9punkt - Die Debattenrundschau

Welch beklagenswerte europäische Kakofonie

Kommentierter Rundblick durch die Feuilletondebatten. Wochentags um 9 Uhr, sonnabends um 10 Uhr.
28.02.2024. Es braucht dringend einen Friedensplan in Israel, der die Golfstaaten mit einbindet, rufen Natan Sznaider und Navid Kermani gemeinsam in der SZ. In der Welt ermutigt Deniz Yücel die deutsche Öffentlichkeit, auch dumme Meinungen auszuhalten. Die taz fordert die Institutionen indes auf, antidemokratischen Personen den Zutritt zu verweigern. In Time denkt der Jurist Noah Feldman über den neuen Antisemitismus nach. Und bei Spon fragt der Sicherheitsexperte Christian Mölling: Wovor hat der Kanzler Angst?
Efeu - Die Kulturrundschau vom 28.02.2024 finden Sie hier

Politik

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In einem Essay in der SZ lassen der israelische Soziologe Natan Sznaider und der Schriftsteller Navid Kermani die Stimme der Vernunft sprechen - die in der gegenwärtigen Debatte im Nahostkonflikt oft schmerzlich fehlt. Jahrelang sind die beiden Intellektuellen befreundet und gleichzeitig im Disput über Israel und Palästina (einen Teil ihrer Korrespondenz haben sie in einem gemeinsamen Buch veröffentlicht). Jetzt sind sie sich einig: Was her muss ist ein Friedensplan, und dazu braucht es Hilfe von Außen: "Wir sind uns sicher: Den allermeisten Menschen in Gaza und der Westbank ist bewusst, dass Israel nicht militärisch besiegt werden kann, weder von der Hamas noch von der Hisbollah und schon gar nicht von Iran. Selbst diejenigen, die den 7. Oktober mit welchen Begründungen auch immer rechtfertigten oder gar begrüßten, haben erfahren, welches Unheil damit über sie selbst gekommen ist. Umgekehrt, auf der israelischen Seite, wissen die meisten Menschen längst, dass sich die beiden Kriegsziele widersprechen: Man wird die Geiseln nicht befreien können, während man gleichzeitig die Geiselnehmer vernichten will. Noch entscheiden sich viele Israelis für das eine oder das andere. Aber könnte die Pflicht des Staates Israel, die Geiseln zu befreien, nicht Teil eines größeren Plans werden, den Krieg zu beenden, die Golfstaaten miteinzubinden, Iran als Hauptsponsor der Hamas endlich mit härteren Sanktionen zu belegen, die schon bestehenden Verträge mit Ägypten und Jordanien zu bewahren und auch aus der Eskalationsspirale im Verhältnis zu Libanon herauszufinden?"

Nachdem die israelische Regierung mehreren UNRWA-Mitarbeitern in Gaza eine Beteiligung am Massaker des 7. Oktober vorgeworfen hat, steht das Palästinenser-Hilfswerk vor dem Aus, berichtet ein Autorenteam in der taz: 18 Geberländer haben ihre Zahlungen eingestellt. Ein Ende der Organisation hätte allerdings weitreichende Folgen für die Palästinenser, räumt der Anwalt Daniel Seidemann, der für die Nichtregierungsorganisation Terrestrial Jerusalem den israelischen Siedlungsbau beobachtet und in der Vergangenheit mehrere US-Regierungen seit Präsident Bill Clinton zu Friedensgesprächen beraten hat, ein. Er "schätzt, dass ein Verbot von UNRWA in Jerusalem eine gefährliche Versorgungslücke reißen würde. 'Israelische Gerichte haben mehrfach bestätigt, dass die Stadt bereits innerhalb des arabischen Ostjerusalems nicht genügend Schulen baut.' Insgesamt sind rund 200.000 Palästinenser in der Stadt als Flüchtlinge mit Anspruch auf UNRWA-Leistungen registriert, die Organisation betreibt nach eigenen Angaben zehn Schulen und vier Gesundheitszentren. In Exklaven wie Shu'afat und Kufr Akab hat die Stadt zwar in den vergangenen Jahren mehr investiert, dennoch würden dort ohne UNRWA noch immer kaum öffentliche Dienstleistungen existieren, sagt Seidemann. 'Und niemand, auch nicht Israel, wäre in der Lage, sie in absehbarer Zeit zu ersetzen.'"

David Pfeifer besucht für die SZ eine jüdische Gemeinde in Indonesien, ein Land, das "als eines der judenfeindlichsten der Welt" gilt: 74 Prozent der Indonesier haben dem Pew Research Center in Washington zufolge eine negative Sicht auf Juden, weiß Pfeifer, dabei gibt es hier nur sehr, sehr wenige. Rabbi Yaakov Baruch hat in seiner Gemeinde ein selbstfinanziertes, sehr kleines Museum über den Holocaust geöffnet, die Ursachen des Antisemitismus führt er auf Bildungsmangel zurück, erzählt Pfeifer: "2022 musste der Rabbi heftig kämpfen, um sein Museum behalten zu können. Dann kam auch noch die Pandemie, es waren fast keine Besucher mehr da. Bis heute sind es wenige, oft nur einer am Tag. Aber irgendwie gelang es ihm, den Ulema-Rat davon zu überzeugen, dass es nicht schaden würde, wenn die Menschen in Indonesien etwas über die jüdische Geschichte lernen. Am Ende hätte die Behörde nur noch interessiert, ob der Staat Israel das Museum finanzieren würde, sagt der Rabbi. Aber er habe es selbst finanziert, er habe Spenden von Juden überall auf der Welt zusammengekratzt. Und es steht ja auf seinem Privatgrund. Ob man es sehen wolle, fragt er, 'es ist immerhin das einzige Holocaust-Museum in ganz Südostasien'.
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Ideen

Der Jurist und Journalist Noah Feldman macht sich in einem sehr langen Time-Essay Gedanken über den neuen Antisemitismus. Während der Antisemitismus von rechts bestehen bleibt, scheint ihm die heute "schädlichste und kreativste Strömung im zeitgenössischen antisemitischen Denken eher von links" zu kommen. Feldman erklärt, wie sich der neue Antisemitismus zugleich aus der antiimperialistischen Tradition und atavistischen Motiven speist. Als Verschwörungstheorie präsentiere er sich nicht mehr: Aber "um das Narrativ der Juden als Unterdrücker zu betonen, muss der neue Antisemitismus nicht nur zwei Jahrtausende jüdischer Unterdrückung, sondern auch den Holocaust, den größten organisierten, institutionalisierten Mord an einer ethnischen Gruppe in der Geschichte der Menschheit, irgendwie ausblenden. Auf der rechten Seite leugnen Antisemiten entweder, dass der Holocaust jemals stattgefunden hat, oder sie behaupten, dass sein Ausmaß überbewertet wurde. Auf der Linken wird behauptet, dass die Juden den Holocaust als Waffe benutzen, um die Unterdrückung der Palästinenser zu legitimieren." Der Vorwurf des Völkermords gegen Israel sei nicht an sich antisemitisch, so Feldman, dennoch sei er "besonders anfällig für Antisemitismus, weil der Holocaust das Paradebeispiel für das Verbrechen des Völkermords ist. ... Nennen wir es den Völkermord-Trick: Wenn die Juden als Völkermörder dargestellt werden - wenn Israel zum Archetyp eines völkermordenden Staates wird -, dann ist es viel unwahrscheinlicher, dass die Juden als ein historisch unterdrücktes Volk wahrgenommen werden, das sich selbst verteidigt."

Weitere Artikel: Auf geschichtedergegenwart blickt die Slawistin Sylvia Sasse auf die Verknüpfung zwischen Impfgegnerinnen und Putinunterstützern. Es ist nicht nur russische Propaganda, die da greift, etwa die Behauptung, die USA würden geheime Biowaffenlabore in der Ukraine betreiben, schreibt sie. Hier wirken vor allem "opportunistische Synergien", wie sie die polnischen Kulturwissenschaftlerinnen und Soziologinnen Agnieszka Graff und Elzbieta Korolczuk beschreiben, erklärt sie.
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Europa

Der Menschenrechtler Oleg Orlow, 70-jähriges Mitglied von Memorial, muss für zweieinhalb Jahre ins Gefängnis, berichtet Inna Hartwich in der taz aus Moskau. Orlow hatte öffentlich den Krieg gegen die Ukraine verurteilt, vorgeworfen wurde ihm "Diskreditierung der Armee": "Mit welchen Sätzen Orlow die Armee diskreditiert haben soll und worin sein Hass liege, wurde während der zweitägigen Verhandlung nicht deutlich. Sein Text wurde nicht durchgegangen, es reichte die Überschrift. Während der Sitzungen las Orlow demonstrativ 'Der Prozess' von Franz Kafka und sagte in seinem Schlusswort: 'Wie soll man das politische System, unter dem das alles geschieht, auch nennen? Leider hatte ich in meinem Text recht. Es gibt keine Freiheit in Wissenschaft, Kunst, Privatleben. Willkür wird als Einhaltung pseudolegaler Verfahren getarnt. Selbst gegen den toten Nawalny führen die Behörden Krieg. Kafkas Held erfuhr nie, was ihm vorgeworfen wurde. Mir hat man den Vorwurf formal mitgeteilt, ihn zu verstehen ist unmöglich.'"

"Die Annahme, wenn wir den Ukrainern den Taurus geben, fallen uns Nuklearwaffen auf den Kopf, ist doch ziemlich weit hergeholt", glaubt im Spon-Gespräch Christian Mölling, stellvertretender Direktor der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik (DGAP) und Leiter des Zentrums für Sicherheit und Verteidigung. Bedenken, dass Deutschland Kriegspartei werden könnte, hat er nicht: "Es liegen längst Lösungen für alle diese Bedenken auf dem Tisch. Die Aussagen des Kanzlers deuten meiner Einschätzung nach auf etwas anderes: Es fehlt offensichtlich an grundlegendem Vertrauen in die Ukrainer und zwar so sehr, dass nicht einmal pragmatische Lösungen für ihn denkbar sind. Wenn der Kanzler Angst hat, dass die Ukrainer auf Moskau schießen, könnte er ja sagen: Erst einmal bekommt ihr einen Taurus und dann sehen wir, was ihr damit macht. Es ist unvorstellbar, dass die Ukraine die Hilfe des größten Gebers riskiert."

Bei einer Konferenz in Paris wurde über Hilfsmaßnahmen für die Ukraine debattiert, der französische Präsident preschte nach vorn und erwähnte die Möglichkeit der Entsendung von Bodentruppen aus den EU-Staaten. Ulrich Ladurner findet das auf Zeit Online fahrlässig, ebenso kontraproduktiv sei aber das Zögern des deutschen Kanzlers, wenn es um Waffenlieferungen geht: "Macron-Bashing, das hat jetzt durchaus seine Berechtigung. Denn es gab keine Notwendigkeit, weiter an der Eskalationsspirale zu drehen. Aber das ist nur der eine Teil. Denn diesem säbelzückenden, nach vorn stürmenden prächtigen Franzosen steht der deutsche Buchhalterkanzler gegenüber, der sich beharrlich weigert, Taurus-Raketen an die Ukraine zu liefern. Hier der Glanz des Franzosen, dort das Grau des Deutschen. Weder das eine noch das andere hilft der Ukraine. Welch beklagenswerte europäische Kakofonie das doch ist, in einem Augenblick, in dem Europa dem russischen Imperialismus geschlossen und entschlossen entgegentreten müsste."

Ebenfalls in der taz wütet Georg Seeßlen: Unis, Öffentlich-Rechtliche Sender, Zeitungen - überhaupt die demokratische Zivilgesellschaft - sie alle sind zu lahm, um dem rechten Kulturkampf etwas entgegenzusetzen, meint er. Visionen? Fehlanzeige. "Die Debatte um ein Verbot der AfD erscheint derzeit als Spiegelfechterei. Es geht vielmehr um konkrete Schritte, um im politischen und kulturellen Alltag klarzumachen, dass die AfD keine Partei wie die anderen ist. Niemand ist gezwungen, AfD-Mitglieder zu Talkshows oder Filmfestivals einzuladen. Demokratie ist nicht nur ein Regel- und Formelwerk, sondern auch ein lebendiges System mit geistigem Inhalt. Jede demokratische Institution, jede kulturelle Einrichtung soll das Recht haben, antidemokratischen Personen und Organisationen den Zutritt zu verweigern. Gerade darin muss sich die Unabhängigkeit und Integrität dieser Einrichtungen beweisen." Auch die internationale Politik agiere rückgratlos: "Ein Europa, das sich mit immer mehr antidemokratischen und rechten Regierungen arrangieren will, ist der Verteidigung kaum noch wert. Die europäische Idee muss als Demokratieprojekt neu gedacht werden."
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Kulturpolitik

Nein, der deutsche Kulturbetrieb hat kein Problem mit Antisemitismus, da ist sich Deniz Yücel in der Welt sicher. Die Künstler, die für den Berlinale-Eklat sorgten "sind ebenso internationale Namen wie die Protagonisten der übrigen deutschen Debatten um Antisemitismus im Kulturbetrieb, die es nicht erst seit dem 7. Oktober gibt, die sich seither aber in kurzen Abständen wiederholen", betont er. Stattdessen tue sich die deutsche Öffentlichkeit eher schwer, andere Meinungen auszuhalten und sich der Diskussion zu stellen: "Wenn es ein spezifisch deutsches Problem gibt, dann ein anderes: die wachsende Unfähigkeit, andere Meinungen auszuhalten, ohne gleich nach der (Diskurs-)Polizei zu rufen; das schwindende Bewusstsein dafür, dass die Freiheit des Wortes auch die Freiheit des dummen Wortes umfasst, beispielsweise des saudummen Wortes, das Massaker der Hamas vom 7. Oktober sei eine Folge der israelischen Besatzung des Gaza-Streifens, die es seit 2005 nicht mehr gibt."
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