie spiegeln die eigene Macht in der Angst des Opfers. Die taz beklagt mangelndes Mitgefühl in Deutschland für die Palästinenser. Die NZZ versucht den Zivilisationsbruch zu verarbeiten, der in dem Massaker liegt. Im Guardian freut sich der polnische Autor Witold Szabłowski, dass Polen wieder eine "vibrierende Demokratie" ist.
Efeu - Die Kulturrundschau vom 20.10.2023 finden Sie hier

Politik

Im Filmdienst ist Dietrich Leder schockiert über die Bilder, die die Hamas von dem Massaker an den Israelis ins Netz stellte. Er ist dankbar, dass die deutschen Medien sie nur ausschnittweise und teilweise verpixelt zeigen. Wie soll man aber überhaupt mit diesen Bildern umgehen, die einen doch erst das ganze Ausmaß der Brutalität der Hamas erkennen lassen? Ihm kommt der Gedanke, "ob man sich im Umgang mit den Gewaltbildern der Täter nicht eines Mittels bedienen könnte, das im Theater lange Zeit verwandt worden ist. Gemeint ist die Teichoskopie, also die Mauerschau, bei der auf der Bühne jemand das, was er jenseits des dargestellten Raumes sieht, für alle anderen schildert und dabei in und mit seinen Worten verrät, was dieser Anblick bei ihm bewirkt. Damit würden die Aufnahmen der Täter stets nur indirekt zu sehen sein und bliebe die Würde ihrer Opfer gewahrt."

Auch Michael Hanfeld macht sich in der FAZ Gedanken über diese Bilder, die die Hamas selbst filmte: "So rasch die Darstellung der Hamas zunächst Erfolg zu haben schien - und bei denen, die sich durch das Gegenteil nahelegende Fakten nicht beirren lassen wollen, Erfolg hatte -, so schnell war das von der Hamas angerichtete Massaker vom 7. Oktober angezweifelt worden. Zwar filmten sich die Täter selbst und stellten Clips ins Netz, die zeigen, wie sie morden und Menschen verschleppen. Doch zugleich stellte die Hamas in Abrede, sie habe israelische Zivilisten angegriffen, und setzte in Putin-Manier ihre Propagandamaschine in Gang, die auf einen Zustand der Verwirrung abzielt, in dem zwischen Wahrheit und Lüge nicht mehr zu unterscheiden ist. Da reicht es schon, wenn die Gleichung lautet: Aussage steht gegen Aussage." Und es zeigt sich auch, dass Leder (s.o.) Recht hat: Was die Hamas filmte, möchte man nicht sehen, es reicht zu lesen, was Hanfeld schreibt: "Unterdessen berichten Rechtsmediziner und diejenigen, die sich um die Leichname der rund 1400 am 7. Oktober von Hamas-Terroristen Ermordeten kümmern, von Spuren von Folter, die man sich kaum ausmalen kann, etwa von der Verstümmelung einer vierköpfigen Familie. Kinder und Eltern, so führte ein israelischer Rechtsmediziner in einer Pressekonferenz aus, saßen einander gefesselt gegenüber. Sie erlitten die Folter am eigenen Leib und mussten mitansehen, wie ihre Lieben verstümmelt wurden, bevor man sie ermordete. Ihre Peiniger saßen derweil am Tisch und aßen."

Was erhoffte sich die Hamas von solchen Bildern des Grauens? Der Soziologe Stefan Malthaner erklärt dazu im Interview mit Spon: "Nach Taten wie diesen ist oft von 'sinnloser Gewalt' die Rede. Grausamkeit hat aber sehr wohl einen Zweck: Sie spiegelt die eigene Macht in der Angst des Opfers. Deswegen hat die Hamas sich bewusst inszeniert. Die Täter filmten ihre Angriffe mit Kameras. Sie wollten zeigen, dass sie zu allem fähig sind. Die eigene Allmacht und die Ohnmacht ihrer Opfer zur Schau stellen. Ihre Videos luden Sympathisanten ein, an diesem 'Triumph' teilzuhaben." Der Angriff der israelischen Armee als Reaktion darauf, war dabei eingepreist, glaubt Malthaner: "Mit ihrer demonstrativen Brutalität zwingt sie Benjamin Netanyahus Regierung zu reagieren. Sie setzt darauf, dass eine Überreaktion Israels die Loyalität der arabischen Bevölkerung zur Hamas zurückbringt. Vielleicht dachte sie auch, sie könnte über die vielen israelischen Geiseln ihre Ziele erreichen. Um das nachzuvollziehen, wissen wir im Moment aber noch zu wenig."

Dass die Bilder der Hamas um die Welt gingen, dafür sorgten auch die sozialen Medien. Philipp Bovermann und Léonardo Kahn reflektieren in der SZ über deren Umgang mit Propaganda: "Die Tiktokisierung des Social Web rächt sich: Auch kleine Konten mit geringen Followerzahlen können Videos rund um die Welt schicken, wenn der Inhalt nur genügend Interaktionen auslöst. Zum Beispiel, weil Blut fließt. Wenn ihre Konten gesperrt werden, können Terroristen neue anlegen und dann gleich wieder selbstgebastelte Viralraketen in Richtung der 'For You'-Startseiten feuern." Die Gegenmaßnahmen der Konzerne bleiben oft wirkungslos: "Um die Masse an Inhalten zu bewältigen, nutzen sie vor allem künstliche Intelligenz, aber die kann nicht unterscheiden, ob Gewalt in propagandistischer Absicht gezeigt wird - oder zur Dokumentation."

In der SZ versucht Bernd Dörries, die arabische Perspektive auf Palästina und die Hamas einzunehmen. Für deren Haltung "muss man kein Verständnis haben", meint er, aber "zu verstehen versuchen, sollte man schon." Dass die arabische Wahrnehmung von Israel so anders ist als die westliche, hat vielfältige Gründe, so Dörries, und beginnt schon bei der Gründung Israels: "Für große Teile der arabischen Welt aber ist der Staat ein koloniales Projekt, das ihnen aufgezwungen wurde. Als Menschen zweiter Klasse behandelt sehen sich die Palästinenser bis heute." Wenn man aber die Schuld an allem auf Israel zu schieben, mache man es sich zu einfach: "Dass die Hamas zuletzt 2006 wählen ließ, dass die Autonomiebehörde im Westjordanland in Korruption versinkt, es spielt kaum noch eine Rolle. Sich als Opfer einer fremden Macht zu sehen, kann auch bequem sein. Viele sind auch so jung, dass sie gar nicht wissen, warum so manche Friedensinitiative auch an den Palästinensern scheiterte."

Am Jubel vieler Muslime auf deutschen (und vor allem Berliner) Straßen erkennt Sabine Rennefanz auf Spon auch ein Versagen der deutschen Einwanderungspolitik. "Das Schlimme ist, dass der Hass, den viele Einwanderer und ihre Kinder von Haus aus mitbringen, oft durch die Aufnahmegesellschaft potenziert wird. Durch Diskriminierungserfahrungen wachse das Bedürfnis nach Identifikation mit einer nationalen oder religiösen "Eigengruppe" (zum Beispiel "die Palästinenser") - und einer Abgrenzung von einer "Fremdgruppe" ("die Juden")", liest sie in einem Gutachten der Antisemitismusforscherin Sina Arnold. Solidarität mit den Palästinensern kann allerdings kaum der Grund für die zum Teil gewalttätige Unterstützung der Hamas in Deutschland sein, meint sie: "Echte Solidarität mit den 'Geschwistern' in Gaza würde sich gegen die Hamas richten - eine Terrorgruppe, die die eigenen Frauen unterdrückt und Kinder als Schutzschilde benutzt. Echte Solidarität mit den Palästinensern würde fragen, warum weder Jordanien noch Ägypten Flüchtlinge aufnehmen. Echte Solidarität wäre, sich gegen das Gift, das Hamas global verspritzt, zu stellen und Empathie zu zeigen: für die Menschen in Israel und in Gaza. Zwei Gedanken gleichzeitig zu halten, das scheint viele derzeit zu überfordern."

Die FAZ hat Jeffrey Herfs Kommentar zum Hamas-Terror aus Quillette übernommen (siehe unser Resümee in der Magazinrundschau), der allen, die glauben hier gehe es um "Kolonialismus" oder "Befreiungskampf" die Lektüre der Gründungscharta der Hamas empfiehlt.

In der taz beklagt Daniel Bax mangelndes Mitgefühl in Deutschland für die Palästinenser, die gerade im bombadierten Gaza die Folgen des Hamas-Massakers ausbaden müssen. "Es ist nachvollziehbar, dass viele Deutsche mit jüdischen Israelis und ihren jüdischen Nachbarn in Deutschland mitfühlen. Weniger verständlich ist, wie manche hierzulande die Gewalt gegen Palästinenser relativieren oder rechtfertigen. Und wie will die Bundesregierung glaubwürdig in anderen Konflikten auf das Völkerrecht pochen, wenn sie jetzt schulterzuckend reagiert, als seien die Menschen in Gaza an ihrem Schicksal irgendwie selbst schuld? Das ist ein politisches Versagen. Die Menschen in Israel und in den palästinensischen Gebieten verdienen unser ungeteiltes Mitgefühl und unsere Hilfe. ... Wer glaubt, ohne die Hamas würde Frieden in Gaza herrschen, ist naiv oder kennt die vergangenen 75 Jahre dieses Konflikts nicht. Sollte die Hamas 'vernichtet' werden, wie es jetzt heißt, wird eine andere Gruppe an ihre Stelle treten - jedenfalls solange sich nicht die Bedingungen ändern, die dazu geführt haben, dass so eine mörderische wie selbstmörderische Organisation überhaupt entstehen und sich im Gazastreifen etablieren konnte."

Die Reaktionen von Künstlern und Intellektuellen wie Judith Butler auf die Verbrechen der Hamas relativieren nicht nur deren Grausamkeit, schreibt Roman Bucheli in der NZZ, sondern stellen grundsätzliche humanistische Werte in Frage: "Der Blutrausch der Hamas stellt einen Zivilisationsbruch dar… Auf welcher Basis soll man sich in Zukunft noch verständigen können, wenn die Würde des Menschen nichts mehr zählt? Wie soll ein Zusammenleben möglich sein, wenn es keine auf anerkannten Werten gründende Vernunft mehr gibt, von der wir uns in unseren Handlungen leiten lassen und vor der wir uns zu verantworten haben? Seit der Aufklärung und spätestens nach der Menschenrechtserklärung durch die Uno konnte man glauben oder hoffen, dass sich allmählich der Konsens von der Unantastbarkeit der Menschenwürde durchsetzen werde. Nicht erst seit dem 7. Oktober muss man ernsthaft zweifeln an der Wirkungsmacht dieser Prinzipien."

Die israelische Linke vergaß über ihrer Kritik an Netanjahu die eigentliche Bedrohung durch Hamas und Hizbollah, ruft der niederländische Schriftsteller Leon de Winter in der NZZ. Die Zweistaatenlösung war eine gefährliche Illusion, meint er: "Dies ist vermutlich die schwierigste Einsicht, die von der israelischen Linken derzeit verarbeitet werden muss: Die Zweistaatenlösung brachte in Gaza nicht den Frieden, sondern ein völkermordendes Regime an die Macht. Es ist klar, was eine Dreistaatenlösung bringen würde. Wenn auch das Westjordanland von der Hamas kontrolliert wird (die Hamas ist dort beliebter als die Fatah), wird Israel durch permanenten Terror in Geiselhaft genommen."

Die Israelin Marina Klimchuk schildert in einem Essay auf zett (Zeit-online) ihre persönliche Perspektive auf die Situation. Früher demonstrierte sie Seite an Seite mit palästinensischen Aktivisten. Doch die Reaktionen auf die Attentate der Hammas schockierten sie in ihrer Einseitigkeit und Häme: "Die Gräuel des 7. Oktobers werden meinen Glauben nicht erschüttern, dass jüdische Israelis nur in Sicherheit, Würde und Freiheit leben können, wenn auch Palästinenser:innen in Sicherheit, Würde und Freiheit leben. Das Schicksal der einen ist mit dem Schicksal der anderen verbunden. Ich würde jetzt gerne sagen können: Palästinensische und israelische Aktivist:innen müssen zusammenhalten, dürfen nicht aufgeben. Selbst dann, wenn wir die Früchte unserer Arbeit niemals erleben werden - sondern vielleicht erst die Generationen, die nach uns kommen. So würde ich gerne fühlen. Aber ich tue es gerade nicht.
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Europa

Im Guardian freut sich der polnische Autor Witold Szabłowski über den Ausgang der Wahlen in Polen. Er kann noch kaum fassen, dass er plötzlich wieder in einer "vibrierenden Demokratie" lebt: "Vor zehn Tagen sahen meine Freunde und ich die Aufführung eines merkwürdigen Theaterstücks im polnischen öffentlich-rechtlichen Fernsehen. Es war als Wahlkampfdebatte angekündigt (in der Tat die einzige Fernsehdebatte vor den Wahlen) und zeigte als Journalisten verkleidete Personen, die die Rollen von Journalisten spielten, die den Kandidaten solche Orwellschen Fragen stellten wie - ich umschreibe - 'Wollen Sie, dass Polen reich und sicher ist, wie es jetzt ist, oder möchten Sie lieber, dass es arm ist?' In diesem Moment wurde uns klar, wie weit sich Polen von auch nur dem Anschein nach demokratischen Standards entfernt hat. ... Wenn man bedenkt, dass diese Fernsehdebatte erst kürzlich stattgefunden hat, ist die Reise, die wir in wenigen Tagen zurückgelegt haben, umso erstaunlicher."

Auch die polnische Publizistin Anna Kowalczyk atmet im Tagesspiegel auf: "Heute habe ich das Gefühl, dass wir gerade in dieser Atemlosigkeit die liberale Demokratie mehr denn je lieben lernten. Wir haben ihre Tugenden und ihre Schwächen erlebt und sie erst dann wirklich zu schätzen gelernt, als sie uns weggenommen werden sollte. Und sie wurde uns fast weggenommen. Wir sehnen uns nach ihrem fehlerhaften, aber unbestreitbaren Charme und heißen sie mit offenen Armen willkommen. Mit Leichtigkeit und neuer Hoffnung."
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